Ian Birchall

 

Arbeiterbewegung und Parteiherrschaft

 

Teil II. (1953-1963)

7. Die Entstalinisierung und die ungarische Revolution

Am Morgen des 5. März 1953 starb Stalin. Sein Tod wurde an verschiedenen Orten verschieden aufgenommen. So schrieb Monty Johnstone in Challenge neun Tage später:

Mit dem Hinscheiden J.W. Stalins hat das arbeitende Volk der ganzen Welt einen unersetzlichen Verlust erlitten... Sein Leben ist für jeden jungen Sozialisten ein Beispiel des Muts, der Standfestigkeit, des Glaubens an das Volk, der Verbindung von Studium und Aktion, der unerschütterlichen Prinzipientreue.

In einem russischen Arbeitslager war die Reaktion ein wenig anders:

Am nächsten Morgen – es herrschte noch Frost – hatte das ganze Lager in Reih und Glied anzutreten, und sogar der Major, beide Hauptleute und beide Leutnants waren anwesend. Und der Major begann, düster vor Trauer, zu verkünden: „Zu unserem tiefsten Leidwesen ... muß ich Euch mitteilen ... daß gestern in Moskau ...“ Die knochigen, kantigen, stoppeligen, rauhen Gesichter der Gefangenen verzogen sich zu einem breiten Grinsen – es fehlte nicht viel, und sie hätten laut gejubelt. Der Major sah, wie sie anfingen zu grinsen und kommandierte außer sich vor Empörung: „Die Mützen ’runter!“ Hunderte von Männern zögerten, nahe daran zu gehorchen. Die Mütze nicht abnehmen – war unmöglich, sie aber abnehmen – war einfach schimpflich. Da zeigte einer, der Witzbold und Spaßmacher des Lagers, den Ausweg. Er riß sich die Mütze – eine Stalinka aus künstlichem Fell – vom Kopf und schleuderte sie in die Luft. Er hatte den Befehl ausgeführt!

Hunderte sahen es und folgten seinem Beispiel! [1]

Der Stalinismus war ein gesellschaftliches System, nicht das Werk eines einzelnen. Aber als Stalin 1953 starb, hing eine soziale und ökonomische Krise über der Sowjetunion. Auf der einen Seite repräsentierte Stalin als Individuum die unangreifbare Diktatur der letzten 25 Jahre, auf der anderen Seite die Kontinuität des sowjetischen Regimes seit der bolschewistischen Revolution von 1917. Daher war sein Tod ein Faktor, der sowohl innerhalb der Sowjetunion wie international tiefe Unruhe auslöste.

 

 

Die Krise in der Sowjetunion

Die Sowjetunion war 1953 ein hungriges Land. Die Brotknappheit war offensichtlich, und ein gewöhnlicher Städter aß weniger als ein halbes Pfund Fleisch und ein Viertelpfund Fett pro Woche.

In den dreißiger Jahren hatte die stalinistische Wirtschaft Erfolge zu verzeichnen gehabt. Ein hochgradig zentralisiertes System, abgesichert durch einen massiven Terrorapparat und den Ansporn zur individuellen Produktionssteigerung à la Stachanow, ermöglichte es der Sowjetunion, sich ökonomisch am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Aber das war keine geplante Wirtschaft. Es ist sinnlos, eine Wirtschaft, in der die Übererfüllung, ja sogar die Verdreifachung des Plans eine übliche und lobenswerte Leistung ist, als Planwirtschaft zu bezeichnen. In den 50er Jahren versagte das System. Die Arbeiter hatten keinerlei Kontrolle über die Produktion, keinerlei gemeinsame Interessen mit den Bürokraten, und deshalb richteten sie sich im System so ein, daß sie möglichst ungeschoren über die Runden kamen. Genauso wie die Arbeiter im Westen schnell lernten, die Zeitnehmer auszutricksen, lernten die russischen Arbeiter (und nicht zuletzt die örtlichen Manager), wie man die Produktionsnormen einrichten muß, um Strafen zu umgehen. Besonders akut war die Krise in der Landwirtschaft. In den letzten vier Jahren unter Stalins Herrschaft belief sich die durchschnittliche Kornernte auf nur 80 Millionen Tonnen – weniger als 1913. Stalins Terror hatte die letzte Spur organisierter Opposition gegen das Regime ausradiert. Aber unter der Oberfläche schwelte die Unzufriedenheit, und nach dem Tod Stalins brach sie im Juli an genau dem Ort aus, der das ganze stalinistische System zu charakterisieren schien: im riesigen Arbeitslager von Workuta, wo eine halbe Million Arbeiter festgehalten wurden. 10.000 Bergarbeiter traten in den Streik und hielten ihn einige Wochen durch – womit sie die Kohleversorgung von Leningrad empfindlich trafen –, bis der Streik zerschlagen wurde, nachdem 120 Führer erschossen worden waren.

In dieser Situation begannen rivalisierende Gruppen und Individuen, um Stalins Nachfolge zu kämpfen. Der erste, der aus dem Rennen geworfen wurde, war Lawrentij Berija, Innenminister und Chef der Geheimpolizei seit 1938. Die anderen Führer waren entschlossen, sich seiner zu entledigen – sei es, weil er einen Staatsstreich geplant hatte, oder einfach, weil er eine weichere Linie in der deutschen Frage befürwortete. Chruschtschow erzählte später einem italienischen Kommunisten, daß Berija auf einer Zusammenkunft des Präsidiums in die Falle gelockt und von Malenkow und Mikojan mit der Hilfe von zwei Armeegeneralen erdrosselt worden sei. Das ist, ob es nun die buchstäbliche Wahrheit ist oder nicht, sicher symbolisch für die Art „sozialistischer Legalität“, wie sie in den Führungszirkeln der Kommunistischen Partei der Sowjetunion herrschte. Die offizielle Verlautbarung über Berija behauptete, er sei 1919, während des Bürgerkrieges, Agent der konterrevolutionären Regierung von Aserbeidschan, die vom englischen Geheimdienst kontrolliert wurde, geworden. Hier blitzte die Phantasiewelt der Moskauer Prozesse noch einmal auf – aber es war das letzte Mal, daß man sich solcher Methoden bediente. Die neuen Männer zogen subtilere Methoden vor.

 

Der Aufstieg Chruschtschows

Der Mann, der sich jetzt in den Vordergrund schob, war Chruschtschow; er vertrat eine „zentristische“ Position zwischen Konservativen wie Molotow und „Liberalisierern“, wie Malenkow. Obwohl Nikita Chruschtschow 1894 geboren wurde, gibt es bei ihm keine Anzeichen einer revolutionären Aktivität vor 1917. Er trat 1918 den Bolschewiki bei, als sie schon die herrschende Partei waren. Danach war er ein loyaler und energischer Bürokrat, der zur harten „praktischen“ Gruppe von Verwaltungsmenschen gehörte, die die Macht von den revolutionären Idealisten übernahm, als Stalin seine Herrschaft errichtete. Trotz all seiner späteren Angriffe auf Stalin konnte Chruschtschow nicht bestreiten, daß ihm genausoviel Blut an den Händen klebte wie jedem anderen Bürokraten, der Stalin loyal gedient hatte.

Chruschtschow war ein Pragmatiker. Natürlich ermöglichte ihm gerade diese Eigenschaft, die Kette der Säuberungen zu überleben. Jeder, der so etwas wie Prinzipien hatte und an ihnen festhielt, prallte unweigerlich früher oder später mit Stalin zusammen.

Chruschtschows neue Politik brachte einen Angriff auf die existierende Bürokratie mit sich. Tausenden wurde der Laufpaß gegeben. Um dies durchzusetzen, mußte er die Unterstützung der unteren Bürokraten gewinnen.

 

 

Friedliche Koexistenz

Aber es ging nicht nur um die sowjetische Binnenwirtschaft. In den Jahren, die auf Stalins Tod folgten. vollzog sich auch ein bedeutender Umschwung in der sowjetischen Außenpolitik. Am 8. August 1953 verkündete Malenkow, daß die Sowjetunion eine Wasserstoffbombe hergestellt hatte. Unter Stalin war das ganze Problem der Kernwaffen von der sowjetischen Führung heruntergespielt worden; aufgrund eines Dogmas, das als leninistische Orthodoxie ausgegeben wurde, konnte sie sich nicht vorstellen, daß eine rein technologische Erfindung ihre politische Strategie verändern könnte.

Der Pragmatiker Chruschtschow, der sich wenig um die leninistische oder irgendeine andere Orthodoxie scherte, dafür aber über einen ausgeprägten Sinn für die Realitäten von Macht und Gewalt verfügte, hatte ein viel besseres Gespür für die Bedeutung des atomaren Gleichgewichts des Schreckens, das jetzt eingetreten war. Er erkannte, daß einerseits die konventionelle Kriegsführung jetzt überlebt war, soweit es sich um eine größere Konfrontation zwischen den beiden großen Machtblöcken handelte, und daß andererseits keine Seite einen sinnvollen „Sieg“ in einem Atomkrieg davontragen konnte.

Das atomare Schreckensgleichgewicht war eng mit den Problemen der sowjetischen Wirtschaft verknüpft. Solange die Sowjetunion das gleiche Niveau militärischer Macht wie ihre Gegner erreichen muß, ist sie gezwungen, ihre gesamte Wirtschaft auf die Produktion der notwendigen Vernichtungsmittel auszurichten. Dieses Rüstungswettrennen ist das wesentliche Bindeglied zwischen den offensichtlich verschiedenen Volkswirtschaften der UdSSR und der USA; die Sowjetunion hat wie Amerika Schwierigkeiten zu gewärtigen, wenn die Rüstungsausgaben zu stark steigen oder fallen. Auf diesem Hintergrund muß die Entwicklung der sowjetischen Außenpolitik gesehen werden.

1953 war es soweit, daß beiden Seiten im Kalten Krieg an ersten Schritten in Richtung Entspannung gelegen war. Es ist nicht der Zweck dieses Berichts, die Zickzack-Bewegungen der internationalen Beziehungen von Tag zu Tag zu verfolgen. Wichtig ist der Nachdruck, der von jetzt an in allen kommunistischen Erklärungen auf die „friedliche Koexistenz“ gelegt wurde. Die Erklärung der einundachtzig KPs, die im November 1960 in Moskau zusammenkamen, formulierte es so:

Die Politik der friedlichen Koexistenz entspricht den Grundinteressen aller Völker, die alle keine grausamen Kriege wollen und dauerhaften Frieden suchen. Diese Politik stärkt die Positionen des Sozialismus, steigert das Ansehen und den internationalen Einfluß der sozialistischen Länder und fördert das Ansehen und den Einfluß der kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern. Der Friede ist ein zuverlässiger Verbündeter des Sozialismus, denn die Zeit arbeitet für den Sozialismus, gegen den Kapitalismus.

Die Implikationen dieser Position für die gesamte Strategie der Kommunistischen Parteien und das Verhältnis der internationalen Bewegung zur russischen Bürokratie sind gewaltig. Die Perspektive ähnelt sehr derjenigen der Zweiten Internationale vor 1914: die Verwirklichung des Sozialismus ist Teil eines langen Prozesses, und die Zeit ist auf unserer Seite; es ist nicht Sache der KPs, die Macht zu ergreifen, sondern ihr „Ansehen und ihren Einfluß“ zu. entwickeln.

Die Theorie der „friedlichen Koexistenz“ bedeutete eine Revision der sowjetischen Haltung zum Neutralismus. 1947 hatte das Kominform erklärt: Die ganze Welt ist in „zwei Lager“ gespalten, wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Aber beim Aushandeln der Abkommen in Korea und Indochina zeigte sich die Sowjetunion willens, das Heranwachsen einer ganzen Reihe neutraler Pufferstaaten ins Auge zu fassen. Dieser Wandel bedeutete, daß der Streit mit Jugoslawien beigelegt werden mußte. Die Angriffe wurden langsam gedämpft; am 27. März 1953 wurde Tito den Lesern von Für einen dauerhaften Frieden ... immer noch als „der Schlächter Tito, der Anführer der jugoslawischen Faschisten und Chef des amerikanisch-britischen Spionagezentrums in Belgrad“ serviert. Aber im Herbst desselben Jahres erwähnten die Berichte über einen „wirtschaftlichen Verfall“ in Jugoslawien nichts von einem Faschismus in diesem Land. Die faschistische Herrschaft hatte sich wahrscheinlich genauso mysteriös verflüchtigt, wie sie entstanden war. Im Mai 1955 besuchte Chruschtschow Jugoslawien, um Tito eine Erklärung abzugeben, die einer Entschuldigung gleichkam. Und am 25. November desselben Jahres erklärte Für einen dauernden Frieden ..., warum die guten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien „gestört“ gewesen seien (die Untertreibung des Jahrzehnts). Alle Anschuldigungen hätten sich gegründet auf „arglistig von jenen verächtlichen Agenten des Imperialismus fabriziertes Material“ – gemeint waren Berija und Abakumow.

 

 

Die Entstalinisierung

Das war das letzte Mal, daß Berija posthum als Sündenbock herhalten mußte. Für Ersatz war gesorgt. Denn wenn Chruschtschow seinen neuen Kurs in Wirtschaft und Außenpolitik festigen wollte, wenn er seine eigene Position und die seiner Verbündeten stärken und diejenigen diskreditieren wollte, die eine Rückkehr zur Politik der Stalinära herbeizuführen suchten, dann mußte er den ganzen Stalinmythos zerstören.

Die ersten Schritte zur „Entstalinisierung“ wurden unter Malenkow gemacht, nur Wochen nachdem Stalin den letzten Atemzug getan hatte. Anfangs bestanden sie aus unscheinbaren Andeutungen – ein sorgfältig plaziertes Adjektiv, wenn von den Geboten „des großen Lenin und von Stalin“ die Rede war, oder die schwindende Bedeutung, die man den Jahrestagen von Stalins Tod gab.

Im Februar 1956 fühlte sich Chruschtschow stark genug, über bloße Andeutungen hinauszugehen. In diesem Monat wurde der Zwanzigste Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in Anwesenheit kommunistischer Führer aus der ganzen Weit abgehalten. Tito sprach und wurde mit anhaltenden Ovationen begrüßt. Enver Hodscha pries Chruschtschow und erwähnte Stalin nicht. Chruschtschow wurde eindeutig als der Führer der internationalen Bewegung anerkannt, als der Mann, der die Linie festlegte.

Chruschtschow hielt auf dem Parteitag zwei Reden. In der ersten, öffentlichen, verurteilte er den „Personenkult“, ohne Stalin jedoch ausdrücklich zu erwähnen: in der zweiten, der sogenannten Geheimrede, gab er einen detaillierten Bericht von Stalins Verbrechen. Die Rede wurde lang, denn es war eine Fülle von Material zu behandeln – die grobe Verletzung der Legalität, der Mord an führenden Bolschewiken, die verbrecherische Verantwortungslosigkeit während des Zweiten Weltkriegs, die Selbstverherrlichung und die Entstehung der Geschichte. Vieles von dem, was Chruschtschow zu sagen hatte, bestätigte, was Trotzki und seine Anhänger schon seit zwanzig Jahren sagten.

Chruschtschows sorgfältig formulierte Rede markierte klar die Grenzen seiner Kritik. Denn er selber war ja der Erbe des Systems, das Stalin aufgebaut hatte; er hatte nicht die Absicht, dieses System von Grund auf zu ändern oder in Frage zu stellen. Für Chruschtschow begannen Stalins Verbrechen 1934; die Ereignisse, die diesem Jahr vorausgingen, wurden nicht infrage gestellt; tatsächlich wich er von seiner sonstigen Darstellung ab, um zu betonen, daß Stalin im Kampf gegen den Trotzkismus eine „positive Rolle“ gespielt habe. Darüber hinaus versuchte Chruschtschow in einer recht unmarxistischen Weise, Stalin in psychologischen Begriffen zu interpretieren; seine Fehler wurden aus seinem Temperament erklärt.

Obwohl diese Rede „geheim“ war, war ihr wesentlicher Inhalt bald öffentliches Gemeingut. Die Auswirkungen der Entstalinisierung waren jedoch streng begrenzt. Die meisten Arbeitslager wurden aufgelöst und bestimmte soziale Reformen durchgeführt. Aber es gab noch immer nicht das Recht, eine oppositionelle politische Tendenz oder eine unabhängige Gewerkschaft zu organisieren. Chruschtschow scheint sich der Gefahren wohl bewußt gewesen zu sein, die der von ihm ausgelöste Prozeß in sich barg, Gefahren, die Sartre prophetisch mit den Worten zusammenfaßte: „Die Entstalinisierung wird mit der Entstalinisierung der Entstalinisierer enden.“

Kurz nach dem 20. Parteitag wurde das Kominform aufgelöst. Die sowjetische Führung zollte der internationalen Bewegung immer noch rhetorischen Tribut und berief sogar Konferenzen der kommunistischen Parteien der Welt ein. Aber von jetzt an war klar, daß die Verteidigung der Sowjetunion nicht von der internationalen kommunistischen Bewegung abhing; sie war abhängig davon, daß das sowjetische atomare Verteidigungssystem mit dem amerikanischen Schritt hielt.

 

 

Das Ende des Kalten Krieges

Es war das Hauptziel der sowjetischen Außenpolitik, einen Weg zur Koexistenz mit den Amerikanern zu finden. So sagte Chruschtschow zu dem amerikanischen Journalisten C.L. Sulzberger:

Wir [die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten] sind die mächtigsten Länder der Welt, und wenn wir uns gemeinsam für den Frieden einsetzen, kann es keinen Krieg geben. Sollte doch ein Verrückter den Krieg wollen, brauchen wir nur den kleinen Finger zu rühren, um ihn davon abzubringen. [2]

Das war ein deutlicher Vorschlag für eine neue Heilige Allianz, mit der die beiden atomaren Großmächte die existierende – imperialistische Weltordnung gegen jeden „Unruhestifter“ aufrechterhalten würden. So jedenfalls mußte es für die Chinesen aussehen.

Natürlich gab es auf dem Weg der friedlichen Koexistenz Höhen und Tiefen. Bevor das nukleare Abschreckungsgleichgewicht errichtet werden konnte, waren einige Konfrontationen notwendig. Als Castros Regime in Kuba seine Bekehrung zum „Marxismus-Leninismus“ verkündete und Handel und militärische Bande mit der Sowjetunion anstrebte, ergriff Chruschtschow die Gelegenheit, sein Prestige zu erhöhen und in Lateinamerika Fuß zu fassen. Im September 1962 unterzeichnete Che Guevara ein Abkommen über die Stationierung von sowjetischen Atomraketen auf Kuba. Die Vereinigten Staaten antworteten darauf mit einer Blockade für alle Schiffe, die militärische Ausrüstung nach Kuba bringen sollten und drohten weitere Schritte an, wenn die Raketen nicht abgezogen würden. Sechs Tage lang schien die Welt einem Atomkrieg näher zu sein als je zuvor – oder seither. Dann stimmte Chruschtschow einem Abzug der Raketen im Austausch für einige kleinere Konzessionen zu. Die „Konfrontationsphase“ des Kalten Krieges war vorbei: Von jetzt an herrschte zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten ein stillschweigendes, aber deutliches Einverständnis darüber, wie weit jede Seite zu gehen bereit war.

 

 

Die Krise in Osteuropa

In der Sowjetunion selbst wurde die Entstalinisierung mit nur kurzen und gelegentlich auftretenden sozialen Unruhen durchgeführt. In den „Satellitenstaaten“ in Osteuropa war die Situation jedoch ganz anders. Das ganze soziale Gefüge befand sich dort in einem viel instabileren Zustand.

Die nationalen Bürokratien, die in den osteuropäischen Staaten herrschten, waren nicht die direkten und gehorsamen Agenten Moskaus. Mehr und mehr gerieten ihre Interessen in Konflikt mit denen der Herrschenden in der Sowjetunion. Nicht nur, daß die Sowjets sie weiter ökonomisch ausbeuteten, indem sie zum Beispiel ihre Produkte billig einkauften und sie auf dem Weltmarkt unterboten; schon ihre bloße Existenz war für die sowjetische Führung keine Selbstverständlichkeit. Die neuen Regimes gründeten sich auf die anhaltende und zunehmende Ausbeutung der Arbeiterklasse. Das bedeutete ähnliche Angriffe auf die Lebensbedingungen und den Lebensstandard der Arbeiter wie im Westen. Akkordarbeit wurde gefördert und ausgeweitet. „Produktivität“ war ein zentrales Thema der an die Arbeiterklasse gerichteten Ermahnungen. Der Versuch, die Arbeiter für die ökonomische Entwicklung ihrer Länder bezahlen zu lassen, hatte Erfolg; 1953, im Todesjahr Stalins, betrugen die Reallöhne der Industriearbeiter in der Tschechoslowakei 84%, in Ostdeutschland 89% und in Polen 72% des Vorkriegsniveaus, während in der Periode von 1950 bis 1955 die jährlichen Wachstumsraten des Nationaleinkommens in diesen Ländern folgende waren: Tschechoslowakei 8%, Ostdeutschland 11,4%, Polen 8,6% – höhere Raten, als jemals später erreicht werden konnten. [3]

1953 war eine Reform der Volkswirtschaften Osteuropas notwendig geworden. In der ersten Zeit ihres Bestehens hatten die Volksdemokratien auf riesige Reserven an Arbeitskräften und Ressourcen zurückgreifen können; als diese fast aufgezehrt waren, wurde ein rationelleres Wirtschaften notwendig. Das jedoch war unvereinbar mit der Atmosphäre des Terrors, die die Säuberungen und Prozesse der frühen fünfziger Jahre begleitet hatte, als die häufigen Änderungen der Produktionsnormen Betrügereien und Hamsterei begünstigt hatte.

Die Entstalinisierung erfüllte eine wirkliche soziale Funktion für die Bürokratien in Osteuropa; aber sie vertiefte auch die Krise, der diese sich gegenüber sahen. Es gab eine gewisse Schwächung des Unterdrückungsapparates. Die Aufeinanderfolge von Säuberung und Rehabilitierung wirkte demoralisierend auf die Polizei; Wachsamkeit gegen „Staatsfeinde“ wurde nicht ermutigt, wenn man damit rechnen mußte, daß Überzeugungen mit dem nächsten Umschlag der politischen Windrichtung weggeblasen würden. Tatsächlich war die Lage günstig für eine Rückkehr der Arbeiterklasse auf die geschichtliche Bühne.

 

 

Der Aufstand in Ostberlin

Die erste dramatische Explosion erfolgte im Juni 1953, als Ostberliner Bauarbeiter sich gegen das Vorhaben zur Wehr setzten, die Produktivität auf ihre Kosten zu erhöhen. Am 16. Juni machten sechzig Arbeiter, die auf einem Krankenhausgelände beschäftigt waren, eine Protestdemonstration; am nächsten Tag folgte ein Generalstreik in ganz Ostberlin, der sich auf etwa siebzig Orte in Ostdeutschland, darunter viele größere Städte, ausdehnte. An einigen Orten nahm der Streik aufständische Dimensionen an; in Jena zum Beispiel stürmten Arbeiter das Polizeigebäude.

Zur Unterdrückung des Streiks wurden sowjetische Truppen eingesetzt; die Schätzungen, wieviele Menschen getötet wurden, schwanken zwischen 19 und 267.

Ungefähr zur gleichen Zeit traten auch Arbeiter in anderen Teilen Osteuropas in Aktion. In der Tschechoslowakei gab es Erhebungen in den großen Industriezentren Pilsen und Ostrava. Auch aus Ungarn und Rumänien wurden Streiks gemeldet.

 

Polen 1956

Im Westen jedoch waren die Auswirkungen der Ereignisse von 1953, die sich zu einer Zeit abspielten, als die Hysterie des Kalten Krieges sich noch auf ihrem Höhepunkt befand, gering. Drei Jahre später, nach der Rede Chruschtschows, sollten die Ereignisse in Polen und Ungarn viel tiefgreifendere Auswirkungen haben. In Polen führte die Entstalinisierung im Frühjahr 1956 zu Veränderungen in der Parteiführung und zu einer liberaleren Atmosphäre. In diesem Klima traten die Arbeiter der Lokomotivfabrik Zispo in Poznan in Streik. Anlaß dazu waren Ökonomische Forderungen wie die Bezahlung von bereits geleisteten Überstunden. In der herrschenden angespannten Situation mußten solche Forderungen den Stein ins Rollen bringen. Der Streik wurde zur Demonstration; die Demonstration zum Aufstand. Die Polizeistation wurde genommen, polnische Truppen intervenierten, und die Zusammenstöße kosteten 113 Menschen das Leben.

Der Streik wurde isoliert und niedergeschlagen, aber die Herrschenden in Polen, unter denen Gomulka der kommende Mann war, erkannten die Notwendigkeit, Zugeständnisse zu machen. Nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Intellektuellen und niederen Funktionäre wollten Veränderungen. Die polnischen revolutionären Sozialisten Kuron und Modzelewski haben darauf hingewiesen, daß die Arbeiterklasse es in dieser Periode versäumt hat, sich als unabhängige politische Kraft zu etablieren:

In dieser Kraftprobe auf nationaler Ebene trennte sich die Linke weder von der technokratischen Strömung in der Bewegung der Arbeiterräte (die Forderung, daß die Fabriken von Räten geleitet werden sollten, ging nicht über das Programm der Technokratie hinaus) noch von der liberalen Bürokratie. Sie formierte sich nicht getrennt von der allgemeinen antistalinistischen Front als eine spezifisch proletarische Bewegung. In dieser Situation war sie offensichtlich nicht in der Lage, ihr politisches Programm zu formulieren, es organisiert unter den Massen zu propagieren und eine Partei zu schaffen. Da all dies fehlte, konnte sie keine politisch unabhängige Kraft werden und mußte deshalb zu einem linken Anhängsel der herrschenden liberalen Bürokratie werden. [4]

So kam es, daß das Ganze in einer Sackgasse endete.

 

 

Ungarn

Die wirkliche Krise brach in Ungarn aus, denn hier prallten die Klassengegensätze unmittelbar aufeinander. Auch in Ungarn war die Bürokratie gespalten. In dem aufgewühlten Klima von 1956 engagierten sich zunehmend Teile der Mittelklasse in der politischen Diskussion. Ihr Mittelpunkt war der sogenannte „Petöfi-Kreis“ in Budapest, der den wichtigsten Nährboden für kritische Ideen darstellte.

Gegen Ende Oktober 1956 kamen die Budapester Studenten zusammen, um ihre Forderungen zu formulieren. Ihr Programm zeigte die ganze Verwirrung, die noch in den Köpfen der Studenten herrschte, und auch, in welchem Ausmaß sie unter dem Einfluß nationalistischer Ideen standen. Sie forderten zwar den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, die Errichtung einer Regierung unter Imre Nagy und das Streikrecht für die Arbeiter; aber sie forderten auch das Recht für Ungarn, sein Uranium auf dem Weltmarkt zu verkaufen, und – die Wiedereinsetzung des traditionellen Kossuth-Wappens an Stelle des gegenwärtigen, das „dem ungarischen Volk fremd“ sei.

Am 23. Oktober gingen die Studenten auf die Straßen von Budapest, um ihre Forderungen in die Öffentlichkeit zu bringen; die politische Polizei eröffnete das Feuer auf sie. Jetzt wurde deutlich, daß es in Wirklichkeit nicht um die besonderen Forderungen der Studenten ging, sondern um die Machtfrage. Russische Truppen wurden gegen die Demonstranten eingesetzt, Nagy in den Sessel des Ministerpräsidenten katapultiert – die ungarische Arbeiterklasse wurde aktiv. In Budapest zogen die Arbeiter auf die Straßen – und im Verlauf der Kämpfe erfolgten die heftigsten Zusammenstöße in den industriellen Vororten. Auch in anderen Landesteilen erhoben die Arbeiter ihre Forderungen; im Nordosten Ungarns wählten dreißigtausend Bergarbeiter Delegierte, die den Ruf nach freien Wahlen erheben sollten. Die Bauern rund um Budapest versorgten die Kämpfenden mit Lebensmitteln.

Zwischen dem 28. und 30. Oktober breiteten sich die Arbeiterräte wie ein Lauffeuer in ganz Ungarn aus. Die Räte trugen viele Namen -Revolutionsrat, revolutionärer Arbeiterrat, Arbeiter- und Soldatenrat, Revolutionär-sozialistisches Komitee – aber ihre Ziele waren überall ähnlich: die Lebensmittelversorgung zu organisieren, mit den sowjetischen Truppen zu verhandeln, die Ordnung aufrechtzuerhalten und ungezügelte Elemente in den eigenen Reihen zurückzuhalten. Sie warfen auch die allgemeine Frage der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion auf.

Die Schaffung von Organen der Arbeitermacht erreichte in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg sicher ein höheres Niveau als je in irgendeinem Land; die ungarischen Arbeiterräte sind die direkten Nachkommen der russischen Sowjets von 1917.

Natürlich war die ungarische Revolution keine „reine“ Revolution der Arbeiterklasse. So etwas hat es nie gegeben und wird es nie geben. Rechtsradikale Elemente, klerikale Tendenzen und sogar offene Faschisten lagen auf der Lauer und hofften auf den Sturz des Regimes. Aber unter all den Forderungen, die die Arbeiterräte aufstellten, wurde nirgendwo der Ruf nach einer Reprivatisierung der Produktionsmittel laut. Das Wichtige an der Bewegung war nicht, ob sie ein richtiges Programm hatte oder nicht, sondern daß Massen von Arbeitern beteiligt waren und tastend nach einer Lösung suchten. Die Umstände ließen ihnen jedoch nicht viel Zeit dazu.

Am 4. November drangen sowjetische Panzer, die erst kurz zuvor abgezogen waren, wieder nach Budapest ein. Die Arbeiterklasse litt am meisten unter der Repression; die am schwersten beschädigten Teile Budapests waren die Arbeiterviertel; die Krankenhausstatistiken zeigen, daß mehr als 80% der Verletzten junge Arbeiter waren. Trotz der blutigen Unterdrückung setzten sich Streiks und passiver Widerstand bis ins neue Jahr hinein fort. Erst am 8. Januar 1957 erklärte der Zentrale Arbeiterrat von Czepel, die Umstände beraubten ihn jeder Macht: „Deshalb geben wir unser Mandat an die Arbeiter zurück“. Die Ereignisse zeigten, daß die revolutionäre Aktion der sicherste Weg war, um Reformen zu erreichen – Lohnerhöhungen wurden bewilligt und die Produktionsnormen außer Kraft gesetzt.

 

 

Die Auswirkungen der ungarischen Revolution

Der Stalinismus als Strömung in der Arbeiterbewegung war aus der Niederlage geboren und gedieh auf dem Boden der Passivität; der Ausbruch der Eigeninitiative der Arbeiterklasse in Ungarn hatte deshalb eine Krise in der internationalen Bewegung zur Folge. Die Entstalinisierung hatte bereits ein Klima geschaffen, wo Forderungen und Fragen laut wurden; die ungarischen Ereignisse machten aus Kratzern offene Wunden.

Die Revolution in Ungarn war nicht nur als nationale Erscheinung von Bedeutung, sondern als „ansteckende Krankheit“, die alle osteuropäischen Satelliten erfassen konnte, und der Entschluß der sowjetischen Führer zur Intervention wurde zumindest teilweise unter dem Druck anderer Parteien gefaßt – wahrscheinlich der chinesischen, rumänischen, ostdeutschen und tschechischen. Die ungarischen Bürokraten benutzten das Ansehen der internationalen Bewegung als Hilfsmittel zur Wiederherstellung der Ordnung: Am 2. Dezember sprach André Stil, der Herausgeber der Tageszeitung der französischen KP, L’Humanité, im Budapester Rundfunk und erklärte der Bevölkerung, die französischen Arbeiter seien froh über den Ausgang, den die Sache genommen hätte.

Ein genauerer Blick auf die französische kommunistische Partei zeigt die komplexe Reaktion auf die ungarischen Ereignisse. Die Parteiführung trat aus vollem Herzen als Public-Relations-Agentur für die sowjetische Regierung auf. Am 3. November brachte L’Humanité eine Erklärung von Etienne Fajon im Namen des Zentralkomitees:

Die Ereignisse der letzten zehn Tage in Ungarn bieten sicherlich ein außerordentlich wirres Bild. Dennoch ist wahr, daß sie das Ergebnis konterrevolutionärer Aktivität sind, die schon lange sorgfältig vorbereitet wurde. Die Tatsache, daß Arbeiter – irregeführt oder auch aus berechtigter Unzufriedenheit – am Aufruhr teilgenommen haben, ändert nichts an seinem Klasseninhalt, der durch seine eingestandenen Ziele, seine Orientierung und die Unterstützung, die er erhielt, klar enthüllt wird. Es ist jetzt offensichtlich, daß eine illegale konterrevolutionäre Bewegung in Ungarn existierte, vom Ausland unterstützt und gut bewaffnet, vorbereitet durch erprobte Kader der ehemaligen faschistischen Armee.

Aber es war schon schwieriger, die Anhänger der Partei zum Mitmachen zu bringen. Eine Reihe von Intellektuellen, unter ihnen Picasso, der Romancier Roger Vaillant und andere, protestierten gegen die sowjetische Aktion. Noch bezeichnender ist, daß die Partei ihre Linie in der CGT nicht durchsetzen konnte, obwohl die CGT seit der Spaltung 1947 eine loyale Verfechterin der Politik der KP war. In einigen Fabriken weigerten sich Militante der CGT, Flugblätter zu verteilen und traten sogar aus der Gewerkschaft aus. [5] Die Meinungsverschiedenheit spiegelte sich auch in der CGT-Führung wider. Die CGT hatte zwei Generalsekretäre, von denen einer, Benoit Frachon, ein führendes KP-Mitglied war und öffentlich seiner persönlichen Unterstützung für die sowjetische Aktion Ausdruck gab. Aber er konnte seine Kollegen nicht mitziehen, und am 13. November gab die CGT folgende, ziemlich lahme Erklärung heraus:

Unsere Rolle und Pflicht ist es, den Charakter der CGT als einer Organisation zu bewahren, die allen Lohnabhängigen offensteht, unabhängig von politischen, philosophischen oder religiösen Meinungen... Es ist die Pflicht aller, sicherzustellen, daß die CGT eine große Einheitsorganisation bleibt, in der niemand belangt wird, weil er seine Meinung äußert oder seine politische und religiöse Tätigkeit außerhalb der Gewerkschaft ausübt.

Im März 1957 führte das IFOP (Französisches Meinungsforschungsinstitut) eine Meinungsumfrage unter den KP-Wählern durch. [6] Wenn solche Methoden auch nur von begrenztem Wert sind für die Untersuchung des Bewußtseinsstands, so sind die Resultate doch interessant, weil sie widerspiegeln, wie weit sich der stalinistische Mythos in den Köpfen der Arbeiter festgesetzt hatte und wie sehr er jetzt erschüttert wurde. Man sollte sich daran erinnern, daß die Stichprobe nicht unter KP-Mitgliedern durchgeführt wurde, die in ihrer Aussage gebunden sind, sondern unter den fünf Millionen Wählern – vorwiegend Arbeiter und Bauern –, die ein Jahr zuvor die KP zur größten Partei in der Nationalversammlung gemacht hatten:

Frage 1:
Gefühle während der Unterdrückung:

in Prozent   

Überraschung:

  7

Angst vor Konsequenzen:

17

Genugtuung:

22

Großer Schmerz:

  7

Unglauben:

  3

Empörung:

  5

Erleichterung:

28

Enttäuschung:

  4

Wut:

  2

Fehlen von Stolz:

  5

 

Frage 2:
Faktoren, die für die wichtigsten Ursachen
des Aufstandes gehalten werden:

in Prozent

Anstiftung durch Ausländische Agenten:

56

Hunger und Armut:

10

Aktivitäten der Katholiken:

22

Haß auf die fremden Truppen:

  7

Erbitterung über die Kommunisten:

10

Fehlende Freiheit:

10

Eine faschistische Verschwörung:

51

Unter den Militanten der KP herrschte beträchtliche Demoralisierung. Am 7. November versuchten Rechtsradikale, das Hauptquartier der KP in Brand zu setzen; die Gegendemonstration am nächsten Tag mobilisierte nur 30.000 Menschen, während einige Jahre früher der Protest gegen die Beschlagnahmung von L’Humanité Hunderttausende auf die Straße gebracht hatte. Im Februar 1957 war die Mitgliederzahl auf 287.000 abgesunken – 70.000 weniger als im Jahr zuvor. Aber im Laufe des Jahres 1957 bekam die Führung die Mitglieder wieder unter Kontrolle, indem sie einen verbissenen Linienkampf in den Zellen ausfocht. Und wenn die Unterstützung der Partei durch die Wähler einen Rückschlag erlitt, so doch nur vorübergehend. Meinungsumfragen zeigten, daß im November 1956 nur 68% von denen, die bei den letzten Wahlen kommunistisch gestimmt hatten, immer noch ihre Stimme der KP geben wollten; aber im März des folgenden Jahres war die Zahl wieder auf ihrem normalen Stand von über 80 Prozent.

In Italien machte sich die Uneinigkeit stärker in der Parteiführung bemerkbar. Togliatti, der später ein – ganz und gar unverdientes Ansehen wegen seines „Liberalismus“ und „Anti-Stalinismus“ erwarb, verteidigte in einer Rede am 20. Januar 1957 loyal die sowjetische Aktion:

Aus dem, was in Italien in den Zeitungen der Großbourgeoisie und der Priester geschrieben wurde, geht deutlich hervor, daß das Ziel die Vernichtung aller Errungenschaften der Revolution und die Restauration eines faschistischen Regimes war, das schnell zur Arena einer Kriegsprovokation gegen alle sozialistischen Länder geworden wäre und die Kriegsgefahr in ganz Europa heraufbeschworen hätte.

Aber eine so bedeutende Figur wie Giuseppe di Vittorio, ein kommunistischer Veteran, der in Spanien gekämpft hatte und Generalsekretär der Gewerkschaft CGIL war, in der Kommunisten und Sozialisten immer noch Seite an Seite arbeiteten, widersprach Togliatti. Di Vittorio war sich bewußt, daß es seine Glaubwürdigkeit als Gewerkschaftsführer nicht gerade stärkte, wenn er einfach über Massenbewegungen der Arbeiter in Osteuropa hinwegging. Schon zur Zeit des Aufstands von Poznan hatte er in der italienischen KP-Zeitung geschrieben, daß sogar in sozialistischen Ländern die Gewerkschaften „die Aufgabe haben, die gerechten Forderungen der Arbeiter energisch zu verteidigen, im Hinblick auf die Erfordernisse der allgemeinen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft“. [7]

Als die sowjetischen Truppen in Ungarn in Aktion traten, übte die Sozialistische Partei umgehend heftig Kritik; Nenni stellte die Hälfte seines Stalin-Preises für die Ungarn zur Verfügung, und die Sozialistische Partei trennte sich von der KP. Das Ergebnis war, daß die CGIL am 28. Oktober 1956 zum ersten Mal seit 1948 eine Position einnahm, die sich deutlich von der der KP unterschied. Die Exekutive gab eine Erklärung heraus, in der es hieß, daß „die CGIL, getreu dem Prinzip der Nichteinmischung eines Staates in die inneren Angelegenheiten eines anderen, es beklagenswert findet, daß eine Intervention ausländischer Truppen in Ungarn erbeten wurde und stattfand.“

Di Vittorio fügte eine persönliche Erklärung hinzu, die mit der Linie der CGIL übereinstimmte, die L’Unitá aber nicht veröffentlichte. Wie die französische Partei brachte die KPI es fertig, den Sturm zu meistern und ihren Einfluß auf die Arbeiterklasse zu erhalten, aber die Zahl ihrer Mitglieder fiel von 2.036.000 im Jahr 1956 auf 1.790.000 1957.

Die kleineren KPs waren noch unbeständiger in ihren Reaktionen. Am 5. November 1956 brachte der New Yorker Daily Worker, die Zeitung der KPUSA, einen Leitartikel, der die sowjetische Aktion verurteilte. Die „orthodoxe“ Linie wurde zwar innerhalb eines Jahres wieder durchgesetzt, doch um den Preis eines sehr großen Teiles der Mitglieder. Die indische und isländische KP protestierten ebenfalls.

In England machten sich die Auswirkungen von Ungarn noch schärfer bemerkbar. Die Parteimitgliedschaft, die im Februar 1956 33.095 betragen hatte, fiel bis Februar 1958 auf 24.670.

Die Führung hatte die sowjetische Aktion bedingungslos unterstützt. trotz der Tatsache, daß der Budapester Korrespondent des Daily Worker, Peter Fryer, Berichte schickte, die mit den ungarischen Arbeitern sympathisierten. Einige führende Parteimitglieder traten auf der Stelle zurück – John Horner, Sekretär der Feuerwehrgewerkschaft, Alex Moffat von den schottischen Bergarbeitern und (nachdem er den Parteisekretär John Gollan in einem Schreiben gebeten hatte, die Partei aufzulösen) Les Cannon von der Elektrikergewerkschaft.

Andere blieben dabei, um weiterzukämpfen. Die Unzufriedenheit war so groß, daß die Partei Ostern 1957 einen außerordentlichen Parteitag abhalten mußte. Nach einer heftigen Auseinandersetzung, in der die Diskussion der ungarischen Frage mit der der innerparteilichen Demokratie verknüpft wurde, über die nach den Enthüllungen des zwanzigsten Parteitages eine Debatte begonnen hatte, behauptete die Parteiführung ihre Linie und hielt den Apparat intakt, wenngleich um den Preis vieler ihrer besten Mitglieder.

Natürlich waren nicht alle, die die Partei verließen, Revolutionäre, deren Glaube an die Arbeiterkontrolle durch Ungarn entflammt war. Vielen von ihnen war die KP-Mitgliedschaft schon lange ein Hindernis in ihrer Universitäts- oder Gewerkschaftskarriere. Einige rückten auch nach links. Ungefähr zweihundert ehemalige KP-Mitglieder – davon die Hälfte Arbeiter – schlossen sich einer kleinen trotzkistischen Gruppe an, die früher mit der Zeitung Socialist Outlook (Sozialistische Perspektive) verbunden war. Als Resultat wurde der Newsletter (Rundschreiben) im Mai 1957 gestartet. Und einige der Parteiintellektuellen gründeten eine Zeitschrift namens The New Reasoner, die später in der New Left Review aufgehen sollte. Obwohl beide Tendenzen ihre Schwächen hatten (was der rasche Verlust vieler ihrer Ex-KP-Mitglieder beweist), leisteten sie einen bedeutenden Beitrag zur Wiedergeburt eines von der KP unabhängigen britischen Marxismus.

Die Parteiführung stellte die Behauptung auf – eine Behauptung, die oft von Journalisten und Historikern akzeptiert wurde, welche an das „Gewissen der Mittelklasse“ glaubten, – daß die große Mehrheit derer, die die Partei wegen Ungarn verließen, Intellektuelle waren, während die Mitglieder aus der Industriearbeiterschaft loyal blieben. Brian Behan (ein Bauarbeiter und das einzige Mitglied der Exekutive, das wegen Ungarn austrat) griff diese Auffassung Anfang 1957 an:

Den Mythos von der felsengleichen Arbeiterklasse und den schwankenden Intellektuellen sollte man ein für allemal über Bord werfen. Viele Arbeitergenossen sind beunruhigt wegen Ungarn. Einige von ihnen, sehr gute Genossen, sind ausgetreten. [8]

Es gibt keinen direkten statistischen Beweis für Behans Behauptung, aber sie wird erstens durch die Tatsache der heftigen Rückschläge gestützt, die die Partei in einer Reihe von Gewerkschaften erlitt, und zweitens durch die Teilnehmerliste der sozialen Zusammensetzung der nationalen Parteitage (selbst wenn die Zahlen für 1957 nicht ganz repräsentativ sind, weil man versuchte, die Zusammensetzung des Parteitages zu manipulieren, zeigen sie zumindest, wo die zuverlässigen Kräfte zu finden waren):

Beschäftigung
(in Prozent)

1954

1956

1957

1959

Techniker

23

25

18

22

Bauarbeiter

  8

10

  7

10

Lehrende

  6

  7

11

  9

Ungarn war für die internationale Bewegung nicht nur deshalb wichtig, weil es die Frage nach dem Zustand der sogenannten sozialistischen Länder anschaulich aufwarf, sondern auch, weil in der sich anschließenden Kontroverse das Problem der innerparteilichen Demokratie unübersehbar wurde. Im allgemeinen bestand die Debatte aus einem Schattenboxen zwischen der monolithischen stalinistischen Partei auf der einen Seite und einer im Grunde liberalen Konzeption, die sich auf Begriffe von individuellen Rechten stützte, auf der anderen Seite. Die bolschewistische Tradition des demokratischen Zentralismus war von dreißig Jahren Stalinismus so gründlich verschüttet worden, daß sie vollkommen außerhalb des Bewußtseins der Beteiligten lag. Die Folge war, daß viele, die in den verschiedenen Ländern mit den KPs brachen, sich eher dem Aufbau von Diskussionsgruppen und kleinen Zeitschriften widmeten, als zu versuchen, die Tradition der revolutionären Kampfpartei wieder zu entdecken.

Rein formal waren viele Appelle der KP-Bürokraten an die „Disziplin“ und das „Akzeptieren von Mehrheitsentscheidungen“ natürlich korrekt. Aber Demokratie ist in einer revolutionären Bewegung keine formale Frage. In Fragen der Organisation und der Taktik werden die Militanten sich notwendigerweise der Disziplin fügen. Aber wenn Probleme wie Ungarn Fragen der Grundorientierung der Parteipolitik im Klassenkampf aufwerfen, kann nur die vollständigste und offenste Diskussion das Problem lösen. Bürokratische Formeln lösen gar nichts.

 

 

China

Maos Regime in China unterstützte die sowjetische Aktion in Ungarn, die es als „den großen Sieg des ungarischen Volkes“ [9] begrüßte, mit am entschiedensten. Die chinesischen Führer hatten die Entstalinisierung nicht begrüßt, und die Volkszeitung (Renmin Ribao) vom 5. April 1956 hatte Stalin verteidigt: „ein großer Marxist-Leninist, wenn auch zugleich ein Marxist-Leninist, der etliche große Fehler machte“ schon Wochen nach dem zwanzigsten Parteitag.

Dennoch erlebte China gerade zu dieser Zeit selbst eine Liberalisierungsperiode. Die Parole „Laßt hundert Blumen blühen, laßt hundert Schulen wetteifern!“ wurde von der Propagandaabteilung der KP im Mai 1956 ausgegeben, und Maos Rede Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk vom April 1957 erörterte das Thema der freien Meinungsäußerung und der friedlichen Lösung von Konflikten. Eine Reihe von Streiks, die 1956 stattfanden, und die studentische Protestbewegung, die im Frühjahr 1957 begann, wurden mit Zugeständnissen beantwortet, besonders wenn sie sich gegen örtliche Bürokraten richteten oder bessere Arbeitsbedingungen forderten.

Diese Periode der Lockerung und der Zugeständnisse war zum Teil eine Folge der Unsicherheit über die ökonomische Zukunft des Regimes. Als sich der erste Fünfjahresplan (1953-57) seinem Ende näherte, wurden die Schwierigkeiten, die die Abschöpfung des Mehrproduktes aus der bäuerlichen Landwirtschaft zugunsten der Entwicklung der Schwerindustrie mit sich brachte, augenfälliger; die erneuerte Entschlossenheit zum „Großen Sprung nach vorn“ und zu den Volkskommunen von 1958 hatte man noch nicht zum Ausdruck gebracht. [10]

Die Ereignisse in Ungarn bestärkten viele Regimekritiker. Das Haus des Schriftstellers Ting Ling, Parteimitglied seit fünfundzwanzig Jahren, erhielt den Spitznamen „Petöfi-Klub“, und ein Pekinger Professor erklärte im Juli 1957, daß „dies der Vorabend der polnischen und ungarischen Ereignisse ist.“ [11]

Die Führung hingegen scheint Ungarn als Warnung vor den Gefahren der Liberalisierung betrachtet zu haben. Der Periode der größten Freiheit – der „Berichtigungs-Kampagne“ vom Mai 1957, einer offenen Einladung, die Partei und die Bürokratie zu kritisieren – folgte nur einen Monat später eine neue „anti-rechte“ Unterdrückungskampagne. [12] Die Virulenz eines Teils der Kritik, die die Berichtigungs-Kampagne entfesselt hatte, schien Grund genug zu sein für die Behauptung, daß es eine neue rechtsradikale Verschwörung zur Vernichtung der kommunistischen Herrschaft in China gebe; es war zum Beispiel möglich, öffentlich zu erklären, daß „Parteimitglieder Geheimagenten sind und schlimmer als die japanischen Agenten während der Besatzungszeit.“ [13]

 

Die Stabilisierung

Aber trotz alledem brachten die sowjetischen Führer es fertig, den kommunistischen Block zusammenzuhalten. Bis zum Ende der fünfziger Jahre wurde wenigstens einigermaßen der Anschein der Einigkeit gewahrt. In den beiden ärgsten Unruheherden, Polen und Ungarn, wurde die Ordnung durch eine kluge Mischung von Zugeständnissen und Unterdrückung wiederhergestellt. Der Wunsch der Sowjetunion, das Kominform als Disziplinierungsinstrument wiederzubeleben, wurde von den Polen, Chinesen und Italienern abgelehnt. 1958 kam man überein, ein theoretisches Organ der internationalen Bewegung zu schaffen, und im September begann die World Marxist Review zu erscheinen. Die Krise war vorbei – für den Augenblick.

 

 

Anmerkungen

1. A. Solschenizyn, Krebsstation, II, Reinbek 1971, S.25-26 (rororo)

2. Prawda vom 10. September 1961

3. Vgl. Zauberman: Industrial Progress in Poland, Czechoslovakia and East Germany, London 1964; J. Knapp, Lloyds Bank Review, Oktober 1968, S.9

4. J. Kuron and K. Modzelewski: A Revolutionary Socialist Manifesto, London 1967, S.46 [Auf deutsch erschienen unter dem Titel Monopolsozialismus.]

5. Vgl. D. Mothé, Journal d’un Ouvrier 1956-58, Paris 1959

6. Zit. bei P. Fougeyrollas: La Conscience Politique dans la France Contemporaine, Paris, 1963, S.48-49

7. L’Unita vom 2. Juli 1956

8. Brief an die World News, IV, 77 (1957)

9. People’s Daily vom 5. November 1956

10. Vgl. Y. Gluckstein: The Chinese People’s Communes, In: International Socialism, 1, 1960

11. New China News Agency am 6. Juli 1957

12. Vgl. Y. Gluckstein: China: The Hundred Flowers Wilt, A Socialist Review, London 1965, S.236-41

13. New China News Agency am 30. Juni 1957

 


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2001