Ian Birchall

 

Arbeiterbewegung und Parteiherrschaft

 

Teil II. (1953-1963)

9. Polyzentrismus im Westen

In der Periode zwischen dem Tod Stalins 1953 und dem offenen Zutagetreten des chinesisch-russischen Bruchs 1963 machten die KPs in den fortgeschrittenen westlichen Ländern eine tiefgreifende Umwandlung durch. Schon in den dreißiger Jahren hatten sie aufgehört, revolutionäre Parteien zu sein; sie hatten in erster Linie als Zujubler und Public-Relations-Agenten für die sowjetische Bürokratie gedient; von Zeit zu Zeit wurde ihnen vielleicht noch aufgetragen, eine Aktion zu inszenieren oder, was häufiger war, eine Auseinandersetzung zurückzuhalten, die die Sowjetunion in Verlegenheit brachte.

Die neue internationale Strategie der sowjetischen Führer in der Periode nach Stalin stellte sogar diese bescheidene Rolle in Frage. Die UdSSR hatte sich jetzt wirtschaftlich und militärisch als eine der beiden Großmächte der Welt etabliert; sie hatte wenig Interesse daran, ihr revolutionäres Erbe zu beschwören. In dieser Situation begannen die KPs eine Entwicklung, die sie – langsam und ungleichmäßig den traditionellen sozialdemokratischen Parteien immer näher brachte. Die Sowjetunion bemühte sich, in den verschiedensten Teilen der Welt Freunde und Einfluß zu gewinnen und wollte nicht durch irgendwelche dogmatischen oder sektiererischen Aktivitäten nationaler kommunistischer Parteien in Verlegenheit gebracht werden. Als Eisenhower im Dezember 1959, auf dem Höhepunkt seiner Freundschaft mit Chruschtschow, Rom besuchte, ließen die italienischen KP-Mitglieder ihre gewohnte Parole „Yankee go home“ fallen und gingen mit dem Ruf „We too like Ike“ („Auch wir mögen Eisenhower“) auf die Straßen. [1]

Was Westeuropa betrifft, so war die Sowjetunion vor allem an einer Verbesserung ihrer Beziehungen zu den sozialdemokratischen Parteien interessiert. Diese waren in England und Deutschland Massenparteien, während die KPs viel kleiner und im Parlament nicht vertreten waren; in Frankreich stellten die Sozialisten eine führende Kraft in der Regierung dar, während die KP zu vollständiger Isolation im Parlament verdammt war.

Im Juli 1956 schaute Suslow von der sowjetischen Führungsspitze beim Parteitag der französischen KP vorbei, um die neue Linie auszugeben:

In letzter Zeit haben die kommunistischen und sozialistischen Parteien einer Reihe von Ländern zu etlichen Problemen ähnliche Positionen bezogen: Verbot von Atomwaffen, Rüstungsbeschränkung, friedliche Koexistenz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, Entwicklung der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den Völkern, Kampf gegen den Kolonialismus. Das alles unterstreicht die Notwendigkeit und die neuen Möglichkeiten eines vereinten Handelns der Arbeiterklasse. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion verstärkt ihrerseits ihre Freundschaft mit den kommunistischen Bruderparteien, während sie sich gleichzeitig bemüht, Beziehungen zu den sozialistischen Parteien, einschließlich der französischen sozialistischen Partei, aufzunehmen und zu entwickeln. Sie ist überzeugt, daß diese Kontakte der Sache des Friedens und des Sozialismus dienen werden. [2]

Auf gut deutsch hieß das: „Bringt uns nicht in Verlegenheit; indem ihr zu garstig zu den Sozialisten seid, auch wenn sie erst wenige Jahre zuvor Streikende niedergeschossen haben und jetzt einen gemeinen Kolonialkrieg in Algerien führen.“

Die Logik der sowjetischen Position reichte noch weiter. Man mußte den westlichen Sozialisten und freundlich gesinnten neutralen Führern wie Nehru immer wieder versichern, daß die KPs in ihren Ländern mit ihrer revolutionären Vergangenheit gebrochen hatten, daß man auf ihre Mitarbeit innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens rechnen konnte. Die sowjetischen Führer sollten als Leuchte betrachtet werden, die sich fest dem schrittweisen Fortschritt verschrieben hatten. Daher rührt die Betonung des parlamentarischen Weges zum Sozialismus – ein Thema, das den zusätzlichen Vorteil hatte, gut zu den einheimischen Bestrebungen vieler nationaler KP-Führer zu passen.

Dieses Thema war nicht völlig neu – die britische KP hatte es schon in ihrem Programm in The British Road to Socialism (Der britische Weg zum Sozialismus) behandelt, das, von Stalin unterstützt, 1951 entworfen worden war. Aber jetzt wurde es besonders betont. Chruschtschow führte auf dem zwanzigsten Parteitag aus, daß seit 1917 große Veränderungen in der Welt stattgefunden hätten; die Kräfte des Sozialismus und der Demokratie seien jetzt so sehr erstarkt, daß man die Möglichkeit ins Auge fassen könne, daß die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten „eine solide Mehrheit im Parlament gewinnen und dieses Organ der bürgerlichen Demokratie in ein wirkliches Instrument des Volkswillens umwandeln“ könnten. Kurz danach veröffentlichte die Prawda einen Artikel von Togliatti, der die Möglichkeit eines parlamentarischen Weges zum Sozialismus behauptete.

Bis zu diesem Punkt konnte man davon ausgehn, daß alle Veränderungen in der KP-Politik aus der jeweiligen Strategie der sowjetischen Führung resultierten. Aber die Veränderungen brachten eine Dynamik hervor, die der Kontrolle Chruschtschows und seiner Freunde entglitt. Einige berufsmäßige „Kremlologen“ haben argumentiert, daß die Differenzen zwischen den verschiedenen KPs lediglich Teil einer abgesprochenen Verschwörung seien, und daß die Bewegung in Wirklichkeit monolithisch blieb. Solche Argumente enthüllen eine totale Unkenntnis der Arbeiterbewegung und berücksichtigen überhaupt nicht den doppelten Druck, dem die KP-Führungen ausgesetzt sind.

Was die sowjetischen Führer den Thorez, Togliatti usw. sagten, war: jetzt, da wir Atombomben haben, können wir uns ohne eure Hilfe verteidigen; wir begrüßen natürlich jede Public-Relations-Arbeit, die ihr für uns tun könnt, und jeden Druck, den ihr auf eure Regierungen ausüben könnt, damit sie international mit uns zusammenarbeiten; aber unternehmt nichts, was uns in Verlegenheit bringt, und schlagt euch vor allem die Machtergreifung aus dem Kopf – wir werden uns euretwegen nicht in einen Krieg verwickeln lassen.

Das war eine etwas demütigende Botschaft für Männer, die Parteien mit hunderttausenden von Mitgliedern und Millionen Wählern führten. Die französische Partei verbarg kaum ihren Widerwillen gegen Chruschtschows „neuen Kurs“. Auf dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU war Thorez der einzige brüderliche Delegierte, der Stalin in seiner Rede erwähnte und in einer Reihe mit Marx, Engels und Lenin nannte (in einer Atmosphäre, in der jedes Adjektiv abgewogen wurde, war das sicherlich kein bloßer Ausrutscher). Nachdem der Rest der Welt Chruschtschows Geheimrede verdaut hatte, nannte die französische Partei sie ausdrücklich den „Bericht, der Chruschtschow zugeschrieben wird“. Und in einer Erklärung des Politbüros der französischen KP am 19. Juni 1956 wurde die sowjetische Führung wegen ihrer Art von Durchführung der Entstalinisierung deutlich kritisiert:

Das Politbüro bedauert, daß durch die Umstände, unter denen der Bericht des Genossen Chruschtschow vorgetragen und bekanntgemacht wurde, die bürgerliche Presse in der Lage gewesen ist, Tatsachen zu veröffentlichen, welche die französischen Kommunisten nicht kannten. Ein solcher Zustand ist der normalen Diskussion dieser Probleme in der Partei nicht zuträglich. Er begünstigt im Gegenteil die Spekulationen und Manöver der Feinde des Kommunismus.

Die italienische Partei erkannte viel schneller, daß die Situation neue Horizonte eröffnete. Togliatti wies in einem Interview der Mai-Juni Ausgabe der Nuovi Argomenti darauf hin, daß die Entstalinisierung noch weiter geführt werden könnte, als die sowjetischen Führer das bis dahin getan hatten: „Soweit der Angriff beschränkt wird auf die Anprangerung der persönlichen Fehler Stalins als die Ursache allen Übels, bleiben wir im Umkreis des Personenkults.“

Auch andere Parteien hießen die Möglichkeit willkommen, den Makel der Verbundenheit mit Rußland loszuwerden. In einer Erklärung des Nationalen Komitees der KPUSA, die am 19. Juli 1956 herausgegeben wurde, hieß es:

Wir glauben, daß die Resolution der KPdSU den großkapitalistischen Feinden des Sozialismus, die behaupten, die schweren Fehler, die unter Stalins Führung gemacht wurden, gehörten zum Wesen des Sozialismus, eine überzeugende Antwort erteilt.

Natürlich brachen die KPs nicht über Nacht mit der Sowjetunion; das wäre zu viel für ihre Führer gewesen und hätte die Glaubwürdigkeit ihrer Organisationen überfordert. Sie betonten weiterhin ihre tiefe Bewunderung für alles Russische, ihre Ergebenheit gegenüber den Errungenschaften des sowjetischen Volkes, und so weiter bis zum Erbrechen. Aber sie wußten, daß sie als bloße Propagandaanhängsel der Sowjetbotschaften keine Zukunft hatten. Sie mußten beweisen, daß sie genau so „nationale“ Parteien waren wie ihre sozialdemokratischen Rivalen.

In Westeuropa wurde die ganze Frage des Nationalismus in den fünfziger Jahren durch die Bestrebungen aufgeworfen, eine europäische Wirtschaftsvereinigung herbeizuführen. Sie gipfelten 1957 in der Errichtung des „Gemeinsamen Marktes“. Die westeuropäischen KPs richteten sich nach den sowjetischen Interessen und bekämpften die Schaffung des gemeinsamen Marktes. Sie betrachteten ihn als ein Werk des europäischen Kapitalismus, das von den Vereinigten Staaten unterstützt wurde, und unterschätzten die Möglichkeit eines Konflikts zwischen dem europäischen und amerikanischen Kapital. Fatalistisch prophezeihten sie auch eine Verschlechterung der Lage der Arbeiter. überdies ließ ihre Propaganda in verschiedenen Ländern jeden Anspruch einer auf Klasseninteressen gegründeten Argumentation fallen. In Frankreich legten die KP und die CGT den Nachdruck ihrer Agitation auf die Beschwörung der Gefahr, daß Europa von Westdeutschland beherrscht werden würde, und ritten ganz opportunistisch auf denselben nationalistischen Themen herum wie in der Kampagne gegen die deutsche Wiederbewaffnung. Die britische KP gab in ihrem Feldzug gegen den Beitritt Großbritanniens jeden Anschein einer Klassenanalyse auf. In einer Broschüre aus dem Jahr 1962 mit dem Titel Die Wahrheit über den Gemeinsamen Markt warnte sie:

Das Parlament würde seiner souveränen Kontrolle beraubt, und in Angelegenheiten, die mit dem Vertrag von Rom zusammenhängen, wären unsere Gerichte hilflos.

In Italien gab es jedoch noch eine weitere Komplikation. Da Italien das niedrigste Lohnniveau der sechs aufwies, hofften die italienischen Gewerkschaftler, aus der teilweisen Harmonisierung, die der Markt herbeiführen sollte, Nutzen zu ziehen. Das Ergebnis war, daß die CGIL unter dem Einfluß der Sozialisten und einiger pragmatischer KPler zu einer vollständig reformistischen Perspektive kam und in der EWG bestimmte progressive Züge sah,

Auf dem vierten Kongreß des Weltgewerkschaftsbundes verursachte die Tatsache, daß Giuseppe di Vittorio sowohl Generalsekretär der CGIL wie des WGB war, eine gewisse Verlegenheit, aber man mogelte sich erfolgreich an diesem Punkt vorbei. 1962 hatte die italienische KP dieselbe Position erreicht wie die CGIL; letztere ersuchte um formelle Vertretung im EWG-Hauptquartier.

 

Frankreich

Die Geschichte der französischen KP in den fünfziger Jahren war, trotz ihres Versuchs, den Anschein monolithischer Einheit zu wahren, von einer Reihe heftiger innerer Konflikte gekennzeichnet, die tiefe Meinungsverschiedenheiten über die Rolle und Strategie der Partei in der neuen Periode widerspiegelten. 1953 wurde Auguste Lecoeur, der Organisationssekretär der Partei, zunächst scharf kritisiert, dann ausgeschlossen; man beschuldigte ihn, er habe die Parteiführung an sich reißen wollen; der eigentliche Grund aber war sein Organisationskonzept, das eine Verminderung der von den Mitgliedern verlangten Aktivitäten mit sich brachte. 1956 wurde Pierre Hervé, der prominenteste unter den jüngeren Parteiintellektuellen, ausgeschlossen, weil er einige Monate zu früh gewisse Entstalinisierungsmaßnahmen forderte. Und 1961 wurden zwei führende Mitglieder, Servin und Casanova, degradiert, weil sie zu unabhängig Initiativen in der Friedensbewegung betrieben hatten.

1953 war die KP immer noch vollständig isoliert, und von Teilen der herrschenden Klasse wurde starker Druck ausgeübt, um sie zu verbieten. Mehrere aufeinanderfolgende Rechtsregierungen betrieben eine offen gegen die Arbeiterklasse gerichtete Wirtschaftspolitik und verfolgten die KP mit Polizeimaßnahmen. Aber im August 1953 griff ein Streik, den Anarcho-Syndikalisten in Bordeaux begonnen hatten, auf vier Millionen Arbeiter über. Die Regierung gab nach, und die Forderungen nach einem Verbot der KP hörten auf.

Ein weiterer Umstand stärkte zu diesem Zeitpunkt die Macht der KP. Frankreich sah sich zunehmenden Schwierigkeiten mit seinen Kolonien gegenüber, sowohl einem verheerenden Krieg in Indochina wie wachsenden Reibungen in Nordafrika. Der intelligenteste Teil der Bourgeoisie befürwortete eine Entkolonialisierungspolitik. Aber solange die KP im politischen Ghetto blieb, mußte die Regierung parlamentarische Unterstützung bei der extremen Rechten suchen, die über die ganze Kolonialfrage überholte Ansichten hatte. Deshalb war die Situation reif für eine Rückkehr der KP ins politische Leben, aus dem sie 1947 so schmählich verjagt worden war.

Schon in den Gemeinderatswahlen von 1953 hatte die KP ein Wahlbündnis mit den Sozialisten vorgeschlagen. Die Sozialisten wiesen das auf nationaler Ebene zurück, aber trotz Ausschlußdrohungen aus Paris erklärten sich Sozialisten in fünfzig Gemeinden zu einer Zusammenarbeit bereit. Im Dezember desselben Jahres kooperierten kommunistische und sozialistische Abgeordnete bei den Präsidentschaftswahlen. In den kommenden Jahren kritisierte die KP die unabhängige Linke mit ihren Zeitschriften wie L’Express und France-Observateur oft viel herber als die rechte Politik der Sozialistischen Partei.

Im Juni 1954 wurde Pierre Mendès-France Premierminister mit dem Mandat, den Indochinakrieg sofort zu beenden, und zum erstenmal seit 1947 stimmten die KP-Abgeordneten für eine Regierung. Florimond Bonte begrüßte das Ereignis in einer KP-Wochenzeitung:

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Frieden ist getan. Die Kommunisten haben durch ihre Stimmabgabe bei der Amtseinführung von Mendès-France durch Taten bewiesen, daß sie stets bereit sind, im Parlament und im Land jede wirksame Maßnahme zu unterstützen, die mit den friedlichen Zielen der Nation übereinstimmt. [3]

Unglücklicherweise gab Mendès-France aus Rücksicht auf seine rechten Wähler bekannt, daß er die Wahl nur annehmen würde, wenn er auch ohne die Stimmen der Kommunisten eine Mehrheit hätte.

Die Hoffnungen der KP auf ein Bündnis mit den Sozialisten für die allgemeinen Wahlen von 1955 wurden jedoch durch die hastige Schaffung einer sogenannten „Republikanischen Front“ endgültig zerschlagen, in der die Sozialisten, Mendès-Frances Radikale, die UDSR Mitterrands und die Sozialrepublikaner von Chaban-Delmas (späterer gaullistischer Premierminister) zusammengeschlossen waren. Die Republikanische Front war kaum mehr als ein Schlagwort; sie hatte kein eigenes Programm. Chaban-Delmas sagte recht offenherzig, warum sie geschaffen wurde:

Wir errichten die Republikanische Front, um die Bildung einer Volksfront zu verhindern, um die Sozialistische Partei von der KP zu isolieren.

Die KP reagierte nicht mit einer umfassenden Kritik der opportunistischen Politik der Front, sondern protestierte gegen ihren eigenen Ausschluß. Sie rief diejenigen, die eine Volksfront wollten, zur Stimmabgabe für die KP auf, damit die Republikanische Front dann mit den Kommunisten verhandeln müßte.

Aber erst der Algerienkrieg, der am 1. November 1954 begann, enthüllte das volle Ausmaß des Opportunismus und der Zugeständnisse an den Nationalismus, dessen die Partei fähig war. Das Politbüro der KP wartete nach dem Beginn der Erhebung eine volle Woche, bevor es überhaupt eine Erklärung herausgab; als dann am 8. November eine Stellungnahme erschien, war sie sehr vorsichtig formuliert und betonte die Mißbilligung der algerischen Taktik:

Unter diesen Umständen und getreu der Lehre Lenins versichert die Französische Kommunistische Partei, die die Zuflucht zu individuellen Akten nicht billigen kann, die zwangsläufig den Zielen der schlimmsten Kolonialisten dienen, selbst wenn sie nicht von ihnen provoziert wären, dem algerischen Volk die Solidarität der französischen Arbeiterklasse in seinem Massenkampf gegen die Unterdrückung und für die Verteidigung seiner Rechte.

Bis weit in das Jahr 1955 hinein widmete die Partei ihr Hauptaugenmerk dem populären Streitpunkt der deutschen Wiederbewaffnung und spielte die algerische Frage herunter; so erwähnte am 24. Februar 1955 Waldeck-Rochet, der KP-Sprecher, in der Debatte anläßlich des Amtsantritts von Edgar Faure die algerische Frage überhaupt nicht. Sogar auf dem vierzehnten Parteitag 1956 wurde Algerien nur unter „ferner liefen“ behandelt.

Am 12. März 1956 erbat der sozialistische Premierminister Guy Mollet (der gerade in Algerien von europäischen Siedlern mit Tomaten bombardiert worden war, weil sie befürchteten, er könnte in der Frage der Unabhängigkeit weich werden) von der Nationalversammlung „besondere Vollmachten“, um mit der Situation fertig zu werden. Die KP-Abgeordneten stimmten dafür. Florimond Bonte erklärte, daß die ganze Strategie der „linken Einheit“ dies notwendig gemacht hätte:

Die absolut vorrangige Pflicht der Kommunistischen Partei bestand darin, die Manöver und Machenschaften der Reaktionäre zu durchkreuzen ... Sie erreichte dies, indem sie für die Regierung stimmte. Das wesentliche Ziel dieser Stimmabgabe war, die Waage nach links ausschlagen zu lassen und die Regierung gegen die Pressionen der Reaktion zu schützen. [4]

Auf lange Sicht sollte diese Taktik sich auszahlen. In der Kampagne für die Präsidentschaftswahl von 1965 rechtfertigte François Mitterrand die Tatsache, daß er sich auch auf die kommunistischen Stimmen stützte, folgendermaßen:

Als ich sah, wie die Kommunisten für die besonderen Vollmachten stimmten, und dabei ihre wirklichen Gefühle kannte, begriff ich, wie verantwortungsvoll und ernsthaft diese Partei war.

Während die KP das parlamentarische Spiel mitspielte, trieb es viele junge Leute in Frankreich zur direkten Aktion gegen den Krieg. Im Herbst 1955 ereignete sich eine ganze Serie von Vorfällen, bei denen Einberufene sich weigerten, die Züge zu besteigen, die sie zur Einschiffung nach Algerien bringen sollten, und sich sogar auf die Schienen legten, um die Abfahrt der Züge zu verhindern. Die KP tat nichts, um Unterstützung für solche Aktionen zu mobilisieren, und setzte sich sogar davon ab, indem sie sich in abstrakte Formeln über Pazifismus und individuelle Proteste flüchtete. Die Agitationsarbeit in der Algerienfrage übertrug die KP einer Frontorganisation, der „Friedensbewegung“, deren Aktivität weitgehend auf das Milieu der Mittelklasse beschränkt war. KP-Mitgliedern war die Kontaktaufnahme mit algerischen Kommunisten verboten, und später wurden Militante diszipliniert, weil sie sich selbständig an Unterstützungsaktionen für die Nationale Befreiungsfront beteiligt hatten.

Die KP war auch freigiebig mit ihrer Kritik des „Nationalismus“ und „Abenteurertums“ der algerischen Nationalisten. Formal war diese Kritik berechtigt, genauso wie die Kritik an denjenigen, die gegen die Einberufungen Widerstand leisteten, und konnte mit einer Fülle von Zitaten aus Klassikertexten „abgesichert“ werden. Marxisten haben immer individuelle Aktionen an Stelle von Massenmobilisierung abgelehnt. Worauf es aber ankommt, ist, daß die französische KP durchaus in der Lage gewesen wäre, Massenaktionen der Arbeiterklasse gegen den Krieg auszulösen. Tatsächlich erreichten die Aktionen niemals auch nur annähernd das Niveau der Demonstrationen gegen den Indochinakrieg in den frühen fünfziger Jahren. Die KP war zu besorgt, jedem Zusammenstoß mit dem antiarabischen Rassismus aus dem Weg zu gehen, der in Teilen der französischen Arbeiterklasse herrschte, und ihre Achtbarkeit und Treue gegenüber der bürgerlichen Legalität unter Beweis zu stellen. Sie brachte es auch fertig, ihre Loyalität zum nationalen Interesse zu demonstrieren, indem sie die einander ablösenden Regierung oft angriff, weil sie sich dem „amerikanischen Imperialismus“ ausgeliefert hätten, womit sie gleichsam durchblicken ließ, daß der amerikanische Imperialismus eine größere Bedrohung für das algerische Volk sei als der französische.

Es gab natürlich eine kommunistische Partei in Algerien. Sie war mit französischer Hilfe aufgebaut worden. Man sollte annehmen, daß es für eine Partei mit internationalistischem Anspruch selbstverständlich wäre zu versuchen, eine gemeinsame Strategie zwischen den beiden Organisationen zu entwickeln. Tatsächlich fand das erste offizielle Treffen von Vertretern der französischen, algerischen, marokkanischen und tunesischen KPs 1961 statt. Die algerische KP selbst hatte zunächst gezögert, ob sie den nationalen Befreiungskampf unterstützen sollte, dann ihre Streitkräfte dem Kommando der FLN (Nationale Befreiungsfront) unterstellt. Sobald sie versuchte, irgendwelche deutlich selbständigen politischen Positionen einzunehmen, wurde sie, mehr oder weniger physisch, beseitigt; nach 1956 spielte sie im Krieg kaum eine Rolle. Nach 1944 hatte die KP über starken Anhang bei den europäischen Siedlern aus der Arbeiterklasse in Vierteln von Algier wie Bab-el-Oued verfügt. Aber da sie diese im Kampf um ökonomische Interessen gewonnen hatte, ohne sich je ernsthaft um ihre politische Erziehung zu kümmern, liefen die meisten zur extremen Rechten über, als der Krieg richtig anfing.

Im Verhältnis zu ihrer Anzahl spielten die wenigen revolutionären Sozialisten in Europa eine viel achtbarere Rolle. Sie bekämpften den französischen Imperialismus viel prinzipieller und konsequenter und gaben der FLN materielle Hilfe. Jedoch war dies, vor allem im Fall des Internationalen Sekretariats der Vierten Internationale von einer unkritischen Haltung gegenüber der FLN begleitet, die den Aufbau einer unabhängigen sozialistischen Partei in Algerien als unnötig ansah.

1958 hielt das in allen Fugen krachende, nicht funktionierende parlamentarische System der Vierten Republik (das seit 1946 im Durchschnitt mehr als zwei Regierungen pro Jahr verschliß) nicht länger dem Druck stand, den der Krieg erzeugte. Konfrontiert mit einem Aufruhr des Militärs und der Siedler in Algerien, die gegen die zögernde Kriegsführung der Regierung protestierten, suchte die herrschende Klasse Frankreichs ihr Heil bei de Gaulle, der einer Rückkehr ins politische Leben unter der Bedingung zustimmte, daß er die französische Verfassung in ein Präsidialregime umwandeln konnte.

Jetzt rächte sich die Strategie der KP an ihr selbst. Im Parlament ging ihr Ruf nach der Volksfront in einer panikartigen Massenflucht von Politikern zu de Gaulle unter: Sie wollten sich sein Wohlwollen sichern. In den Fabriken, wo die einzige Kraft zu finden gewesen wäre, die sich de Gaulle hätte entgegenstellen können, herrschte Demoralisierung, und die Streikaufrufe der KP und der CGT stießen überwiegend auf taube Ohren – so streikten zum Beispiel in den Renault-Werken in Paris nur knapp über tausend von 35.000 Arbeitern, und im Verkehrssystem von Paris gab es nur kleinere Stockungen.

Eines der größten Hindernisse, sich de Gaulle wirksam entgegenzustellen, bestand darin, daß die KP sich nie darüber klar werden konnte, wie sie ihn gesellschaftlich einordnen sollte. Demagogie war wichtiger als Analyse. Je mehr man de Gaulle als Faschisten hinstellte, desto besser war dem Hauptziel gedient, eine neue Volksfront aufzubauen. Die KP bezeichnete de Gaulle zwar nie ausdrücklich als Faschisten, aber es fehlte nicht viel daran. Eine Erklärung des Politbüros vom 26. Juli 1958 verglich de Gaulle mit Franco, Mussolini, Pétain ... und Napoleon III. Eine andere Verlautbarung prophezeite, daß de Gaulle ein Verbot der KP beabsichtige [5]; dieser war aber klüger und wußte, wo seine wirklichen Feinde standen. Von nun an richtete sich die Propaganda der KP immer mehr gegen de Gaulles Regime und immer weniger gegen den Kapitalismus als solchen. So schrieb François Billaux:

Die Kommunisten und ihre Freunde werden dazu beitragen, daß die Bewegung der Volksmassen sich noch stärker, und schneller entwickelt. Und dabei werden sie nicht zulassen, daß aufgescheuchte Kleinbürger Geschwätz über den Sozialismus an die Stelle dessen setzen, was das gegenwärtige Ziel in Frankreich bleibt: der Wiedergewinn und die Erneuerung der Demokratie. [6]

Die KP hatte alles auf die Wahlen gesetzt. Aber als mit dem Volksentscheid vom September 1958 und den allgemeinen Wahlen im November die Probe aufs Exempel kam, erlitt sie einmal mehr ein Fiasko. Im Volksentscheid stimmten nur viereinhalb Millionen Wähler gegen de Gaulle. Zweieinhalb Jahre zuvor hatten fünfeinhalb Millionen die KP gewählt, so daß jetzt mindestens eine Million KP-Wähler sich nicht gegen de Gaulle ausgesprochen hatte. Tatsächlich waren es noch beträchtlich mehr, denn es gab eine kleine, aber wichtige nichtkommunistische Opposition gegen de Gaulle, die von Mendés-France und anderen geführt wurde. Die KP verlor die Unterstützung eines Teils der fortgeschrittensten Arbeiter; in ihrer traditionellen Hochburg, dem „Roten Gürtel“ der Pariser Vororte, fielen 68% der Stimmen an de Gaulle. Bei den Parlamentswahlen verlor die KP mehr als eineinhalb Millionen Stimmen.

Als sich die Krisenatmosphäre verzog, wurde der bei den Wahlen verlorene Boden schnell wieder wettgemacht, aber auf dem wirklichen Kampfplatz, dort, wo es um die Lebensbedingungen der Arbeiter ging, fing die KP gar nicht erst an zu kämpfen. Die Wirtschaftspolitik de Gaulles sorgte dafür, daß die Lohnkosten in Frankreich bis 1966 weniger stiegen als in irgendeinem anderen Land des Gemeinsamen Marktes. Wegen ihrer von Grund auf falschen Analyse des Gaullismus war die KP nicht imstande, diese Angriffe zu bekämpfen. De Gaulle war auf den Plan gerufen worden, um das Geschäft der französischen Bourgeoisie zu besorgen. Er mußte den Schlamassel bereinigen, den die untauglichen parlamentarischen Institutionen der Vierten Republik und der Algerienkrieg verursacht hatten. Weit davon entfernt, die Organisationen der Arbeiterklasse zerschlagen zu wollen, bemühte de Gaulle sich um eine „progressivere“ Politik als die des Kalten-Kriegs-Antikommunismus der Vierten Republik. Schon zwei Tage nach seinem Amtsantritt lud er die CGT-Führer zu Gesprächen ein, was seit Jahren kein Premierminister mehr getan hatte. Die CGT-Führer wiesen die Einladung entrüstet zurück; aber im folgenden Jahr nahmen sie sie an und trachteten von da an mehr und mehr danach, ihren Platz in den offiziellen Gremien neben anderen Gewerkschaften einzunehmen.

Zwischen 1958 und 1962 handelte de Gaulle eine politische „Unabhängigkeit“ für Algerien aus, die ganz im Interesse des französischen Imperialismus lag. Die Einstellung der KP während dieser Phase wurde durch die Haltung der sowjetischen Regierung noch zwiespältiger.

Die sowjetischen Führer waren de Gaulle recht freundlich gesinnt, da sie deutlich erkannten, daß er den Amerikanern gegenüber viel weniger unterwürfig sein würde als die meisten Führer der Vierten Republik. In einer Ansprache an den Obersten Sowjet vom 31. Oktober 1959 unterstützte Chruschtschow direkt de Gaulles Algerienpolitik:

Die jüngsten Vorschläge Präsident de Gaulles für eine Lösung des Algerienproblems auf der Grundlage der Selbstbestimmung mit Hilfe einer Volksabstimmung in Algerien könnten eine wichtige Rolle bei der Regelung der Algerienfrage spielen. Es ist bekannt, daß Frankreich und Algerien durch historisch gewachsene Bande eng miteinander verknüpft sind ... Es ist leicht einzusehen, daß eine friedliche Regelung der algerischen Frage das internationale Ansehen Frankreichs und seine Rolle als Großmacht stärken würde.

Nach dieser Rede gab die französische KP den Vorschlägen de Gaulles, die sie zunächst heftig kritisiert hatte, ihre Unterstützung. Man sollte in diesem Zusammenhang erwähnen, daß die Sowjetunion die provisorische algerische Regierung erst im Oktober 1960 anerkannte. Als der Algerienkrieg zum Stillstand kam, sah sich de Gaulle einer Revolte der Armee und der algerischen Siedler gegenüber. Auch die Loyalität der Polizei stand in Frage. Bei einer Demonstration im Oktober 1961 drehte die Pariser Polizei durch und tötete eine große Zahl von demonstrierenden Algeriern; die KP protestierte, unternahm aber nichts, um die physische Verteidigung der algerischen Arbeiter in Frankreich zu organisieren. Wenn de Gaulle auch gezwungen war, sich bis zu einem gewissen Grad auf die Unterstützung der Linken zu verlassen, so mußte er doch zugleich beweisen, daß er nicht das geringste mit den Kommunisten gemein hatte. Deshalb verbot die Regierung im Februar 1962 eine unter anderem von Kommunisten organisierte Demonstration zur Unterstützung der Regierungspolitik für einen Frieden in Algerien. Die Demonstration fand trotz des Verbotes statt und wurde von der Polizei brutal aufgelöst. 8 Tote blieben zurück, darunter mehrere Kommunisten. Die KP hatte durch die Unterstützung de Gaulles mehr Verluste erlitten als jemals durch die Opposition gegen ihn.

 

Italien

In Italien war die KP nicht mit einer Krise konfrontiert, die sie so auf die Probe stellte wie der Algerienkrieg die französische KP, und es gab auch mehr Raum für intellektuelle Diskussionen. Das größte Problem, dem sich die Partei gegenübersah, war die Entwicklung ihres politischen Verbündeten, der Sozialistischen Partei, mit der sie durch gemeinsame Arbeit in Parlament, Gemeinden und Gewerkschaften verbunden war. Schon bei den Wahlen von 1953 hatten Kommunisten und Sozialisten getrennte Listen aufgestellt und nicht mehr gemeinsame wie 1948, und im August 1956 führten die Sozialisten Erkundungsgespräche mit Saragats Sozialdemokraten, die sich 1947 abgesparten hatten; diesen Gesprächen folgte dann doch die Unterzeichnung eines neuen Abkommens zwischen Kommunisten und Sozialisten. Der sozialistische Führer Nenni hatte sich schon 1952 für die Idee einer „Öffnung nach links“ stark gemacht, bei der die Sozialisten wieder eine Rolle in der Regierung übernehmen sollten. Als der Höhepunkt des Kalten Krieges überschritten war, wollten bestimmte Teile der Christdemokratischen Partei Nenni wieder in die Arme schließen. 1955 schlug der linke Christdemokrat Gronchi ein Bündnis mit den Sozialisten vor, und 1957 erhielt der Parteitag der Sozialistischen Partei eine Grußbotschaft von niemand anderem als dem Erzbischof Roncalli – dem späteren Papst Johannes XXIII. Es war jedoch ein langer, allmählicher Prozeß, da die Sozialistische Partei aus einer Reihe von Fraktionen bestand, darunter ein stark prokommunistischer Flügel, dessen Anhänger wegen Ihrer enthusiastischen Unterstützung der sowjetischen Panzer in Budapest als „Carristi“ (Panzerleute) bekannt waren.

Die Kommunisten erkannten, daß eine Scheidung von den Sozialisten sie in die politische Wüste zurückwerfen würde, aus der andere KPs verzweifelt herauszukommen suchten. Sie verfügten über einige Druckmittel gegen die Sozialisten – namentlich die Tatsache, daß diese ihre Positionen in den Gemeindeparlamenten in vielen Fällen der Zusammenarbeit mit den Kommunisten verdankten. Aber um das Bündnis aufrechtzuerhalten, waren sie gezwungen, zusätzliche politische Zugeständnisse anzubieten. Togliatti sagte dazu 1961 in einer Rede:

Kurz gesagt halten wir immer noch die Einheit und enge Zusammenarbeit mit den Sozialisten für grundlegend. Auch wenn es Veränderungen in der Linie der Sozialistischen Partei gegeben hat, Veränderungen, die wir kritisieren, sollten wir doch an diesem Ziel der Einheit festhalten. [7]

Die Massenbasis der italienischen KP und die Zwangslage, die sie nötigte, in ihrem Verhältnis zu anderen politischen Kräften taktisch zu manövrieren, machte sie zu einem fruchtbaren Boden für die Entstehung der Doktrin des „Polyzentrismus“.

Togliatti verkündete diese Doktrin in einer Rede vor dem Zentralkomitee der KP am 24. Juni 1956:

Zur Zeit entwickelt, sich das, was ich in dem Interview, das ihr gelesen habt, ein polyzentrisches System nannte, entsprechend dem Wandel in der Struktur der Weit und in der Struktur der Arbeiterbewegungen selbst, und diesem System entsprechen auch neue Formen der Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien. Die Lösung, die heute dieser neuen Situation wahrscheinlich am angemessensten ist, ist die volle Autonomie der einzelnen Bewegungen und kommunistischen Parteien und bilaterale Beziehungen zwischen ihnen, damit völliges gegenseitiges Verständnis und völliges gegenseitiges Vertrauen sich herstellt – Bedingungen, die für die Zusammenarbeit und Herstellung der Einheit der kommunistischen Bewegung selbst und für die gesamte fortschrittliche Bewegung der Arbeiterklasse notwendig sind.

Die Italiener sahen sich wegen ihres „Revisionismus“ angegriffen; Roger Garaudy von der französischen KP kritisierte die italienische KP 1956: sie verwechsle den bürgerlichen Reformismus mit der sozialistischen Revolution. Schließlich fand sich Togliatti, unter internationalem Druck und besorgt über das exzessiv unabhängige Denken in seiner eigenen Partei, bereit, den Begriff „Polyzentrismus“ fallen zu lassen. Aber die Sache selbst existierte weiter.

Die italienische Partei vermied die wiederholten Säuberungen der französischen Partei, indem sie mehr innere Diskussionsfreiheit zuließ. Auf der Zusammenkunft des Zentralkomitees vom November 1961 wurden sogar Rufe nach der Wiederherstellung des Rechtes auf Fraktionsbildung innerhalb der Partei laut:

Giancarlo Pajetta, eines der fähigsten Führungsmitglieder, erklärte:

Zur Zeit von Lenins Führung in der bolschewistischen Partei scheute niemand vor einer abweichenden Stimmabgabe zurück, in jeder Frage bildeten sich Mehrheiten und Minderheiten, die Einheit wurde nicht immer mit Einstimmigkeit identifiziert. Ein Mehrheitsvotum ist sicherlich besser als falsche Einstimmigkeit ...

Amendola verurteilte starr festgelegte Fraktionen und forderte ein fließendes, dynamisches, innerparteiliches Leben, eine innere demokratische Dialektik. Secchia radikalisierte diese Formel sogar noch und ging soweit, von der „Ablösung von Führungsgruppen in einer normalen und dialektischen Weise“ zu sprechen. [8]

Obwohl das Recht auf Fraktionsbildung nie eingeführt wurde, repräsentierten die führenden Gremien der Partei die verschiedenen Tendenzen innerhalb der Organisation. Die Verschiedenheit beschränkte sich natürlich auf Differenzen über die Taktik in der Anpassung an den Reformismus; die prochinesischen Tendenzen in den sechziger Jahren, die versuchten, eine revolutionäre Kritik an der Partei zu entwickeln, erfreuten sich keiner solchen Nachsicht.

Die Diskussion in der Partei ermöglichte es jedoch, daß radikalere Strömungen weiter unten, an der Basis, auftauchten. Im November 1961 veröffentlichte die Wochenzeitung der Jugendorganisation der KP eine Fotografie Lenins, auf der die undeutlichen Konturen von Trotzki gerade noch zu erkennen waren; sie bezeichnete Trotzki als „eine der originellsten Figuren der Oktoberrevolution“ und provozierte damit eine stürmische Kontroverse.

 

Dänemark

Die dänische KP stellte ein interessantes Beispiel für das Geschick einer kleinen KP in den fünfziger Jahren dar. Die Partei wurde von Aksel Larsen geführt, einem sozialistischen Veteranen, ehemaligem Gießer und Gründungsmitglied der KP, der ein sehr großes persönliches Ansehen in der dänischen Arbeiterbewegung genoß und drei Jahre Konzentrationslager der Nazis überlebt hatte.

Larsen verurteilte die sowjetische Intervention in Ungarn und wurde von diesem Zeitpunkt an immer kritischer gegenüber der Sowjetunion. Im Mai 1957 forderte er die UdSSR auf, die Atomversuche einseitig zu beenden, und sympathisierte offen mit den Jugoslawen. Trotzdem blieb er bis zum November 1958 Generalsekretär, als unter sowjetischem Druck die orthodoxe Linie die Oberhand gewann und Larsen eine Niederlage erlitt.

Die linientreu Moskau-Orientierten siegten auf dem Parteitag, aber es war ein Pyrrhussieg, denn sie brachten dabei fast die Partei um. Larsens neue Partei, die Sozialistische Volkspartei vergrößerte ihren parlamentarischen Stimmanteil rapide auf Kosten der KP. Bei der Wahl von 1964 bekam sie 5,8% und 1966 10,9% der Stimmen, während der Anteil der KP von 3,1% 1957 auf 1,2% 1964 und 0,8% 1966 fiel. Larsen zog auch viele militante Gewerkschaftler der KP mit sich.

Larsen hatte mit der Sowjetunion gebrochen, nicht aber mit der Reform-Politik. Nach den Wahlen von 1966 wurde eine sozialdemokratische Minderheitsregierung gebildet, und die SVP verfügte über genügend Sitze, um sie an der Macht zu halten. 1967 schlugen die Sozialdemokraten angesichts einer Wirtschaftskrise vor, bestimmte, wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten zugestandene Lohnerhöhungen rückgängig zu machen. Unter der Parole „Rettet die Mehrheit der Arbeiterparteien!“ erklärten Larsen und die rechte Führung der SVP, daß sie diesem Versuch zustimmen würden, die Arbeiterklasse für den Weg aus der Krise bezahlen zu lassen. Sechs Abgeordnete der SVP weigerten sich, ihrer Führung zu folgen, und stürzten die Regierung. Es gab eine weitere Spaltung, und noch eine Partei wurde gegründet, die Linken Sozialisten. Das war keine politisch kohärente Organisation. In dieser Partei konnten sowohl reformistische wie ultralinke Positionen Platz finden. Aber es entwickelten sich auch einige revolutionäre Strömungen in ihr. Bis heute ist die dänische revolutionäre Linke jedoch nicht in der Lage, die KP herauszufordern, die, obwohl klein, einiges Gewicht in der Gewerkschaftsbürokratie hat.

 

Das übrige Europa

Für die kleineren KPs war die durch die Entstalinisierung und den Polyzentrismus ausgelöste Krise noch akuter. Hier existierte wirklich die Gefahr, daß der Parteiapparat schlicht als Public-Relations-Zentrale für die sowjetische Regierung enden würde. Gleichzeitig wurde zunehmend deutlich, daß die Präsenz der Parteien in der Arbeiterbewegung abnahm. 1956 war die westdeutsche KP soweit isoliert, daß man sie, ohne auf bedeutende Opposition zu stoßen, für illegal erklären konnte. Die belgische KP gab 1966 bekannt, daß sie nicht länger in der Lage sei, eine Tageszeitung herauszugeben. Im selben Jahr beschloß die österreichische KP, sich nicht mehr an Wahlen zu beteiligen. Außer dort, wo die Parteien immer noch eine Basis aufgrund irgendeiner örtlichen Aktivität hatten, wurde ihre bloße Existenzberechtigung immer fraglicher.

 

Anmerkungen

1. I. Deutscher: Russia, China and the West, London 1970, S.185

2. World News am 11. August 1956

3. France Nouvelle am 26. Juni 1954

4. France Nouvelle am 17. März 1956

5. Zit. in World News am 6. September 1958

6. France Nouvelle am 11. Mai 1959

7. Zit. in World News am 22. April 1961

8. Aus Perry Anderson’s Einleitung zu den im New Left Review abgedruckten Dokumenten über die Debatte (NLR 13/14, 1962, S.153)

 


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2001