Duncan Hallas

 

Die Rote Flut

 

2. Die Massenparteien

An die Kommunistische Internationale wenden sich jetzt immer öfter Parteien und Gruppen, die noch unlängst zur II. Internationale gehört haben und jetzt der III. Internationale beitreten wollen, in Wirklichkeit aber noch nicht kommunistische Organisationen geworden sind ... Die Kommunistische Internationale wird in einem gewissen Grade zur Mode ... Unter Umständen kann der Kommunistischen Internationale die Gefahr drohen, durch wankelmütige und halbschlächtige Gruppen verwässert zu werden, die sich von der Ideologie der II. Internationale noch nicht frei gemacht haben.

Lenin, Die Eintrittsbedingungen zu der Kommunistischen Internationale (1920) [1]

IM MÄRZ 1919 stimmte die Exekutive der italienischen Sozialistischen Partei dafür, der Partei den Anschluß an die Dritte Internationale zu empfehlen. Und im September stimmte der Parteikongreß in Bologna mit einer überwältigenden Mehrheit für den Anschluß. Die PSI war eine große und wachsende Organisation. Bei den Wahlen im November 1919 erhielt sie ein Drittel aller abgegebenen Stimmen und entsandte 156 Abgeordnete ins Parlament. Die norwegische Partei, die DNA, bestätigte ihre Mitgliedschaft, und die bulgarische, jugoslawische (ehemals serbische) und rumänische Parteien schlossen sich ebenfalls an.

Die ersten drei der letztgenannten Parteien waren bedeutende Organisationen. Die DNA, in der die Gewerkschaften, wie im Falle ihres britischen Gegenstücks, direkt Mitglied waren, beherrschte vollkommen die norwegische Linke. Die bulgarische Kommunistische Partei hatte von Anfang an die Unterstützung beinahe der gesamten bulgarischen Arbeiterklasse. Die jugoslawische Kommunistische Partei erhielt auf Anhieb bei den ersten (und einzigen) freien Wahlen, die in dem neuen Staat abgehalten wurden, 54 Parlamentssitze.

Die französische SFIO, die in der Zeit von 1914 bis 1919 ihre Mitgliedschaft von 90.000 auf 200.000 mehr als verdoppelt hatte, war weit nach links ausgeschlagen und flirtete mit Moskau. Ihre Führung wollte wirklich die internationale Bewegung auf der Basis der „Zimmerwalder Mehrheit“ aufbauen, aus der die ausgesprochenen Sozialpatrioten wie die Führer der britischen Labour Partei und der deutschen SPD ausgeschIossen, in der aber all diejenigen, die, wie sie selber, als Reaktion auf die massenhafte Unzufriedenheit einen scharfen Linksruck in Worten vollzogen hatten, einen Platz finden sollten.

Kurzgesagt, sie wollten eine zentristische Internationale. Das wollten auch die Führer der deutschen USPD, die schnell auf Kosten der SPD an Boden gewann. Die schwedischen linken Sozialdemokraten, der tschechoslowakische linke Flügel und kleinere Parteien in anderen Ländern (darunter auch die britische ILP) hatten im Grunde genommen die gleiche Linie. Aber der Druck aus ihren eigenen Reihen zwang sie, Lippenbekenntnisse für die Oktoberrevolution zu machen und Verhandlungen über die Zulassung zur Kommunistischen Internationale zu führen.

„Der Wunsch einiger führender zentristischer Gruppen, jetzt der III. Internationale beizutreten“ schrieb Lenin, „ist eine indirekte Bestätigung dafür, daß die Kommunistische Internationale die Sympathien der gewaltigen Mehrheit der klassenbewußten Arbeiter der ganzen Welt erobert hat und von Tag zu Tag zu einer immer größeren Macht wird.“ [2] Diese Parteien waren aber nicht revolutionäre kommunistische Organisationen. Ihre Traditionen waren die der Vorkriegssozialdemokratie, revolutionär in Worten, passiv in der Praxis. Und sie wurden von Menschen angeführt, die versuchen würden, jede Drehung und Wendung mitzumachen, bloß um die Kontrolle zu behalten und die Annahme einer wirklich revolutionären Strategie und Taktik zu verhindern.

Ohne das Hauptkontingent der Mitglieder dieser Parteien konnte die neue Internationale nicht darauf hoffen, einen entscheidenden Einfluß auf Europa in der nahen Zukunft ausüben zu können. Und, ohne mit ihren zentristischen Führern zu brechen, konnte sie nicht darauf hoffen, einen revolutionären Einfluß auszuüben. Bei den Massenparteien, die bereits der Komintern angeschlossen waren, stellte sich die Frage auch nicht viel anders. Die PSI zum Beispiel hatte Zentristen und sogar einige Vollblutreformisten in ihrer Führung.

Der Kampf gegen den Zentrismus wurde noch durch einen weiteren Faktor erschwert. Starke ultralinke Strömungen, die jede Beteiligung an den bürgerlichen demokratischen Institutionen ablehnen wollten, existierten in vielen der kommunistischen Organisationen. Und außerhalb ihrer Reihen waren einige bedeutende syndikalistische Gewerkschaftsorganisationen, die die Partei als das Instrument zur Durchsetzung des Sturzes des Kapitalismus ablehnten und stattdessen die Massenorganisierung der Arbeiter in den Gewerkschaften als Perspektive vertraten. Diese hatten sich zwar der Dritten Internationale angenähert, akzeptierten aber nach wie vor nicht die Notwendigkeit von kommunistischen Parteien.

Die spanische syndikalistische Föderation, die CNT, die damals etwa eine Million Mitglieder hatte, hatte im Dezember 1919 für den Anschluß gestimmt. Eine starke Minderheit in der französischen Gewerkschaftsföderation CGT war ebenfalls dafür. Weitere syndikalistische Gruppen, wie die amerikanische IWW, waren zweifelsohne revolutionär, und man hoffte, sie zu gewinnen. Diese großen Kräfte zu gewinnen und zu integrieren, war ein schwieriges und kompliziertes Unternehmen. Es erforderte einen Kampf an mehreren verschiedenen Fronten.

Auf dem zweiten Weltkongreß der Komintern im Juli-August 1920 diskutierten 217 Delegierte von 67 Organisationen aus etwa 40 Ländern diese verschiedenen Fragen. Zentristen und Ultralinke waren zahlreich vertreten. Sowohl die SFIO als auch die USPD hatten Vertretungen, die aber kein Stimmrecht besaßen. Die Entscheidungen des Kongresses waren von grundsätzlicher Bedeutung. Er fand statt auf dem Höhepunkt des Krieges zwischen dem revolutionären Rußland und Polen, als sich die Rote Armee Warschau näherte. In Deutschland war ein rechtes Unternehmen zur Gründung einer Militärdiktatur, der Kapp-Putsch, durch massenhafte Aktionen der Arbeiterklasse soeben zurückgeschlagen worden. In Italien stand eine Welle von Fabrikbesetzungen bevor. Die Stimmung des revolutionären Optimismus war stärker als je zuvor.

Sinowjew, Präsident der Internationale, erklärte: „Ich bin davon tief überzeugt, daß der II. Weltkongreß der Vorläufer eines anderen Weltkongresses ist – des Weltkongresses der Sowjetrepubliken.“ [3] Alles, was fehlte, waren wirkliche kommunistische Massenparteien, um die Bewegung zum Sieg zu führen.

 

 

Die 21 Bedingungen

Wie es dem Kamel nicht leicht ist, durch ein Nadelöhr zu gehen, so wird es, hoffe ich, auch den Anhängern des Zentrums, die immer solche bleiben werden, nicht leicht sein, durch diese von der Kommunistischen Internationale aufgestellten 21 Bedingungen durchzuschlüpfen. Wir haben diese Bedingungen deshalb aufgestellt, damit die in den Reihen der Französischen Sozialistischen Partei, der USPD und der amerikanischen sowie der Italienischen Sozialistischen Partei stehenden Arbeiter, überhaupt alle organisierten Arbeiter wissen, was der internationale Stab der proletarischen Revolution von ihnen verlangt.

Sinowjew, Rede vor dem Zweiten Weltkongreß [4]

DIE ZWEITE INTERNATIONALE war ein loser Zusammenschluß von nationalen Parteien gewesen. Die Dritte sollte eine zentralisierte Weltpartei mit nationalen Abteilungen sein. „Dabei müssen selbstverständlich die Kommunistische Internationale und ihr Exekutivkomitee in ihrer gesamten Tätigkeit den verschiedenartigen Verhältnissen Rechnung tragen, unter denen die einzelnen Parteien zu kämpfen und zu arbeiten haben, und Beschlüsse von allgemeiner Gültigkeit nur in solchen Fragen fassen, in denen solche Beschlüsse möglich sind.“ [5]

Die verschiedenen nationalen Programme sollten sich auf das Programm der Internationale stützen und von der Internationale genehmigt werden. Alle Entscheidungen, nicht nur die der Kongresse, sondern auch die der Kominternleitung zwischen den Kongressen, sollten für alle Parteien verbindlich sein. Das war der Kern der 15. und 16. Bedingung für den Beitritt zur Dritten Internationale, die die Exekutive vorschlug.

Im Lichte späterer Ereignisse haben viele Kritiker in diesen Bedingungen den Kern der späteren Degeneration erblickt. Sie seien festgelegt worden, so wird argumentiert, bloß um die russische Vorherrschaft sicherzustellen, um es den Russen zu ermöglichen, die internationale Bewegung in ihrem eigenen Interesse zu manipulieren. Die zentristischen Kritiker an den Bedingungen vertraten dieses Argument auf dem zweiten Kongreß allerdings nicht. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Nach der Erfahrung des 1914–18er Kriegs konnte kein Redner vor einer Versammlung von Revolutionären die Methoden und Praktiken der Zweiten Internationale verteidigen. Alle, außer den Syndikalisten, sollten zumindest Lippenbekenntnisse für die Ideale der internationalen Einheit und einer Weltpartei ablegen.

Darüberhinaus erwartete jeder, und nicht zuletzt die Russen selbst, daß die außerordentliche Stellung der russischen Partei als einziger an der Macht nur eine vorübergehende Sache sein werde. Kurz vor dem Kongreß betonte Lenin, nicht „außer acht zu lassen, daß nach dem Sieg der proletarischen Revolution, sei es auch nur in einem der fortgeschrittenen Länder, aller Wahrscheinlichkeit nach ein jäher Umschwung eintreten, daß nämlich Rußland bald danach nicht mehr ein vorbildliches, sondern wieder ein (im ‚sowjetischen‘ und im sozialistischen Sinne) rückständiges Land sein wird.“ [6]

Die Bedingungen, gegen die insbesondere die USPD-Delegierten am meisten wetterten, waren jene, die „den vollen Bruch mit dem Reformismus und mit der Politik des ‚Zentrums‘„ [7] und den Ausschluß einer Reihe namentlich genannter „berüchtigter Opportunisten“ darunter Karl Kautsky und Rudolf Hilferding von der USPD, Turati und Modigliani von der (angeschlossenen) PSI, Jean Longuet von der SFIO und Ramsay MacDonald, einem zukünftigen britischen Premierminister, von der ILP, forderten. „Sie übersehen vollkommen“ argumentierte Crispien für die USPD, „daß wir uns von den Rechtssozialisten getrennt haben, daß wir nicht vor der Spaltung zurückgeschreckt sind, als sie historisch unvermeidlich war. Man soll jedoch mit der Spaltung nicht zu leicht operieren. Ich kann mir vorstellen, daß eine Spaltung notwendig sein kann. Beweis: die USP in Deutschland. Aber das ist eine bittere Notwendigkeit. Man soll, bevor man spaltet, die Arbeiter für eine grundsätzliche klare Haltung zu gewinnen versuchen. Dazu muß man Zeit und Geduld haben. Spalten kann man die Arbeiter viel leichter, als sie für die Revolution in Deutschland gewinnen und zusammenhalten.“ [8]

Die zentristischen Führer waren bereit, sehr radikale Töne von sich zu geben. „Wir haben auf dem Parteitag im März zur Situation Stellung genommen“ sagte Crispien, „und schon damals in unserem Programm die Diktatur des Proletariats ganz klar ausgesprochen und formuliert. Auch wir haben damals schon betont: Der Parlamentarismus bringt uns nicht den Sozialismus.“ [9]

Die USPD weigerte sich allerdings, die 21 Bedingungen zu akzeptieren, weil das einen Bruch mit dem eigenen rechten Flügel bedeutet hätte. Daß die USPD Anfang 1919 mit der SPD kollaboriert hatte, um die Weimarer Republik zu schaffen; daß diese Operation ohne die Zusammenarbeit der USPD weitaus schwieriger, wenn nicht gar unmöglich gewesen wäre; daß der Revolutionismus der meisten USPD-Führer bloß verbaler Natur war, das alles wurde geflissentlich übergangen.

Die USPD war natürlich eine sehr heterogene Partei. Sogar in der Führung fanden sich einige, deren subjektive politische Ideen revolutionär waren. Aber diese Führung darf nicht nach ihren Worten, oder gar nach ihren guten Absichten beurteilt werden, sondern nach ihren Taten in den entscheidenden Monaten von November und Dezember 1918.

Am 10. November 1918 ernannten dreitausend Delegierte der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte einen Rat von Volkskommissaren als provisorische Regierung von Deutschland. Es waren Ebert, Scheidemann und Landsberg von der SPD, und Barth, Dittmann und Haase von der USPD. Es gab keine andere Regierung. Der letzte Kanzler des kaiserlichen Deutschlands, Prinz Max von Baden, hatte seine Regierung am 9. November aufgelöst und Ebert zu seinem Nachfolger ernannt. Am Abend des 10. rief General Groener, der neue Stabschef des Heeres, bei Ebert an und „stellte das Heer der neuen Regierung zur Verfügung“.

All diese Handlungen, von von Baden und von Groener nicht weniger als die der Berliner Delegierten, waren ganz und gar ungesetzlich. Es gab eine Revolution. Das alte Regime war zusammengebrochen. Von Baden sah keine andere Hoffnung für die deutsche Bourgeoisie außer der SPD. Und Groener hatte keine Hoffnung, das Heer zusammenhalten zu können, außer durch die SPD. In Wirklichkeit, und das ist von zentraler Bedeutung, löste sich das Heer trotzdem auf. Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes mit den westlichen Alliierten am II. November führte der deutsche Generalstab die gesamte westliche Front, zwei Millionen Soldaten, zurück über den Rhein. Einmal über den Fluß gelangt, so Groeners eigene Worte, „schmolzen die Einheiten einfach weg“. Der Kern der Staatsmaschinerie löste sich auf.

Nun bemühten sich die SPD-Führer von Beginn an, diese Staatsmaschinerie wieder herzustellen. Ihre zwei zentralen Entscheidungen waren die Einberufung einer Nationalversammlung und die Schaffung eines kleinen, neuen Freiwilligenheeres unter rechten Offizieren, das dann gegen die revolutionäre Linke im Januar 1919 eingesetzt wurde. Die USPD-Führer – die Hälfte der Regierung – unterstützten erstere Entscheidung und bekämpften, trotz aller Ablehnung, die zweite Entscheidung nicht.

Das waren die zentristischen Führer, die es mit Hilfe der 21 Bedingungen auszuschließen galt. Angesichts ihrer jüngsten Vergangenheit ist es kristallklar, daß keine Selbstverpflichtung zur Arbeitermacht oder irgendetwas anderes seitens dieser Führer den geringsten Wert gehabt hätte. Ein Bruch war unbedingt notwendig. Glücklicherweise stellten sich zwei der drei USPD-Führer auf dem Kongreß offen dagegen – und erleichterten damit eine scharfe Debatte.

Die französischen Zentristen verfolgten eine andere Taktik. Ihr wichtigster Sprecher war der berüchtigte Opportunist Marcel Cachin. Cachin war nicht nur ein heißer Befürworter des Ersten Weltkriegs bis 1917 gewesen, sondern hatte sich auch als Agent der französischen Regierung bemüht, einen Pro-Kriegsflügel in der italienischen Sozialistischen Partei zu schaffen, wobei er mit dem Renegaten (und zukünftigen faschistischen Diktator) Benito Mussolini zusammengearbeitet hatte. Cachin war bereit, alles zu versprechen. „Wir sind voll und ganz damit einverstanden ... Wir sind überzeugt, daß unser Freund Longuet, falls er hier sein könnte, nach einigem Nachdenken der gleichen Ansicht sein würde wie wir. [Longuet war ein erklärter Gegner der Bolschewiki, D.H.]. Wir werden als Träger Eurer Bedingungen nach Frankreich zurückkehren.“ [10]

Eine Partei unter der Führung von Longuet, Cachin, Frossard und deren Freunden würde niemals eine revolutionäre Partei sein, egal welche Versprechungen sie machte. Offensichtlich würde es nicht so einfach sein, wie es sich Sinowjew vorgestellt hatte, die zentristischen Kamele daran zu hindern, durch das Nadelöhr zu gelangen. Aus diesem Grunde kritisierten eine Anzahl von linken Delegierten scharf die Kominternführung dafür, daß sie überhaupt die Anwesenheit von Zentristen geduldet hatte. Lenin war anderer Meinung. „Wenn Kautsky gegen uns auftritt und Bücher schreibt, so polemisieren wir mit ihm wie mit einem Klassenfeind. Wenn aber die Unabhängige Sozialdemokratische Partei, die dank dem Zustrom revolutionärer Arbeiter gewachsen ist, hier erscheint, um Verhandlungen zu führen, so müssen wir mit ihren Vertretern sprechen, denn sie vertreten einen Teil der revolutionären Arbeiter.“ [11]

Nach dem Kongreß konnten diese Arbeiter leichter erreicht werden. Nach einer intensiven Debatte in den Reihen der Partei wurden die USPD-Führer gezwungen, einen Kongreß in Halle im Oktober einzuberufen, um den Anschluß an die Komintern zu beraten. Die Linken gewannen mit 236 Stimmen gegen die Rechten. Die Rechten spalteten sich ab. Die neue Partei zählte nach der Vereinigung mit der ursprünglichen, 1919 gegründeten deutschen Kommunistischen Partei (KPD) etwa 350.000 Mitglieder. Die Komintern besaß nun eine Massenpartei in dem wichtigsten Land Europas.

Im Dezember stimmte der Tours-Kongreß der französischen SFIO mit einer drei-zu-eins Mehrheit (3.208 Stimmen gegen 1.022) für den Anschluß und die Annahme der 21 Bedingungen. Die daraus entstehende neue französische Kommunistische Partei (PCF) begann mit 150.000 Mitgliedern. Aber, obwohl sich die kompromißloseren Rechten unter der Führung von Longuet und Blum abgespalten hatten, um die SFIO erneut zu gründen, wurde die PCF selbst von „umgemodelten“ Zentristen wie Frossard und Cachin angeführt. Spätere Ereignisse sollten zeigen, daß diese Ummodelung nur hautdünn war.

Im gleichen Dezember 1920 spaltete sich die tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei; die kommunistische Linke nahm über die Hälfte der Mitgliedschaft mit und gründete eine hunterttausendstarke Kommunistische Partei. Eine weitere Spaltung in der sozialdemokratischen Partei der deutschsprachigen Minderheit in der Tschechoslowakei (Sudetenland) führte weitere Kräfte hinzu, und nach deren Vereinigung zählte die Partei 170.000 Mitglieder.

Anfang 1921 hatten die der Komintern angeschlossenen Parteien die Unterstützung der Mehrheit der politisch bewußten Arbeiter in sechs europäischen Ländern (Frank- reich, Italien, Norwegen, Bulgarien, Jugoslawien und der Tschecheslowakei) und einer beträchtlichen Minderheit in weiteren Ländern (Deutschland, Schweden und Polen). Die wichtigste Ausnahme bildete Großbritannien, wo die 1920 gegründete Kommunistische Partei vielleicht 3.000 wirkliche Mitglieder hatte (obwohl sie 10.000 beanspruchte) und noch keine ernsthafte Kraft bildete.

An dieser Stelle ist es nützlich, uns einige weitere Punkte unter den 21 Bedingungen anzuschauen. „Alle Presseorgane der Partei müssen von zuverlässigen Kommunisten geleitet werden ...“, wurde unter anderem festgehalten. „Die periodische und nichtperiodische Presse und alle Parteiverlage müssen völlig dem Parteivorstand unterstellt werden, ohne Rücksicht darauf, ob die Partei in ihrer Gesamtheit in dem betreffenden Augenblick legal oder illegal ist. Es ist unzulässig, daß die Verlage ihre Selbständigkeit mißbrauchen und eine Politik führen, die der Politik der Partei nicht ganz entspricht.“ [12] Diese Bedingung zielte sich auf die notorische Art, in der in vielen sozialdemokratischen Individuen mit Geld oder wohlhabende Anhänger angebliche Parteipublikationen leiteten, die keiner Kontrolle durch die Partei Unterlagen und sich für gewöhnlich kleinbürgerlichen Vorurteilen anpaßten.

Eine weitere Bedingung erklärte „kein Vertrauen zu der bürgerlichen Legalität“: „... wo Kommunisten ... nicht die Möglichkeit haben, ihre gesamte Arbeit legal zu führen, ist die Kombinierung der legalen mit der illegalen Tätigkeit unbedingt notwendig.“

Und weiter: „Jede Partei, die der Kommunistischen Internationale anzugehören wünscht, ist verpflichtet, nicht nur den offenen Sozialpatriotismus, sondern auch die Unaufrichtigkeit und Heuchelei des Sozialpazifismus zu entlarven: den Arbeitern systematisch vor Augen zu führen, daß ohne revolutionären Sturz des Kapitalismus keinerlei internationale Schiedsgerichte, keinerlei Abkommen über Einschränkung der Kriegsrüstungen, keinerlei ‚demokratische‘ Erneuerung des Völkerbundes imstande sein werden, neue imperialistische Kriege zu verhüten.“ [13] Das moderne Gegenstück zum Völkerbund sind die Vereinten Nationen.

„Jede Partei ... muß systematisch und beharrlich eine kommunistische Tätigkeit innerhalb der Gewerkschaften, der Arbeiter- und Betriebsräte, der Konsumgenossenschaften und anderer Massenorganisationen der Arbeiter entfalten. Innerhalb dieser Organisationen ist es notwendig, kommunistische Zellen zu organisieren, die durch andauernde und beharrliche Arbeit die Gewerkschaften usw. für die Sache des Kommunismus gewinnen sollen.“ [14] Dieser Punkt richtete sich natürlich gegen die Ultralinken in den Kommunistischen Parteien – aber es lohnt sich hier festzuhalten, daß das Problem der Arbeiterbürokratien als eine konservative Schicht innerhalb der Massenorganisationen der Arbeiter nicht gesondert untersucht wird.

„Die der Kommunistischen Internationale angehörenden Parteien müssen auf der Grundlage des Prinzips des demokratischen Zentralismus aufgebaut werden. In der gegenwärtigen Epoche des verschärften Bürgerkrieges wird die kommunistische Partei nur dann imstande sein, ihrer Pflicht zu genügen, wenn sie auf möglichst zentralistische Weise organisiert ist, wenn eiserne Disziplin in ihr herrscht und wenn ihr Parteizentrum, getragen vom Vertrauen der Parteimitgliedschaft, mit der Fülle der Macht, Autorität und den weitgehendsten Befugnissen ausgestattet wird.“ [15]

Der Schlüsselsatz hier ist: „getragen vom Vertrauen der Parteimitgliedschaft“, denn Disziplin in einer revolutionären Partei ist zu 90 Prozent eine Frage der Überzeugung. Diese Bedingung zielte in erster Linie auf Parlamentsabgeordnete, Stadträte, Gewerkschaftsfunktionäre und andere relativ privilegierte Leute innerhalb der Partei „ Eine Organisation, die sie nicht zwingt, sich der Parteidisziplin unterzuordnen – bzw. sie nicht ausschließt, wenn sie das nicht tun –, ist keine revolutionäre sozialistische Organisation.

Natürlich hängt die Betonung auf Demokratie zu einem bestimmten Zeitpunkt, und auf den Zentralismus zu einem anderen von den Erfordernissen der Situation ab. Wer entscheidet, was diese Erfordernisse sind? Es kann kein einfaches Verlassen auf eine „unfehlbare“ Führung geben, denn sowas gibt es einfach nicht. Die Aufgabe besteht darin, eine Schicht von erfahrenen Mitgliedern innerhalb der Partei – die „Kader“ – zu entwickeln, die fähig sind zu urteilen. Das erfordert aber Zeit – etwas, worüber die Kominternparteien in ihren entscheidenden Anfangsjahren nur in sehr begrenztem Maße verfügten.

Weitere Bedingungen bezogen sich auf die Arbeit unter den bewaffneten Kräften und der Bauernschaft, auf die Kolonien und die internationalen Gewerkschaftsvereinigungen. Sie werden später behandelt.

In der Praxis entsprachen die neuen kommunistischen Massenparteien nicht einmal annähernd dem Modell, das in den 21 Bedingungen skizziert wurde. Aber ihre bloße Existenz war schon ein riesiger Schritt vorwärts.

Im Sommer 1920 schienen weitere Kräfte, die großen syndikalistischen Organisationen in Frankreich und Spanien und einige kleinere anderswo, sich dem Einfluß der Komintern zu öffnen. Sie mußten allerdings noch von der Notwendigkeit der revolutionären Partei überzeugt werden. Eine wichtige Debatte auf dem zweiten Weltkongreß betraf die Natur der revolutionären Partei und die syndikalistischen Einwände dagegen.

 

 

Die Rolle der Partei

Die Kommunistische Internationale verwirft auf das entschiedenste die Ansicht, als könne das Proletariat seine Revolution vollziehen, ohne eine selbständige politische Partei zu haben. Jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf. Das Ziel dieses Kampfes, der sich unvermeidlich in einen Bürgerkrieg verwandelt, ist die Eroberung der politischen Macht. Die politische Macht kann nicht anders ergriffen, organisiert und geleitet werden als durch irgendeine politische Partei.

Resolution zum Zweiten Weltkongreß [16]

„ES KANN JA ZIEMLICH MERKWÜRDIG erscheinen, daß ein Dreiviertel-Jahrhundert nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes auf einem internationalen kommunistischen Kongreß die Frage aufgeworfen wird, ob Partei oder keine Partei“, sagte Trotzki. „Wir sehen andererseits, daß gerade ... die Parteien der II. Internationale ... uns hier zwingen, die Frage aufzuwerfen, ob Partei oder keine Partei.“ [17]

Die revolutionären Syndikalisten identifizierten politische Parteien mit Parlamentarismus – und identifizierten die Teilnahme an Parlamenten mit Opportunismus und Verrat. Ihre Alternative war das militante Gewerkschaftertum auf der Basis der direkten Aktion, das schließlich in den revolutionären Generalstreik münden würde. Ihrer Ansicht nach waren Parteien nicht nur nicht notwendig, sie bedeuteten ein regelrechtes Handikap für die Arbeiterklasse. Der Verrat von 1914 war der Beweis.

„Auf den Geist der Gewerkschaften kommt es an, der Geist soll ein revolutionärer sein ...“ sagte Pestaña, Delegierter der spanischen CNT. „Die Hauptsache ist, daß die Gewerkschaften als solche revolutionär und kampffähig und solche Organisationen sind, die den Kampf und die Revolution beschleunigen.“ [18]

Jack Tanner, ein zukünftiger Präsident der britischen Metallarbeitergewerkschaft, der aber auf dem Kongreß für die britische Vertrauensleute- und Arbeiterkomiteebewegung sprach, entwickelten das Argument weiter. „Die meisten aktiven Männer in der Shop-Steward-Bewegung sind ehemalige Mitglieder von politischen sozialistischen Parteien, haben sie aber verlassen, weil sie der Meinung waren, daß sie sich nicht entlang des richtigen Weges entwickelten ... Es kommt nicht in Frage, daß wir wie reuige Sünder zur Herde zurückkehren ... Jetzt werden Anstrengungen unternommen, um die Arbeiter dazu zu bringen, auf das Parlament zurückzugreifen, obwohl alle darin übereinstimmen, daß es so schnell wie möglich abgeschafft werden muß ... Ihr werdet nur auf Ablehnung bei den klassenbewußten Arbeitern in der Frage der Mitgliedschaft in der Labour Party stoßen.“ [19]

Die russischen Führer legten großen Wert auf die Gewinnung der Syndikalisten als ein revolutionäres Gegengewicht zu den zentralistischen Zauderern, die in die Komintern reinschlüpften. „Weil ich weiß, daß eine Partei notwendig ist ... und weil ich einerseits Scheidemann und andererseits einen amerikanischen, einen spanischen, einen französischen Syndikalisten habe, der nicht nur das Bürgertum zu bekämpfen gewillt ist, wie es auch Scheidemann gewillt war, sondern auch wirklich ihm den Kopf abreißen will“, erklärte Trotzki, „ziehe ich es vor, mit diesem spanischen, amerikanischen und französischen Kameraden mich auseinanderzusetzen ... die Notwendigkeit der Partei zu beweisen. Ich werde ihn kameradschaftlich belehren, mich dabei auf meine Erfahrung stützen, ihm aber nicht die große Erfahrung von Scheidemann gegenüberstellen und sagen: für die Mehrheit ist diese Frage schon gelöst.“ [20]

Sinowjew betonte den Unterschied zwischen einer sozialdemokratischen und einer kommunistischen Partei. „Wir brauchen keine Parteien, die das einfache Prinzip haben, möglichst viele Mitglieder um sich zu sammeln, die zu kleinbürgerlichen Parteien werden ... Wir brauchen nicht Parteien, die z.B. bei den Wahlen Kandidaten aufstellen, die erst gestern zur Partei gekommen sind. Wir brauchen nicht Parlamentsfraktionen, in denen wir statt Arbeitern 46 Professoren, 45 Advokaten oder noch mehr haben ... Da ist es zu verstehen, daß auch dort ganz gute Revolutionäre sagen: besser gar keine Partei als eine solche Partei.“ [21]

Auf demselben Kongreß berichtete Bucharin: „Wenn wir die französische Partei betrachten, haben wir folgende Zahlen: 68 Parlamentarier, unter ihnen 40 ausgesprochene Reformisten innerhalb der schon opportunistischen Partei und 26 vom Zentrum, – nicht in unserem Sinne des Wortes, sondern das Wort bedeutet hier das Zentrum der französischen Partei ... Was die Kommunisten betrifft, so haben sie vielleicht 2 Stimmen. In der norwegischen Partei ... hat die parlamentarische Fraktion 19 Mitglieder ... 2 sind Kommunisten.“ [22]

Die kommunistische Organisation, die die Komintern vorschlug, betonte Sinowjew, war eine ganz andere. „In jedem Betriebe sollen die besten Leute Mitglieder unserer Partei sein. Sie werden am Anfang freilich in der Minderheit sein, aber da sie ein klares Programm haben, da sie die aufgeklärtesten sind, da die Arbeiter Vertrauen zu ihnen haben, so werden sie zur gegebenen Stunde sofort zu Führern der Massenbewegung werden. Der Kampf, der sich vorbereitet, ist ein riesiger ... Nicht formlose Arbeiterunionen, die von der Hand in den Mund leben, sondern eine Partei, die die Besten aus der Arbeiterklasse umfaßt, die im Verlauf von Jahrzehnten sich organisiert und die einen festen Keim bildet, wird der Arbeiterklasse den richtigen Weg zeigen. Es handelt sich darum, daß wir die Vorhut der Arbeiterklasse organisieren, damit sie in diesem Kampfe die Massen wirklich leiten kann ... [wir brauchen] einen Generalstab, eine zentralisierte Partei ... wir sollen Schritt für Schritt arbeiten, um die besten Elemente der Arbeiterklasse in unsere Reihen zu bekommen.“ [23]

Der Kern der Sache wurde in den vom Kongreß angenommenen „Leitsätzen“ über die Parteifrage zusammengefaßt. „Die Begriffe Partei und Klasse müssen strengstens auseinandergehalten werden. Die Mitglieder der ‚christlichen‘ und liberalen Gewerkschaften Deutschlands, Englands und anderer Länder sind zweifellos Teile der Arbeiterklasse. Die noch hinter Scheidemann, Gompers und Konsorten stehenden mehr oder minder bedeutenden Arbeiterkreise sind zweifellos Teile der Arbeiterklasse. Unter gewissen historischen Verhältnissen ist es sehr wohl möglich, daß die Arbeiterklasse von sehr zahlreichen reaktionären Schichten durchsetzt ist. Die Aufgabe des Kommunismus besteht nicht in der Anpassung an diese zurückgebliebenen Teile der Arbeiterklasse, sondern darin, die gesamte Arbeiterklasse bis zum Niveau des kommunistischen Vortrupps zu heben ...

Die revolutionären Syndikalisten sprechen oft von der großen Rolle einer entschlossenen revolutionären Minderheit. Nun, eine wirklich entschlossene Minderheit der Arbeiterklasse, eine Minderheit, die kommunistisch ist, die handeln will, die ein Programm hat, die den Kampf der Massen organisieren will, ist eben die kommunistische Partei.“ [24]

Eine Reihe wichtiger syndikalistischer Führer, insbesondere die Franzosen Monatte und Rosmer, wurden gewonnen. Es war aber klar, daß eine Mitgliedschaft der syndikalistischen Gewerkschaftsorganisationen als solche keine reale Möglichkeit war. Zum Teil wurde die Rote Gewerkschaftsinternationale später gerade deshalb aufgebaut, um diese Schwierigkeiten zu überwinden

 

 

„Keine Kompromisse, keine Manöver“

Ein Rezept oder allgemeine Regel, brauchbar für alle Fälle („keinerlei Kompromisse“), fabrizieren zu wollen, wäre Unsinn. Man muß selbst einen Kopf auf den Schultern haben, um sich in jedem einzelnen Fall zurechtzufinden. Gerade darin besteht unter anderem die Bedeutung der Parteiorganisation und der Parteiführer, die diesen Namen verdienen, daß man durch langwierige, hartnäckige, mannigfaltige, allseitige Arbeit aller denkenden Vertreter der gegebenen Klasse die notwendigen Kenntnisse, die notwendigen Erfahrungen, das – neben Wissen und Erfahrung – notwendige politische Fingerspitzengefühl erwirbt, um komplizierte politische Fragen schnell und richtig zu lösen.

Lenin, Der „linke Radikalismus“ [25]

IM SPÄTEREN DEZEMBER 1918 hatte der nationale Kongreß der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte mit 344 Stimmen zu 98 beschlossen, die Wahl einer Nationalversammlung zu erlauben. Die SPD-Führer, die diese, für die Arbeiterräte wahrlich selbstmörderische Linie, durchsetzten, genossen zu jenem Zeitpunkt zweifelsohne die Unterstützung einer breiten Mehrheit der Arbeiterklasse. Fast unmittelbar danach hielt die deutsche Kommunistische Partei (KPD) ihren Gründungskongreß ab. Mit einer großen Mehrheit von 62 zu 23 entschied sie sich, die Wahlen zu boykottieren.

In dieser Debatte waren jene KPD-Delegierte, die aus der Führung des ehemaligen Spartakusbundes stammten, fast ausnahmslos für eine Beteiligung. Rosa Luxemburg argumentierte: „Wir möchten unsere Taktik ... einstellen auf alle Eventualitäten, auch auf die revolutionäre Ausnutzung der Nationalversammlung, wenn sie zustande kommt.“ [26]

Es war natürlich möglich, eine gewisse Rechtfertigung für den Boykott in den damals herrschenden Zuständen zu suchen. Man hätte argumentieren können, daß die Arbeiter- und Soldatenräte immer noch bestanden und aufrechterhalten werden könnten; daß die SPD schnell an Boden verlor; daß ihre Mehrheit in den Räten in Bälde umgeworfen werde; daß ein massenhafter Aufstand gegen die SPD-USPD-Regierung in der nächsten Zukunft möglich sei. Ein solches Argument hätte zwar eine falsche Interpretation der Situation dargestellt, es wäre aber nicht absurd gewesen.

Die Befürworter eines Wahlboykotts griffen allerdings nicht auf solche Argumente zurück. Für sie war ein solches Kalkül irrelevant. Sie waren für Arbeiterräte und gegen das Parlament. Deshalb wollten sie nichts zu tun haben mit irgendeinem Parlament. Anders zu handeln, würde die Arbeiter nur verwirren: „Demzufolge ist jeder Kompromiß mit anderen Parteien, jede Rückkehr zu den historisch und politisch erledigten Kampfformen des Parlamentarismus, jede Politik des Lavierens und Paktierens mit aller Entschiedenheit abzulehnen“ [27], schrieb eine Gruppe von Boykottlern wenig später.

In wessen Augen politisch überlebt? Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 9. Januar 1919 erhielt die SPD elfeinhalb Millionen Stimmen, überwiegend die Stimmen von arbeitenden Männern und Frauen (es waren die ersten Wahlen in Deutschland auf der Basis des allgemeinen Stimmrechts). Der Parlamentarismus hatte sich sicherlich überlebt vom Standpunkt der wenigen tausend Mitglieder der KPD und sogar, zur damaligen Zeit, eines breiteren Kreises von Militanten der Arbeiterklasse, insgesamt vielleicht einiger hunderttausend. Er hatte sich aber offensichtlich nicht überlebt vom Standpunkt der Millionen Arbeiter, die für die SPD oder die USPD stimmten.

Die Ultralinken gingen davon aus, daß das, was dem fortgeschrittenen Militanten klar war, auch den Arbeitern im allgemeinen klar sein mußte, und daß diejenigen, die das nicht akzeptierten, entweder korrumpierte Schufte waren, oder aber Schafe, die bloß auf die richtige Anleitung warteten. Das war die Grundeinstellung der jungen Militanten, die sich mit der Handvoll alter Spartakisten zusammengetan hatten, um die KPD zu gründen. Ein solches Verständnis führte zu einer Politik des Abenteuertums, das abwechselnd vom Abstentionismus abgelöst wurde.

Am 5. Januar 1919 versuchte die nach wie vor winzige KPD, mit der Unterstützung örtlicher Sektionen der USPD, die Macht in Berlin zu übernehmen. Dieser Aufstand, der später als der Spartakusaufstand bekannt wurde, war nicht im voraus auf der Basis einer Einschätzung der Kräfteverhältnisse geplant worden. Er war die spontane Reaktion von KPD- und einigen USPD-Militanten auf das Vorhaben der Regierung, Emil Eichhorn, ein linkes USPD-Mitglied, das während der Novemberrevolution von 1918 zum Chef der Berliner Polizei wurde, von seinem Posten abzusetzen. Die Absetzung war eine kalkulierte Provokation.

Luxemburg, Liebknecht und die Mehrheit der nationalen Parteiführung waren gegen den Aufstand. Liebknecht änderte dann seine Meinung. Die anderen wurden überrumpelt und nahmen, widerwillig, die Führung ein. Die Revolutionäre hatten einige militärische Unterstützung, insbesondere die 3.000 bewaffneten Matrosen aus Kiel, aber sie waren eine eindeutige Minderheit im immer noch bestehenden Berliner Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten.

Mangels einer mehrheitlichen Unterstützung sogar in der Berliner Arbeiterschaft wurde der Aufstand schnell unterdrückt. Ebert, Scheidemann und Noske, die SPD-Führer, verliehen den hastig wieder aufgebauten rechten Armeeinheiten unter der Leitung ehemaliger Reichsoffiziere die nötige „sozialistische“ und „republikanische“ Rechtmäßigkeit. Bei den nachfolgenden Repressionen wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet.

Die KPD, oder besser gesagt ihre örtliche Führung in München, verhielt sich besser während der kurzlebigen Bayerischen Sowjetrepublik, die drei Monate später ausgerufen wurde (vom 7. April bis zum 1. Mai 1919). Sie sprach sich gegen die Gründung der Republik aus, in der richtigen Annahme, daß es sich um ein Abenteuer mit sehr unzureichender Unterstützung handelte, und übernahm die Führung erst dann, nachdem die Koalition aus Anarchisten, USPD-Leuten und einigen SPD-Anhängern (die die „Regierung“ bildeten) zusammengebrochen war. Als Ergebnis der Niederlage wurde Bayern „das Land mit ständigem Ausnahmezustand, der jeden Versuch sozialistischer Organisation verhinderte. Die Kommunistische Partei wurde illegal. Die Führer, die nicht in den ersten Tagen [der Konterrevolution] erschossen worden waren, wurden von Zivilgerichten zu langen Gefängnisstrafen verurteilt ...“ [28] Die örtlichen KPD-Führer konnten für diesen Ausgang kaum verantwortlich gemacht werden. sie hatten alles getan, was sie tun konnten.

Aber sie waren nicht typisch für die Mitgliedschaft auf nationaler Ebene. Was Lenin die „Kinderkrankheit des linken Radikalismus“ nannte, war kräftig am Gedeihen. Eine Mehrheit der Partei war nicht nur gegen Wahlbeteiligung; sie war genauso gegen die Arbeit in den bestehenden Gewerkschaften. „Für die Erfassung weitester proletarischer Kreise und Schichten, die in dem revolutionären Kampf unter Führung der Kommunistischen Partei aufzumarschieren haben“, erklärte die vorhin zitierte Gruppierung, „sind neue Organisationsformen auf breitester Basis und mit weitestem Rahmen zu treffen. Dieses Sammelbecken aller revolutionären Elemente ist die in den Betriebsorganisationen verankerte Arbeiter-Union. In ihr finden sich alle Proletarier zusammen, die dem Rufe: Heraus aus den Gewerkschaften! gefolgt sind. Hier formiert sich das Proletariat in breitester Schlachtreihe. Das Bekenntnis zum Klassenkampf, zum Rätesystem und zur Diktatur genügt für die Einreihung.“ [29]

Gegen diesen „alten, längst bekannten Plunder“ hatte Lenin, kurz vor dem 1920er Kongreß der Komintern, eine seiner kräftigsten Polemiken geschrieben unter der Überschrift Der „Linke“ Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus. Auf dem Kongreß selbst wurde eine klare Linie gegen den Abstentionismus eingenommen: „... Die Kommunisten in allen Ländern [müssen] in die Gewerkschaften eintreten, um aus ihnen bewußte Kampforgane zum Sturze des Kapitalismus und für den Kommunismus zu machen ... Jedes freiwillige Fernbleiben von der Gewerkschaftsbewegung, jeder künstliche Versuch der Schaffung von besonderen Gewerkschaften ... stellt eine riesige Gefahr für die kommunistische Bewegung dar.“ [30]

Den Kampf gegen den Zentrismus im Auge behaltend bekräftigten die vom Kongreß angenommenen „Leitsätze“ über den Parlamentsboykott: „Die Form der proletarischen Diktatur ist die Sowjetrepublik ... Die Aufgabe des Proletariats besteht darin, die Staatsmaschine der Bourgeoisie zu sprengen, sie zu zerstören ... Folglich verneint der Kommunismus den Parlamentarismus als Form der Zukunftsgesellschaft. Er verneint die Möglichkeit, die Parlamente dauernd zu erobern; er setzt sich die Zerstörung des Parlamentarismus zum Ziel.“ [31]

Auf der anderen Seite ist „der prinzipielle ‚Antiparlamentarismus‘ in dem Sinne absoluter und kategorischer Ablehnung der Teilnahme an den Wahlen und der revolutionären parlamentarischen Tätigkeit ... eine naive kindische Doktrin unter jeder Kritik, eine Doktrin, die ... nicht zugleich die Möglichkeit eines revolutionären Parlamentarismus sieht... Boykott der Wahlen oder der Parlamente, sowie Austritt aus den letzteren ist hauptsächlich dann zulässig, wenn die Vorbedingungen unmittelbaren Überganges zum bewaffneten Kampf und zur Machtergreifung schon vorhanden sind.“ [32]

Die Ablehnung dieser Ansichten beschränkte sich keineswegs nur auf Deutschland. Die größte linke Sektion in der italienischen PSI war stark „für den Boykott aus Prinzip“. Beträchtliche Teile der Mitgliedschaft der britischen, amerikanischen, holländischen und anderer Kommunistischen Parteien waren ultralinks. Die Mehrheit der holländischen Partei war für eine „Elite“-Organisation von politisch geschulten, aufgeklärten und sorgfältig ausgewählten Mitgliedern, ohne „Verwässerung“ durch rauhe militante Arbeiter, also eine im Grunde genommen propagandistische Organisation, meilenweit von der Herangehensweise der Komintern, die „die besten Vertreter der Arbeiterklasse“ sammeln wollte. Ihre abstentionistische Haltung, die am klarsten auf dem Dritten Kongreß der Komintern 1921 zum Ausdruck kam, folgte daraus.

Die amerikanische Kommunistische Partei hingegen war ultrarevolutionär. Eine Mehrheit ihrer Mitglieder befürwortete „ausschließlich Untergrund- und geheime Operationen“ Alle Versuche zur offenen und „legalen“ Aktivität wurden als „Opportunismus“ denunziert. Die britische Kommunistische Partei, obwohl sie keines dieser beiden absurden Extreme jemals vertrat, behielt in den ersten Jahren ihres Bestehens eine starke ultralinke Tendenz. In der Tat, ultralinke Tendenz, sowohl in der abstenionistischen als auch in der abenteuerlichen Variante, waren stark in den frühen Jahren der Komintern vertreten, und sollten in der Periode von 1924–25 sowie auch, unter anderen Umständen, zwischen 1928–34, die Oberhand gewinnen.

Da, wo es am meisten zählte, in Deutschland, war der ultralinke Flügel aus der KPD auf ihrem zweiten, in der Illegalität gehaltenen Heidelberger Kongreß im Oktober 1919 ausgeschlossen worden. Die überlebenden spartakistischen Führer – Levi, Meyer und andere – hatten Resolutionen durchgepeitscht, die die Annahme der Gewerkschaftsarbeit und die Ablehnung von Wahlboykotts „aus Prinzip“ zur Mitgliedschaftsbedingung erhoben. Das wurde ohne große Rücksichtsnahme auf demokratische Regeln getan (einigen der „linken“ Delegierten wurde Zeitpunkt und Ort des Treffens nicht mitgeteilt), und es kostete die Partei die Hälfte oder mehr ihrer wachsenden Mitgliedschaft. [33] Es war aber unabdingbar, wenn die KPD jemals zu einer wirklichen Kraft werden wollte, und es war insbesondere eine notwendige Bedingung für den Zusammenschluß mit dem linken Flügel der USPD, der ein Jahr später erfolgte.

Die „Linken“ gründeten später die Kommunistische Arbeiterpartei (KAPD), die anfänglich 38.000 Mitglieder für sich beanspruchte, die aber innerhalb von wenigen Jahren auseinanderbrach. Sie durfte eine Delegation zum zweiten Weltkongreß der Komintern entsenden, aber ohne Stimmrecht.

Aber sogar nach dem Ausschluß der „Linken“ war die KPD weit davon entfernt, jenes „politische Gespür“ erworben zu haben, von dem Lenin schrieb. Am 13. März 1920 wandte sich ein Teil des wiederaufgebauten deutschen Heeres unter der Führung von General Lüttwitz, dem Besieger des Spartakusaufstandes, gegen die Hand, die ihn gefüttert hatte. Er nahm Berlin ein und setzte die von der Nationalversammlung gewählte sozialdemokratische Regierung der Weimarer Republik ab. Ebert und seine Kollegen flüchteten nach Stuttgart. Der Rest des Heeres verhielt sich „neutral“: Er weigerte sich, für die Weimarer Republik zu kämpfen. Das war der Kapp-Putsch, nach dem Namen eines reaktionären Zivilisten, Dr. Kapp, der von Lüttwitz vorgeschickt wurde.

Der deutsche Gewerkschaftsbund rief einen unbegrenzten Generalstreik aus. Mehr als 12 Millionen Arbeiter traten in den Aufstand. Es entwickelte sich ein bewaffneter Widerstand gegen den Putsch, insbesondere im Ruhrgebiet und in Sachsen, der von Individuen und Mitgliedergruppen aus der USPD und aus beiden Kommunistischen Parteien angeführt wurde. Die erste Reaktion des KPD-Zentrums war es jedoch, seine Unparteilichkeit in diesem Kampf zwischen „zwei konterrevolutionären Banden“ kundzutun!

„Das revolutionäre Proletariat ... wird keinen Finger rühren für die demokratische Republik“ [34], erklärte es. Diese unglaubliche Unfähigkeit zu verstehen, was auf dem Spiel stand, die Annahme, daß es keinen Unterschied zwischen einer Militärdiktatur und einer bürgerlich-demokratischen Republik gibt, zeigt, wie sehr sogar die erklärten Gegner eines ultralinken Kurses selbst davon angesteckt waren.

Diese abstentionistische Haltung wurde schnell geändert. Glücklicherweise waren die meisten Parteimitglieder schneller als ihre Führer und nahmen von Anfang an keine Kenntnis davon. Der Kapp-Putsch brach nach wenigen Tagen eines intensiven und zunehmend gewalttätigen Widerstands der Arbeiterklasse zusammen. Das Ergebnis war ein deutlicher Schwenk nach links unter der deutschen Arbeiterschaft. Die USPD gewann fünf Millionen Stimmen bei der darauffolgenden Wahl, und die KPD, die nach der Niederwerfung des Putsches legal wurde, eine halbe Million.

„Der Kapp-Putsch war ebenfalls entscheidend für die Entwicklung des deutschen Kommunismus. Bis zu dem Zeitpunkt waren die Spartakisten eine isolierte Minderheit gewesen... Der Kapp-Putsch erweckte neue Impulse in der USPD. Nach einer zweijährigen Erfahrung mit Lüttwitz, von Seeckt, von Watter und Eberhardt waren die Arbeiter davon überzeugt, daß diese Männer nicht durch wohlgeschliffene Formulierungen entwaffnet werden könnten; sie hatten die Hoffnung verloren, daß die sozialdemokratische Regierung gegen die offene und versteckte Wiederaufrüstung der Restaurationskräfte auftreten werde.“ [35]

Die Mitglieder der KPD und der USPD kamen sich näher. Die Grundlage für den Sieg in Halle war durch die gemeinsame Aktion zwischen ihnen festgelegt worden. Aber eine starke ultralinke Tendenz lebte weiter in der nun vereinten kommunistischen Massenpartei (VKPD), die aus dem Zusammenschluß entstanden war; das sollte sich in der „März-Aktion“ von 1921 zeigen. Ein erfahrener Kader, wie ihn die Bolschewiki in Rußland besaßen, konnte nicht so einfach improvisiert werden. [36]

 

 

Die britische Kommunistische Partei und die Labour Party

Man muß berücksichtigen, daß in der englischen Arbeiterpartei ganz eigenartige Verhältnisse bestehen. Das ist eine sehr originelle Partei oder, richtiger gesagt, überhaupt keine Partei im üblichen Sinne dieses Wortes. Sie setzt sich aus Mitgliedern aller Gewerkschaftsorganisationen zusammen, so daß sie jetzt etwa vier Millionen Mitglieder zählt, und gewährt allen politischen Parteien, die ihr angeschlossen sind, genügend Freiheit. Ihr gehört somit die große Mehrheit der englischen Arbeiter an, die von den ärgsten bürgerlichen Elementen am Gängelband geführt werden, von Sozialverrätern, noch schlimmeren Herrschaften als die Scheidemann, Noske und ihresgleichen. Aber gleichzeitig duldet es die Arbeiterpartei, daß sich die Britische Sozialistische Partei in ihren Reihen befindet, und daß diese letztere Ihre eigenen Presseorgane hat, in denen die Mitglieder eben dieser Arbeiterpartei frei und offen erklären dürfen, daß die Führer der Partei Sozialverräter sind ... Es ist eine sehr originelle Lage, wenn eine Partei, die riesige Arbeitermassen in einer Weise umfaßt, als wäre sie eine politische Partei, dennoch gezwungen ist, ihren Mitgliedern volle Freiheit einzuräumen ... Unter diesen Umständen wäre es falsch, nicht in diese Partei einzutreten.

Lenin, Rede auf dem Zweiten Weltkongreß [37]

DIE WICHTIGSTEN MERKMALE der britischen Kommunistischen Partei (CPGB), die Ende Juli 1920 gegründet wurde, waren ihre extreme Schwäche und ihr politisches Erbe – die sektiererischen, propagandistischen Traditionen des britischen Marxismus.

Ihre Hauptkräfte stammten von der Britischen Sozialistischen Partei (BSP), dem direkten Erben von Hyndmans Sozialdemokratischer Föderation (SDF) (später die Sozialdemokratische Partei – SDP – und dann, ab 1912, die Britische Sozialistische Partei). Engels hatte die SDF als hoffnungslos sektiererisch, passiv und propagandistisch beschrieben. Die SDP-BSP war schon immer eine Sekte gewesen, obwohl zeitweise eine ziemlich große Sekte. Andere Kräfte hatten sich der Kommunistischen Partei angeschlossen: aus der Sozialistischen Arbeiterpartei (SLP), einer früheren Abspaltung von der SDF, einer zwar immer noch sektiererischen, aber viel aktivistischeren und interventionistischeren Gruppe, als es die BSP war, aus den Überresten der im Krieg entstandenen Vertrauensleutebewegung und aus einigen anderen Quellen. Die neue Partei hatte trotz alledem insgesamt nur etwa 3.000 Mitglieder, und viele unter ihnen sollten in den nächsten paar Jahren wieder austreten.

Diese Schwäche war natürlich nicht bloß ein zufälliges Produkt von Persönlichkeiten oder Ideen. Im Endeffekt war sie das Produkt der überwältigenden Vorherrschaft des britischen Kapitalismus fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch. Nach den historischen Niederlagen der Arbeiterklasse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte er die Arbeiterbewegung entlang sehr enger, sektionalistischer und „unterwürfiger“ Muster gemodelt.

Aus diesen Gründen hatte es keine sozialdemokratische Massenpartei in Großbritannien vor 1914 gegeben. Das sollte sich ändern. Die Labour Party, die bis dahin eine kleine und sehr mäßige parlamentarische Lobby im Bündnis mit der vorherrschenden Liberalen Partei gewesen war, erklärte sich 1918 zu einer sozialistischen Organisation und begann damit, Ortsgruppen aufzubauen, die für den Beitritt von Einzelmitgliedern offenstanden. Bei den nationalen Wahlen im gleichen Jahr kämpfte sie zum ersten Mal unabhängig von – und gegen – die Liberalen. Die Radikalisierung infolge des 1. Weltkriegs kam ihr zugute, und sie erzielte 22 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Sie war immer noch eine sehr föderalistische Körperschaft („überhaupt keine Partei im üblichen Sinne des Wortes“), und die Britische Sozialistische Partei war einer ihrer Bestandteile. Man konnte natürlich nicht erwarten, daß dieser Zustand länger anhält, aber 1920 war die Situation bis zu einem gewissen Grad noch im Fluß.

Die Komintern-Leitung, insbesondere Lenin, ermutigte die britische Kommunistische Partei, in die Labour Party zu intervenieren, indem sie sich ihr anschloß und den Kampf für eine revolutionäre Politik innerhalb ihrer Reihen fortsetzte. Obwohl Lenin von der Labour Party sagte, sie sei eine „durch und durch bürgerliche Partei, denn obwohl sie sich aus Arbeitern zusammensetzt, wird sie doch von Reaktionären geführt – von den schlimmsten Reaktionären“ [38], argumentierte er: „Wenn die Kommunistische Partei Englands damit beginnt, in der Arbeiterpartei revolutionäre Arbeit zu leisten, und wenn die Herren Henderson dann gezwungen sind, diese Partei auszuschließen, so wird das ein großer Sieg der kommunistischen und revolutionären Arbeiterbewegung in England sein.“ [39]

Das Ziel war es, die britische Kommunistische Partei von ihrem propagandistischen Erbe loszueisen, Schichten von neu Erwachten von den Hendersons und MacDonalds der Labour Party wegzugewinnen, und so die Grundlage für eine interventionistische kommunistische Partei von einiger Größe und Substanz zu legen.

Die zwölf britischen Delegierten auf dem Kongreß waren geteilt in dieser Frage, aber die Gründungskonferenz der Britischen Kommunistischen Partei, die zur gleichen Zeit stattfand, entschied sich erst wenige Tage vor Lenins Rede mit 100 zu 85 Stimmen dafür, die Mitgliedschaft in der Labour Party zu beantragen.

Der Antrag wurde im August 1920 von der Führung der Labour Partei abgelehnt, aber die Kommunistische Partei blieb beharrlich. „Unsere Taktik war es dann“ schrieb der Parteiführer Tom Bell, „die Ablehnung seitens der Labour Partei nicht zu akzeptieren, sondern die Kampagne in das Land reinzutragen, das heißt, zu den örtlichen Labour Parteien, zu den Gewerkschaftsgruppen zu gehen ... Wir trafen auf sehr verschiedenartige Umstände. Einige örtliche Labour Parteien, beherrscht von reaktionären Elementen, für die die Kommunisten nur ein Ärgernis waren, nahmen natürlich die Gelegenheit war, um der Linie von Henderson und der Leitung der Labour Partei zu folgen und die Kommunisten aus den örtlichen Labour Parteien auszuschließen. In anderen Ortschaften, wo die Kommunisten bereits gute Arbeit geleistet hatten und einen gewissen Einfluß in den gewerkschaftfichen Organisationen und der örtlichen Arbeiterbewegung besaßen, tendierten die örtlichen Parteien dazu, zu sympathisieren und keine Aktionen gegen die Kommunisten zu unternehmen. Der gesamte Inhalt dieser Kampagne warf die Frage der Sowjets gegen die parlamentarische Demokratie auf und stellte in den Vordergrund die Frage nach der Gewalt im Kampf um die Macht.“ [40]

Es war unter diesen Umständen ohne Zweifel eine nützliche Operation, insbesondere in der Hinsicht, daß sie die neue Kommunistische Partei auf die Massenbewegung hinorientierte. Wenn die Ergebnisse geringer als erhofft waren, dann lag das in erster Linie an dem scharfen Abschwung der Klassenkämpfe in Großbritannien infolge des Verrats durch das Dreier-Bündnis der Gewerkschaften und der anschließenden Niederlage der Bergarbeiter im Kampf gegen die Unternehmer 1921. Das, zusammen mit den Lohnkürzungen, die gegen die Metaflarbeiter, die Werftarbeiter, die Seeleute, die Beschäftigten der Baumwollindustrie und die Drucker durchgesetzt wurden, stärkte natürlich den rechten Flügel in den Gewerkschaften, und somit zwangsläufig auch den rechten Flügel in der Labour Partei gegen die Kommunistische Partei.

Immerhin legte die Beitrittskampagne, zumindest in den ersten Jahren ihres Bestehens, den Grundstein für die Einheitsfronttaktik um die Nationale Minderheitsbewegung in den Gewerkschaften. Natürlich war der versuchte Beitritt der Kommunistischen Partei in die Labour Partei kein Beispiel von „Entrismus“, wie dieses Wort später verwandt wurde. Es war zu keinem Zeitpunkt die Rede davon, daß die Kommunistische Partei ihre politische oder organisatorische Unabhängigkeit aufgibt. Sie blieb eine offen revolutionäre Partei. Die Kampagne war ein Beispiel für die Verbindung fester, prinzipieller politischer Positionen mit einer großen taktischen Flexibilität, ein charakteristischer Zug der Kominternführung in jenen Anfangsjahren, wenn leider nicht aller Kominternparteien.

 

 

Die Bauern und die Kolonialwelt

Die Frage lautete: Können wir die Behauptung als richtig anerkennen, daß die zurückgebliebenen Völker ... das kapitalistische Entwicklungsstadium der Volkswirtschaft unbedingt durchlaufen müssen? Diese Frage haben wir mit einem Nein beantwortet. Wenn das siegreiche revolutionäre Proletariat unter ihnen eine planmäßige Propaganda treibt, und wenn die Sowjetregierungen ihnen mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe kommen, dann ist es falsch anzunehmen, daß das kapitalistische Entwicklungsstadium für die zurückgebliebenen Völker unvermeidlich sei.

Lenin, Rede auf dem Zweiten Weltkongreß [41]

MARX SAGTE 1847 die Entwicklung der Massenindustrie, das Heranwachsen einer großen modernen Arbeiterklasse und die Zerstörung der älteren Klassen in der Gesellschaft – der unabhängigen Handwerker, Bauern und Kleinproduzenten – voraus. Diese Voraussage wurde glänzend bestätigt, aber die Entwicklung war eine ungleichmäßige. 1920 blieb die Massenindustrie noch größtenteils auf Europa und Nordamerika begrenzt, abgesehen von einigen Enklaven in der restlichen Welt. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung waren primitive Produktionsformen immer noch die Norm.

Sogar Europa selbst war von einer ungleichen Entwicklung gekennzeichnet, besonders in der Landwirtschaft, wo der Prozeß der kapitalistischen Konzentration sehr langsam vor sich ging. Mit Ausnahme Großbritanniens (genauer gesagt Englands und Nieder-Schottlands) existierten noch zahlenmäßig große Bauernschaften in jedem europäischen Land. Langfristig hatte die Bauernwirtschaft wohl keine Zukunft. Aber für eine unmittelbare revolutionäre Perspektive war eine Politik zur Gewinnung der Bauernmassen unverzichtbar.

In Rußland, wo die Bauern eine große Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, hatten die Bolschewiki, so Lenin, „einen zwar nicht formellen, aber sehr wichtigen (und sehr erfolgreichen) politischen Block mit der kleinbürgerlichen Bauernschaft, indem wir das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre voll und ganz, ohne jede Änderung, übernahmen.“ [42] Die Sozialrevolutionäre Partei war 1917 die wichtigste Bauernpartei, und der Kernpunkt ihres Agrarprogramms war: „Das Land den Bauern“.

Diese Politik war vielen europäischen Kommunisten nicht behaglich. Sie deuteten auf die unleugbare Tatsache hin, daß das landbesitzende Bauerntum ein Hindernis zur Entwicklung des Sozialismus darstellte. Was sie nicht einsahen, war, daß die Unterstützung durch die Bauernschaft unverzichtbar für den Sturz des Kapitalismus war.

Die Zentristen nahmen die gleiche Linie ein. Auf dem zweiten Weltkongreß beschuldigte Crispien von der USPD die Russen des Opportunismus in der Agrarfrage. Serrati, Führer des Zentrums in der italienischen PSI, nahm eine völlig negative Haltung zu Bauernbewegungen ein. „Jeder weiß, daß die Bewegung zur Besetzung des Landes – die, insbesondere in Sizilien, von Veteranen und Populari [einer katholischen Partei mit beträchtlicher Anhängerschaft unter den Bauern – D.H.] – eine demagogische und kleinbürgerliche Bewegung war.“ [43] Deshalb muß man ihr den Rücken kehren! Und das in einem Land mit einer massiven Bauernschaft!

Und Crispien sprach hier sogar nach der katastrophalen Erfahrung mit der ungarischen Sowjetrepublik. Ungarn war ein Land, in dem die bäuerliche Mehrheit des Volkes auf den Ländereien der großen Landbesitzer unter beinahe feudalen Bedingungen lebte. Die Sowjetrepublik wurde friedlich am 21. März gegründet. Das alte Regime war unter den Schlägen der militärischen Niederlage, der Massenstreiks, der Meutereien in der Armee und des Drängens Frankreichs und Großbritanniens zur Abtretung von großen Landesteilen – 30 Prozent des ungarischen (magyarischen) Volkes sollten den anglofranzösischen Schützlingen Rumänien, der Tschechoslowakei und Jugoslawien zugesprochen werden – zusammengebrochen.

Die ungarische Sowjetregierung umfaßte Sozialdemokraten, die eine schwankende und verräterische Rolle spielten, und auch Kommunisten, und sie genoß die Unterstützung beinahe der gesamten Arbeiterklasse. Eine Rote Armee wurde eiligst zusammengestellt. „Die Rätemacht nationalisierte die Industrie und die Banken; der Achtstundentag wurde eingeführt; die Kirche (die größte Besitzerin von Ländereien) wurde vom Staat getrennt; der unentgeltliche Schulunterricht wurde eingeführt; Paläste, Villen und Sanatorien wurden den Werktätigen zur Verfügung gestellt.“ [44]

Was sie allerdings nicht tat, war, der Masse des Magyar-Volkes, der Bauernschaft, einen Anteil an der neuen Ordnung zu geben. Trotz aller Ratschläge und dringenden Bitten aus Moskau wurden die großen Ländereien einfach verstaatlicht mit dem Ergebnis, „daß die Errichtung der proletarischen Diktatur im ungarischen Dorf fast nichts änderte, daß die Tagelöhner nichts merkten und die Kleinbauern nichts erhielten.“ [45]

Rumänische und tschechoslowakische Armeen unter der Führung französischer Offiziere marschierten in Ungarn ein. Die Rote Republik hielt mit verzweifelter Entschlußkraft 133 Tage durch, bis zum 1. August. Nach ihrem Sturz richtete der weiße Terror die Arbeiterbewegung quasi zugrunde. Die großen Magnate erhielten ihre Ländereien zurück.

Die Sowjetregierung unter der Führung von Bela Kun hatte eine Reihe von vermeidlichen Fehlern gemacht, aber der eine entscheidende Fehler war ihre doktrinäre Weigerung, Kompromisse zu schließen und den Bauern ernsthafte Zugeständnisse zu machen. Das Ergebnis war, daß etwa Dreiviertel aller Ungarn der Meinung waren, sie hätten durch die Niederlage der Arbeiterklasse nichts zu verlieren. Der Zweite Weltkongreß erklärte: „Für den Erfolg ist es dringend notwendig, daß die arbeitenden, am meisten ausgebeuteten Massen auf dem Lande durch den Sieg des Proletariats sofort und bedeutend auf Kosten der Ausbeuter in ihrer Lage verbessert werden; denn ohne dies könnte das industrielle Proletariat nicht sicher auf die Unterstützung des flachen Landes und auch nicht auf die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln rechnen.“ [46]

Solche Rücksichtnahmen waren von noch größerer Wichtigkeit in der Kolonialwelt. Im Weltmaßstab war sogar Ungarn eine fortgeschrittene Gesellschaft. „Die große Mehrheit der Bevölkerung unseres Erdballs, mehr als eine Milliarde, wahrscheinlich einundeinviertel Milliarde, d.h. etwa 70 Prozent, wenn wir die Gesamtbevölkerung mit einunddreiviertel Milliarde annehmen, gehört zu den unterdrückten Völkern, die sich entweder in direkter kolonialer Abhängigkeit befinden oder halbkoloniale Staaten sind, wie z.B. Persien, die Türkei, China ... Es wäre eine Utopie, zu glauben, daß proletarische Parteien, wenn sie in solchen Ländern überhaupt entstehen können, imstande sein werden, eine kommunistische Taktik und eine kommunistische Politik in diesen zurückgebliebenen Ländern durchzuführen, ohne in bestimmte Beziehungen zur Bauernbewegung zu treten und ohne sie tatkräftig zu unterstützen.“ [47]

Aber was war denn die Perspektive für diese Länder? Die materielle Basis für den Sozialismus, eine entwickelte Industrie und eine hohe Arbeitsproduktivität, existierten dort kaum. Die notwendige menschliche Basis für den Sozialismus, eine moderne Arbeiterklasse, war schwach oder fehlte gänzlich. Mußten sie dann dem Weg folgen, den die fortgeschrittenen Länder gegangen waren, den Weg der kapitalistischen Entwicklung?

Lenins Antwort, die von dem Zweiten Weltkongreß übernommen wurde, war ein bedingtes Nein. Wenn die Arbeiterklasse in einer Anzahl von fortgeschrittenen Ländern die Macht errang, wenn sie den rückständigeren „mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe“ [48] eilte, dann war der kapitalistische Entwicklungsweg nicht unvermeidlich.

Beinahe 40 Jahre früher hatte sich Engels in einem Brief an Kautsky in ähnlicher Weise, wenn auch weniger zuversichtlich, ausgedrückt: „Ist Europa erst organisiert und Nordamerika, so gibt das eine so kolossale Macht und ein solches Exempel, daß die halbzivilisierten Länder ganz von selbst ins Schlepptau kommen; das besorgen allein schon die ökonomischen Bedürfnisse.“ Er fügte vorsichtig hinzu: „Welche sozialen und politischen Phasen aber diese Länder dann durchzumachen haben, bis sie ebenfalls zur sozialistischen Organisation kommen, darüber, glaube ich, können wir heute nur ziemlich müßige Hypothesen aufstellen.“ [49]

Es gab allerdings einen Unterschied zwischen Lenins Ansicht von 1920 und Engels Ansicht von 1882. Für Engels war die Rolle der unterentwickelten Länder im großen und ganzen eine passive. Für Lenin hatten sie eine aktive Rolle zu spielen. Der Unterschied entstammte Lenins Begriff von der Entwicklung des Imperialismus, insbesondere vom Kapitalexport aus den entwickelten Staaten hin zu den Kolonial- und Halbkolonialstaaten, der dazu führte, daß der entwickelte kapitalistische Staat zum „Rentnerstaat ... Staat des parasitären, verfaulenden Kapitalismus“ [50] wurde. Das bedeutete, daß der „Rentnerkapitalismus“ Großbritanniens und Frankreichs genauso in Indien und China angegriffen werden konnte wie in Großbritannien und Frankreich selbst.

Folglich muß man „... eine Politik der Verwirklichung des engsten Bündnisses aller nationalen und kolonialen Freiheitsbewegungen mit Sowjetrußland führen.“ [51] Die problematischen Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien in den unterentwickelten Gegenden und diesen nationalen bürgerlichen Befreiungsbewegungen waren schon 1920 Anlaß für Kontroversen.

Lenin sagte, als er den Bericht der Kommission über nationale und koloniale Fragen auf dem Zweiten Kongreß vorstellte: „Drittens möchte ich auf die bürgerlich-demokratische Bewegung in den zurückgebliebenen Ländern besonders hinweisen. Gerade in dieser Frage ist es zu einigen Meinungsverschiedenheiten gekommen. Wir stritten darüber, ob es prinzipiell und theoretisch richtig sei, zu erklären, daß die Kommunistische Internationale und die Kommunistischen Parteien die bürgerlich-demokratische Bewegung in den zurückgebliebenen Ländern unterstützen müssen. Das Ergebnis dieser Diskussion war, daß wir einstimmig beschlossen, anstatt von der ‚bürgerlich-demokratischen Bewegung‘ von der ‚national-revolutionären Bewegung‘ zu sprechen. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß jede nationale Bewegung nur eine bürgerlich-demokratische sein kann, denn die Hauptmasse der Bevölkerung in den zurückgeblienenen Ländern bestent aus Bauern, die Vertreter bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse sind. Es wäre eine Utopie zu glauben, daß proletarische Parteien, wenn sie in solchen Ländern überhaupt entstehen können, imstande sein werden, eine kommunistische Taktik und eine kommunistische Politik in diesen zurückgebliebenen Ländern durchzuführen, ohne in bestimmte Beziehungen zur Bauernbewegung zu treten und ohne sie tatkräftig zu unterstützen. Hier ist jedoch der Einwand erhoben worden, daß jeder Unterschied zwischen reformistischer und revolutionärer Bewegung vermischt wird, wenn wir von bürgerlich-demokratischer Bewegung sprechen. Indessen ist dieser Unterschied in letzter Zeit in den zurückgebliebenen und kolonialen Ländern mit aller Klarheit zu Tage getreten ... Zwischen der Bourgeoisie der ausgebeuteten Länder und jener der kolonialen Länder ist eine gewisse Annäherung erfolgt, so daß die Bourgeoisie der unterdrückten Länder sehr oft – ja sogar in den meisten Fällen – zwar die nationalen Bewegungen unterstützt, aber gleichzeitig im Einvernehmen mit der imperialistischen Bourgeoisie, d.h. zusammen mit ihr, alle revolutionären Bewegungen und revolutionären Klassen bekämpft ... [so] daß wir als Kommunisten die bürgerlichen Befreiungsbewegungen in den kolonialen Ländern nur dann unterstützen müssen und werden, wenn diese Bewegungen wirklich revolutionär sind, wenn ihre Vertreter uns nicht hindern, die Bauernschaft und die breiten Massen der Ausgebeuteten in revolutionärem Geist zu erziehen und zu organisieren.“ [52]

Aber eine solche „bürgerliche Befreiungsbewegung“ die sich nicht vor der „ausgebeuteten Masse“ fürchtete, ist im 20. Jahrhundert nicht zu finden. Was dann? Die chinesische Revolution von 1925–27 sollte die Widersprüchlichkeit dieser Position klar aufzeigen.

Die eigentlichen „Leitsätze“, die auf dem Zweiten Weltkongreß angenommen wurden, waren allerdings unzweideutig in der zentralen Frage von praktischem Belang: „Notwendig ist ein entschlossener Kampf gegen den Versuch, der nicht wirklich kommunistischen revolutionären Freiheitsbewegung in den zurückgebliebenen Ländern ein kommunistisches Mäntelchen umzuhängen. Die Kommunistische Internationale hat die Pflicht, die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und den rückständigen Ländern nur zu dem Zweck zu unterstützen, um die Bestandteile der künftigen proletarischen Parteien – der wirklich und nicht nur dem Namen nach kommunistischen – in allen rückständigen Ländern zu sammeln und sie zum Bewußtsein ihrer besonderen Aufgaben zu erziehen,- und zwar zu den Aufgaben des Kampfes gegen die bürgerlich-demokratische Richtung in der eigenen Nation. Die Kommunistische Internationale soll ein zeitweiliges Zusammengehen, ja selbst ein Bündnis mit der revolutionären Bewegung der Kolonien und der rückständigen Länder herstellen, darf sich aber nicht mit ihr zusammenschließen, sondern muß unbedingt den selbständigen Charakter der proletarischen Bewegung – sei es auch in ihrer Keimform – aufrecherhalten.“ [53] (Hervorhebungen hinzugefügt – D.H.)

Um diese Politik in die Tat umzusetzen, wurde ein „Kongreß der Völker des Ostens“ im September 1920 in Baku organisiert. Es sollen 1.891 „Delegierte“ anwesend gewesen sein, die große Mehrheit unter ihnen Türken, Iraner, Völker aus Kaukasien oder dem russischen Zentralasien. Das Thema war „die Organisation eines wahren und heiligen Volkskrieges gegen die Räuber und Unterdrücker“ ..., „an erster Stelle gegen den englischen Imperialismus“. [54] Obwohl zwei Drittel aller „Delegierten“ angeblich Kommunisten waren, scheinen die meisten aus den Gebieten des alten zaristischen Reiches gestammt zu haben. Die Türken, die größte Gruppe von außerhalb Rußlands, waren größtenteils einfach Nationalisten „ die gegen die britische und griechische Intervention gegen die Türkei waren. Damals gab es kaum eine wirkliche kommunistische Partei in Asien außerhalb der Länder, die von der Roten Armee gehalten wurden.

Ein späterer „Kongreß der Werktätigen des Fernen Ostens“ (im Januar-Februar 1922), obwohl viel kleiner (144 Delegierte), war wahrscheinlich von größerer Bedeutung. Es waren wirkliche Delegationen, die tatsächlich bestehende Organisationen vertraten, und die Chinesen, Koreaner und Mongolen zumindest vertraten embryonale kommunistische Parteien.

Für die kommunistischen Parteien der fortgeschrittenen Länder war die Linie klar und scharf. Die 8. Bedingung für den Beitritt zur Komintern forderte: „In der Frage der Kolonien und der unterdrückten Nationen ist eine besonders ausgeprägte und klare Stellung der Parteien ... notwendig... Jede Partei ... ist verpflichtet, die Kniffe „ihrer“ Imperialisten in den Kolonien zu entlarven, jede Freiheitsbewegung in den Kolonien nicht nur in Worten, sondern durch Taten zu unterstützen, die Verjagung ihrer einheimischen Imperialisten aus diesen Kolonien zu fordern ... und in den Truppen ihres Landes eine systematische Agitation gegen jegliche Unterdrückung der kolonialen Völker zu führen.“ [55]

Das war nicht nur ein entscheidender Bruch mit dem „Euro-Zentrismus“ der Zweiten Internationale, sondern auch eine Vertiefung der Kluft zwischen reformistischer und revolutionärer Politik in den entwickelten Ländern.

 

 

Frauen und Revolution

Der III. Kongreß der Kommunistischen Internationale verweist darauf, daß die Aufgaben ... In folgendem bestehen: Die breiten Frauenmassen im Geist des Kommunismus zu erziehen; den Kampf gegen die Vorurteile, die mit der gesellschaftlichen Stellung der Frau zusammenhängen, zu führen und in den Arbeitern und Arbeiterinnen das Bewußtsein der Gemeinsamkeit der Interessen der Proletarier beiderlei Geschlechts zu bekräftigen.

Methoden und Formen der Arbeit unter den Frauen der Kommunistischen Partei, Leitsätze des dritten Kongresses der Kommunistischen Internationale. [56]

ES IST EIN MYTHOS, daß die Komintern in der Periode unter Lenin die Frage der Frauenbefreiung etwa ignoriert hätte. Das Thema war auf der Tagesordnung sowohl des Ersten als auch des Zweiten Kongresses. Obwohl die endgültigen „Leitsätze“ erst auf dem dritten Kongreß angenommen wurden – nachdem in der Zwischenzeit zwei internationale Frauenkongresse stattgefunden hatten –, ist es angemessen, sie an dieser Stelle zu betrachten.

Zuerst zur Analyse. Der III. Kongreß wies „die Arbeiterinnen der ganzen Welt darauf [hin], daß nur der Sieg des Kommunismus ihre Befreiung aus der Knechtschaft und Unterdrückung möglich macht... Das, was der Kommunismus der Frau geben kann, kann ihr die kapitalistische Frauenbewegung in keinem Falle geben.

Solange die Macht des Kapitals und des Privateigentums in den kapitalistischen Ländern besteht, kann die Befreiung der Frau aus der Abhängigkeit vom Manne nicht weiter gehen, als bis zu dem Rechte, über ihr eigenes Besitztum, ihren Verdienst zu verfügen, und gleichberechtigt mit dem Mann das Schicksal der Kinder zu entscheiden, ... was die Arbeiter aller jener kapitalistischen Länder erfahren haben, in denen die Bourgeoisie in den letzten Jahren formell die politische Gleichberechtigung der Geschlechter eingeführt hat.

Die nicht nur formelle, sondern tatsächliche Gleichstellung der Frau ist nur im Kommunismus möglich; d.h. nur dann, wenn die Frau der werktätigen Masse in den Stand gesetzt wird, am Besitze der Produktionsmittel, an der Verteilung und Leitung teilzunehmen und die Arbeitspflicht in gleicher Weise wie alle übrigen Glieder der werktätigen Gesellschaft zu erfüllen; mit anderen Worten, sie ist nur dann möglich, wenn das System der kapitalistischen Produktion gestürzt und durch die kommunistische Wirtschaftsweise ersetzt wird.“ [57]

Befreiung wird nicht errungen werden „durch die vereinigten Anstrengungen der Frauen verschiedener Klassen, sondern nur durch den vereinigten Kampf aller Ausgebeuteten ... und daß jegliches Zusammengehen der Arbeiterinnen mit dem kapitalistischen Feminismus zu einer Schwächung der Kräfte des Proletariats führt, er [der III. Kongreß] betont aber andererseits auch, daß jede Unterstützung, die die Arbeiterinnen der verräterischen Taktik der Sozialkompromißler und Opportunisten zuteil werden lassen, gleichfalls die Kräfte des Proletariats schwächt, die soziale Revolution hinausschiebt und den Sieg des Kommunismus und folglich auch die Stunde der Befreiung der Frau verzögert.“ [58]

Der „vereinte Kampf aller Ausgebeuteten“ bedeutet die Teilnahme am Klassenkampf. aus diesem Grunde lehnte die Komintern „eine besondere Frauenbewegung“ ab. allerdings waren angesichts der „Vorurteile gegen Frauen, die von der Masse des männlichen Proletariats gehegt werden“ besondere Maßnahmen der Kommunistischen Parteien erforderlich, sowohl um die männlichen Vorurteile in den eigenen Reihen (und auch in der Arbeiterklasse insgesamt) zu bekämpfen, als auch, um Frauen in aktive und führende Positionen in den Parteien selbst einzubeziehen.

Dies alles in den frühen 20er Jahren, als sich viele Sozialdemokraten noch nicht darüber einig waren, ob den Frauen das Wahlrecht unter den gleichen Bedingungen wie den Männern zugestanden werden sollte, und die bürgerlichen Frauenbewegungen den Ersten Weltkrieg unterstützt hatten!

Die Komintern errichtete eine vervollkommnete Struktur eines internationalen Frauensekretariats, internationaler Frauenkonferenzen, nationaler Frauensekretariate und so weiter. Vieles davon blieb zwar auf dem Papier. Aber im Lichte reformistischer – und noch schlimmer – Kritiken von Feministinnen heute kann berechtigterweise gesagt werden: Das ist unsere Tradition. Wo waren Eure politischen Freunde zu der Zeit?

 

 

Anmerkungen

Mit * versehene Zitate konnten aus Zeitgründen nicht endgültig;ltig in deutschen Originaltexten geortet werden. Sie sind also aus dem Englischen übersetzt worden.

1. Lenin, Werke, Bd.31, S.193-4.

2. Lenin, Werke, Bd.31, S.93.

3. Protokolle des II. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (Reprint), Karl Liebknecht Verlag, Erlangen 1972, S.699.

4. ebenda, S.695.

5. ebenda, S.393.

6. Lenin, Werke, Bd.31, S.5-6.

7. Protokolle des II. Weltkongresses, S.390.

8. ebenda, S.315.

9. ebenda, S.312.

10. ebenda, S.262-4.

11. Lenin, Werke, Bd.31, S.238.

12. Protokolle des II. Weltkongresses, S.389.

13. ebenda, S.390.

14. ebenda, S.391.

15. ebenda, S.392.

16. ebenda, S.116.

17. ebenda, S.91 u. 192.

18. ebenda, S.77-8.

19. ebenda, S.78/99.*

20. ebenda, S.92.

21. ebenda, S.67-8.

22. ebenda, S.407.

23. ebenda, S.61, 65 u. 68.

24. ebenda, S.115 u. 118.

25. Lenin, Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Werke, Bd.31, S.54.

26. Weber, Der Gründungsparteitag der KPD, Protokolle und Materialien, Frankfurt/Wien 1969, S.192.

27. Lenin, Werke, Bd.31, S.25.

28. Fischer, Stalin und der deutsche Kommunismus, Verlag Frankfurter Hefte, Ffm. o.J., S.131.

29. Lenin, Werke, Bd.31, S.25.

30. Protokolle des II. Weltkongresses, S.529-30.

31. ebenda, S.470.

32. ebenda, S.473-4.

33. Fischer, a.a.O., S.145.

34. Weber, Der Deutsche Kommunismus, Dokumente 1915-1945, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1973, S.139.

35. Fischer, a.a.O., S.165.

36. Siehe Cliff, Lenin, London 1975-76, Bd.I (auf Deutsch) u. II, und auch Sinowjew, Geschichte der KPdSU (B), Politladen GmbH, Erlangen 1972.

37. Lenin, Werke, Bd.31, S.249.

38. Lenin, Werke, Bd.31, S.247.

39. Lenin, Werke, Bd.31, S.252.

40. Bell, The British Communist Party, London 1937, S.67-8.

41. Lenin, Werke, Bd.31, S.232.

42. Lenin, Werke, Bd.31, S.58.

43. Cammett, Antonio Gramsci and the Origins of Italian Communism, Stanford 1967, S.132.

44. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPDSU, Die Kommunistische Internationale, Kurzer historischer Abriß, Dietz Verlag, Berlin 1970, S.73.

45. Lenin, Werke, Bd.31, S.237.

46. Protokolle des II. Weltkongresses, S.778.

47. Lenin, Werke, Bd.31, S.228-30.

48. Lenin, Werke, Bd.31, S.232.

49. Engels, MEW, Berlin 1985, Dietz-Verlag (DDR), Bd.35, S.358.

50. Lenin, Werke, Bd.22, S.283.

51. Protokolle des II. Weltkongresses, S.227.

52. Lenin, Werke, Bd.31, S.229-30.

53. Protokolle des II. Weltkongresses, S.231.

54. Carr, The Bolshevik Revolution, London 1966, Bd.3, S.263.

55. Protokolle des II. Weltkongresses, S.391.

56. Die Kommunistische Internationale, Bd.II, 3. und 4. Weltkongreß, Thesen und Resolutionen, Buchverlag Wolfgang Dröge, Dortmund 1978, S.155.

57. ebenda, S.150f.

58. ebenda, S.152.

 


Zuletzt aktualisiert am 24.4.2002