Florian Kirner

 

Eine Welle der Kulturreaktion

(1996)

Bespechung von Günther Grass: Ein weites Feld
Steidl-Verlag, 49.80 DM 780 S.

Aus Sozialismus von unten (erste Serie), Nr.5, Januar 1996, S.29-33.
Copyright © 1996 Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung (VGZA) e.V.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Die Gangart in der Literaturkritik ist härter geworden. Bis zu einem gewissen Grad ist das normal. Durch die Etablierung privater Fernseh- und Rundfunkanstalten ist die gesamte Medienlandschaft in einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf um Leser, Einschaltquoten und Anzeigen- seiten eingetreten. Die damit einhergehende Tendenz zur immer oberflächlicheren Sensationsreportage greift selbstverständlich auch auf die Literaturkritik über. All das ist bekannt. All das ist längst Alltag.

All das reicht jedoch bei weitem nicht aus, die Kampagne gegen den neuen Roman von Günther Grass zu erklären. Auch frühere Bücher des linken Altmeisters deutscher Nachkriegsliteratur wurden bereits von der Kritik verrissen, so der letzte Grass-Roman Die Rättin oder seine Unkenrufe. Die Kritik an Ein weites Feld stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Sie stellt eine neue Qualität dar, die wahrscheinlich alles seit Kriegsende, sicherlich aber alles seit 1968 Vorgefallene in den Schatten stellt.

Die Kritik an Ein weites Feld ist deswegen von anderer Qualität, weil sie mit Literaturkritik nichts zu tun hat. In keiner Buchbesprechung finden sich Argumente gegen das Buch, die vom literarischen Standpunkt aus überzeugend, oder auch nur stichhaltig wären. Demgegenüber blühen die Kritiker auf, wenn es darum geht, was ihnen an Günter Grass politisch nicht paßt.

Der erste Satz des Romans erläutert bereits die gelungen gewählte Erzählperspektive: „Wir vom Archiv nannten ihn Fonty.“

Theo Wuttke, Hauptfigur des Romans, identifiziert sich seit seiner Jugend mit dem brandenburgischen Dichter des 19. Jahrhunderts, Theodor Fontane. Er pflegt regen Kontakt mit dem Ost-Berliner Fontane-Archiv und brachte es als Vortragsreisender für den DDR-Kulturbund unter dem Spitznamen „Fonty“ zu einer mäßigen Bekanntheit in der einschlägigen Klientel. Die kollektive Erzählperspektive der Archivmitarbeiter ermöglicht es Grass, historische, sowie individuelle Entwicklungen in einem spannenden Wechselspiel zwischen beobachtender Abstraktion und teilnehmender Nähe zu erfassen.

 

 

Fonty, Wuttke und der Spitzel

Zusätzlich kann Grass die Darstellungsform über den Spitzel Hoftaller variieren. Dieser ist als ewig schnüffelnde Fortführung der Romanfigur „Tallhover“ angelegt, welche in Hans-Joachim Schädlichs gleichnamigen Werk den alle Wenden und Wechsel überstehenden, sozusagen den ideellen Gesamtspitzel verkörpert. Hoftallers Vorgänger beschattete bereits Wuttkes Idol Fontane, und somit übernahm“ Fonty“ mit dem geistigen Erbe des Dichters gleichfalls dessen „Tagundnachtschatten“.

Über dieses umfassende Erzählinstrumentarium gelang Grass eine ebenso breit angelegte wie eng verzahnte Erzählung. Sie schließt viele Aspekte der deutschen Geschichte wie auch deren Gegenwart mit ein, gibt tiefe Einblicke in das Seelenleben Fontanes und entwirft ein großartiges psychologisches Geflecht zwischen Spitzel und Bespitzeltem.

Daß nun quer durch alle Kulturteile der Vorwurf laut wurde, Grass halte sich zu sehr bei langweiligen Nebensächlichkeiten auf, ist ein besonders eklatantes Beispiel für die niveaulose Bösartigkeit des literarischen Deckmäntelchens der Kritik. Gerade im sehr nah an Fontanes Technik angelehnten Hin und Her zwischen wundervoll geschilderten Details einerseits und die Gesellschaft betreffenden Gedankengängen der Figuren andererseits entwirft Grass ein facettenreiches Panorama deutscher Geschichte und deutschen Wesens.

Ohne Wuttke übertrieben aktivistisch in den Brennpunkten deutscher Geschichte zu placieren, ist er doch immer irgendwie mehr oder weniger direkt beteiligt, wenn sich etwas tut in diesem Land. Im Krieg geriet der ruhmlose Soldat Wuttke über ein Techtelmechtel mit einer Französin in die Kreise der Résistance, in der DDR schmiß er seine Lehrertätigkeit und später „den ganzen Kulturbundkrempel“ hin, weil er sich zum Arbeiteraufstand 1953 oder zum Prager Frühling zensurträchtig aus dem Fenster gelehnt hatte. Auch wenn der Spitzel Hoftaller ihn vor allzu gravierenderen Folgen zu schützen weiß – und somit die Abhängigkeit seines Opfers vertieft.

Zeichnung

Zeichnung von Günter Grass: Arbeitsplan für seinen Roman Ein weites Feld in der Form einer offenen Hand. Die Fingerglieder und übrigen Handteile stellen einzelne Kapitel und Abschnitte des Buches dar.

 

 

Fonty und die DDR-Revolution

Zur Wendezeit 89 kommt Fonty dann im Berliner „Haus der Ministerien“ als Aktenbote unter. In melancholischem Befremden („‚Chaos!‘ rief er. ‚Nichts als Chaos!‘“) erlebt Theo Wuttke alias Fonty an der Seite seines Spitzels die Revolution in der DDR.

Zwar hat er einen großen Auftritt, als er auf einer Montagsdemonstration vor Hunderttausenden spricht, doch insgesamt ist er mehr Beobachter als Teil der Umwälzung. Im Trubel nach der Grenzöffnung sucht er Halt in der deutschen Geschichte zu Zeiten seines Idols. Spontan rezitiert er vor einer Menge von Mauer- spechten und Revolutionstouristen Fontanes Jubelgedicht zur Rückkehr der siegreichen preußischen Truppen nach dem Frankreichfeldzug 1871 „Und siehe da, zum dritten Mal ziehen sie ein durch das große Portal; der Kaiser vorauf, die Sonne scheint, alles lacht und alles weint ...“

Dieser Vergleich der Wiedervereinigung mit der ersten deutschen Reichseinigung unter Otto von Bismarck wird Grass ebenso übelgenommen wie seine geharnischte Kritik an der Sommerschlußverkaufsatmosphäre unter westdeutschen Kapitalisten, verkörpert durch Fontys künftigen Schwiegersohn, den Bauspekulanten Grundmann. Da Fonty von der Treuhand als Aktenbote übernommen wird, als diese das ehemalige Haus der Ministerien in Besitz nimmt, ist die Hauptfigur bestens plaziert, um diese Kritik plastisch zu vermitteln.

Selbstverständlich steht die grundsätzliche Unterstützung der Revolution gegen den Stasi-Staat außer Frage, und es ist ebenso albern wie unverschämt, Grass irgendwelche Sympathien für die DDR unterzuschieben. Die grundsätzliche Unterstützung der Revolution ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Unterstützung der Wiedervereinigung oder der organisierten Einig-Vaterlands-Atmosphäre. Gerade aber dies versuchen die zahlreichen Kritiker: Wer die Wiedervereinigung kritisiert, sympathisiert mit der Stasi – diese Botschaft soll verankert werden.

So geht die Kritik kaum auf die Tatsachen der Treuhandpolitik ein, denn jede genauere Betrachtung der Abwicklungszentrale gibt der Wut des Schriftstellers über den brutalen Beutefeldzug des westdeutschen Kapitals in Vereinigung mit den alten Bonzen recht. Stattdessen wirft man Grass lieber einen Wust von gänzlich unhaltbaren Vorwürfen als Knüppel zwischen die Beine. Man wirft ihm vor, er rechtfertige die Ermordung des Treuhandchefs Detlev Rohwedder (obwohl man Grass viel eher dafür kritisieren könnte, daß ein brutaler Managertyp vom Schlage Rohwedders als mitfühlender Kulturliebhaber beschönigt wird). Der „Vorwurf“ von rechts ist nur insoweit richtig, als Grass die gewaltsame Zerstörung ostdeutscher Lebensgefühle durch eine staatlich organisierte Mafiabehörde schonungslos offenlegt und damit natürlich auch Motive für einen Rohwedder-Mord darstellt, die gewissermaßen „menschlich nachvollziehbarer“ wären, als die „bestialische Untat einer kommunistischen Mörderbande“.

Übelstes Beispiel für diese Form der Kritik ist der Essay von Reich-Ranicki. Die Tatsache, daß in Ein weites Feld ein jüdischer Professor, der nach der Wende aufgrund seiner kommunistischen Vergangenheit entlassen wird und mit den Worten „Für Juden ist hier kein Platz“ Selbstmord verübt, läßt Reich-Ranicki vor Wut schäumen.

Lieber Günther Grass, haben Sie keine Ahnung, wie es den Juden in der DDR ergangen ist, haben Sie nicht gehört, daß Tausende von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion (und auch aus anderen Ländern) in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Asyl gefunden haben? Ich habe keine Lust, mich hier über dieses Thema zu verbreiten, nur eines ist für mich sicher: Sie wissen nicht, wovon Sie reden.

Diese Passage ist nun der Gipfel der Infamie. Erstens unterstellt Reich-Ranicki ganz offen, Grass instrumentalisiere die Judenverfolgung in der deutschen Geschichte für seine eigenen politischen Ziele. Alleine das ist schon ein absolutes Unding. Zweitens ist die Frage, wie es denn den Juden in der DDR ergangen sei, ein unerträglicher Versuch, Parallelen zwischen der DDR und Nazi-Deutschland zu ziehen. Und das auf der Basis einer historischen Lüge. Zwar gab es auch in der DDR staatlich geförderten Rassismus – etwa gegen Polen. Aber in keiner Phase der DDR-Geschichte gab es einen staatlich organisierten Antisemitismus, und auch eine planmäßige Ausgrenzung oder Benachteiligung von Juden ist nicht belegt oder auch nur bekannt.

 

 

Historischer Tabubruch

Gerade hier aber zeigt sich, warum Ein weites Feld auf soviel Kritik stößt. Es bricht nämlich das konservativ gestrickte Geschichtsbild an zwei sehr empfindlichen Stellen auf. Erstens, wie bereits erläutert, in der Frage der Wiedervereinigung. Zweitens aber macht Grass einen ganz deutlichen Unterschied zwischen einer „kommoden Diktatur“, wie Bismarck-Deutschland oder DDR und einem Terrorregime Marke Mussolini oder Hitler. Daß auch Bismarck und Honecker furchtbare Opfer forderten, stellt Grass in seinem Roman klar. Aber er stellt ebenso klar, daß diese Opfer nicht mit den Millionen Opfern eines Regimes vergleichbar sind, das zur industriellen Organisierung der Ausrottung eines ganzen, millionenstarken Volkes fähig war.

Außerdem wehrt Grass den Versuch ab, 40 Jahre ostdeutschen Alltages als eine permanente Terrorsituation darzustellen, wie es westdeutsche Konservative tun (um sich dann andererseits über DDR-Nostalgie zu beklagen!). Daß Bespitzelung und Repression allgegenwärtig waren, verschweigt Grass nicht. Schließlich geistert der Spitzel Hoftaller permanent durch die Handlung des Buches, greift unter unverhohlener Ausnutzung von Fontys Notlagen in dessen Leben ein und verändert es nach seinem willkürlichen Gutdünken. All das ist jedoch nicht vergleichbar mit einer Situation wie 1944, als man wegen eines politisch völlig nichtssagenden Goebbels Witzes in Plötzensee an einem Fleischerhaken aufgehängt wurde.

Es gelingt Grass mit großartigen schriftstellerischen Mitteln, gerade diese menschelnde Atmosphäre unter der Diktatur, zwischen ihren Fängen darzustellen, diese familiäre Gemeinschaftsatmosphäre eines eingesperrten Volkes, das unter Not und Unterdrückung zu leben versucht.

Natürlich ist es unmöglich, Handlung und Aspekte eines 800-Seiten-Buches in einem kurzen Artikel zu erklären – außerdem ist jedem Literaturinteressierten zu empfehlen, das Buch selbst zu lesen. Aber zusammenfassend kann man sagen, daß die deutsche Kritik aus politischen Motiven eines der großen Romanwerke der Nachkriegszeit zerfetzte. Man wollte und will eben keine andere Interpretation der Wiedervereinigung zulassen als die Kohlsche. Dies konnte jedoch nicht verhindern, daß „der neue Grass“ die Bestsellerlisten gestürmt hat und sich bis jetzt in einer Spitzenposition behaupten konnte. Offensichtlich ist der Bedarf an einer kritischen Sichtweise der Wiedervereinigung größer als die Macht der Literaturfürsten der diversen Kulturressorts.

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2001