S. Andrew

 

Orwell 1984

Krieg ist Frieden
Freiheit ist Sklaverei

(1984)


P>Aus Klassenkampf Nr.21, Februar/März 1984.
Transkription u. HTML-Markierung: Michael Gavin für REDS – Die Roten.


Wir sind also endlich soweit! Jetzt schreiben wir das Jahr 1984, das auch für Leute, die vom Inhalt des Romans so gut wie gar nichts wissen, Symbol für eine menschenverachtende, brutale, bürokratisierte Gesellschaftsordnung geworden ist, wo der Einzelmensch einem gnadenlosen System der Manipulierung und Unterdrückung unentrinnbar ausgeliefert ist. Auch wenn Orwell in einigen wichtigen Punkten eindeutig Unrecht bekommen hat, meinen nur die allerwenigsten, daß er mit seiner erschreckenden Zukunftsvision völlig gefehlt hat. Für liberal gesinnte Leser handelt sie vom Kampf eines einsamen Einzelgängers um seine Individualität. Für moskautreue Kommunisten ist sie einfach eine Spiegelung der Todesagonie der spätkapitalistischen Gesellschaft. Dagegen sehen die Rechten in 1984 nichts anderes als eine vernichtende Verurteilung des Systems des „real existierenden Sozialismus“. Die spontibeeinflußte undogmatische Linke sieht das Werk wiederum eher als eine Warnung vor einem perfektionierten „Modell Deutschland“.

Inzwischen sind, zahlreiche Artikel und Aufsätze über Orwell und seinen berühmtesten Roman erschienen. Die meisten von diesen beschäftigen sich mit nur einem Aspekt des Romans, nämlich der Darstellung eines unwiderstehlichen, vollkommenen, staatlichen Überwachungsapparates; Stichwörter: der gläserne Mensch, Volkszählung, der neue Personalausweis. Der Schriftsteller wird dabei als kautziger Engländer, als tragischer Außenseiter, als verschlossener, schwermütiger und selbstzerstörerischer Stoiker und als unbeugsamer Moralist dargestellt.

Doch Orwell war nicht unbedingt der Einzelgänger, als den man ihn gerne darstellt. Seine Außenseiterrolle war weder freigewählt noch naturbedingt. Sie wurde ihm eher durch die Entartung der sozialistischen Tradition – einerseits durch den Stalinismus, andererseits durch den Reformismus – auferlegt. Manche seiner Einschätzungen der politischen und wirtschaftlichen Lage und der Zukunftsperspektiven des Kapitalismus teilte er mit vielen anderen Theoretikern der nichtstalinistischen, nichtreformistischen Linken. Sie waren also keinesfalls das Produkt eines einsamen Genies.

Auch wenn er im sozialdemokratischen wie im stalinistischen Lager wenig Freunde hatte, blieb er konsequent Sozialist, der sich stets an der Arbeiterklasse als „gesellschaftsverändernder Kraft“ orientierte. Dabei war er ein rigoroser Materialist. Die Dogmen des Marxismus ließ er nicht ungeprüft, aber die marxistische Methode, sobald er sich von ihrer Gültigkeit überzeugt hatte, wußte er mit zwingender Kraft anzuwenden.

Die Überzeugungskraft seiner, besten Werke stammen von seinen nüchternen Beobachtungen der zeitgenössischen Gesellschaft. Das gilt auch für den Zukunftsroman 1984. Eine wichtige Grundlage der fiktiven Welt, die er in diesem Buch darstellt, nämlich die permanente Kriegswirtschaft, hat er von einem bedeutenden amerikanischen Ökonomen übernommen. Er zeigt, wie in diesem Wirtschaftssystem die Ausbeutung von immer mehr Arbeitern dem Zweck unterworfen wird, immer mehr Zerstörungsmittel anzuhäufen. Ebenfalls zeigt er, wie die Übernahme der Produktionsmittel durch den Staat eine logische Folge der Konzentration des Kapitals ist, und daher keinen Fortschritt gegenüber dem Kapitalismus darstellen kann.

Das Dilemma, dem Orwell am Ende seines Lebens gegenüberstand, ist noch heute nicht gelöst. Da ist einerseits die Erkenntnis, daß die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst sein muß; andererseits die Einsicht in die Hindernisse, die dieser Selbstbefreiung im Wege stehen, da die Kapitalistenklasse nicht nur allein Ober die Staatsgewalt, sondern auch über die „geistigen Produktionsmittel“ verfügt, d.h. die Ideen, die in der Gesellschaft herrschen, sind immer die Ideen der herrschenden Klasse. Deswegen erschien Orwell die sozialistische Revolution gleichzeitig dringend notwendig und unmöglich. Dieses Dilemma kann nur durch den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei gelöst werden.

 

 

Orwells Weg nach „Wigan Pier“

Orwell ist 1903 als Eric Blair in Indien geboren. Er ging zur Schule in Eton, der Snob-Schule, wo die Kinder von Englands oberen Zehntausend ausgebildet werden. 1922-1927 diente er als Offizier in der burmesischen Kolonialarmee. Hier entwickelte er verständlicherweise einen tiefen Haß sowohl auf den britischen Imperialismus als aüch auf „die Herrschaft des Menschen über den Menschen“ überhaupt. Seine Erlebnisse aus dieser Zeit hat Orwell in seinem Roman Tage in Burma (1935) verarbeitet.

Seine Rolle als Stütze des britischen Kolonialismus rief ein für Orwell eigentümliches schlechtes Gewissen hervor. Er sagte, er spüre das Bedürfnis, für „eine ungeheuer drückende Schuld“ zu büßen. Als er mit 24 Jahren radikal aus seiner Rolle ausbrach, suchte er den extremen sozialen Gegensatz zur herrschenden Klasse, die er haßte. Er tauchte ins Lumpenproletariat unter, dessen Unterdrückung und Hilflosigkeit er am eigenen Leib erfuhr und im Buch Erledigt In Paris und London (1933) schilderte. Hier wird Orwell klar, daß, obwohl sie fähig sind, in den elendesten Umständen ihre Menschenwürde zu bewahren, die schlimmsten Opfer des Systems nicht in der Lage sind, das System zu beseitigen. Hier fand Orwell keine Kraft, die die Macht aus den Händen der Herrschenden hätte reißen können.

Wie mancher Intellektuelle seiner Zeit wurde sich Orwell seiner eigenen gesellschaftlichen Ohnmacht bewußt und wandte sich an die Arbeiterklasse, da sich hier die soziale Kraft befand, die die kapitalistische Herrschaft stürzen konnte. Diese Entwicklung Orwells ist in seinem Buch Der Weg nach Wigan Pier (1931) zu verfolgen. Wigan Pier ist ein Symbol für eine entscheidende Station im Leben Orwells. Die Pier (Hafen- und Landungsbrücke) zeigt, daß Orwell auf dem Weg weg von der herrschenden Klasse einen Endpunkt erreicht hat. Das Suchen ist vorbei. Nach „Wigan Pier“ finden wir eine Neuorientierung in den Werken Orwells. Jetzt beschäftigt er sich. vorwiegend mit einer Untersuchung der Möglichkeiten für die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse. Wigan ist eine Arbeiterstadt in Nordengland, wo damals wie heute Massenarbeitslosigkeit herrscht und das Stadtbild bestimmt. Orwell stellt die Arbeiterschaft realistisch dar, sowohl ihre potentielle Stärke als auch die Schwächen und Hindernisse, die im Wege der Selbstbefreiung stehen. Die „gesellschaftsändernde Kraft“ der Arbeiterklasse wird von Orwell niemals zu einem inhaltlichen Dogma erhoben, deren reale Möglichkeiten werden immer wieder geprüft.

Bemerkenswert in diesem Werk ist die Schärfe der Kritik an linken Intellektuellen, die sich als Sozialisten betrachten, die sich theoretisch zur Selbstbefreiung der Arbeiter bekennen, die jedoch mit Arbeitern kaum in Berührung kommen und kaum etwas Ober sie wußten. Diese Leute wollten die Gesellschaft ändern, schienen jedoch den Arbeitern nicht zuzutrauen, sich durch eigene Selbsttätigkeit zu befreien. Dieser Angriff hatte sicherlich vieles mit Schuldgefühlen zu tun, Orwell griff sich selbst an. Seine Kritik war aber gleichzeitig sehr treffend. Orwell zog vielsagende Parallelen zwischen der Führungsschicht in der Labour-Party, die nach dem Krieg die Regierung übernehmen sollte, und der Schicht in dar Sowjetunion, die schon die Staatsmacht in ihre Hände genommen hatte.

Wenn Der Weg nach Wigan Pier eine entscheidende Station im Leben des Verfassers bezeichnet, dann ist Mein Katalonien (1938) das eindeutige Schlüsselwerk in Orwells literarischem Schaffen. Jede Zwiespältigkeit gegenüber der Arbeiterklasse wird weggefegt. Bisher hatte Orwell die von Arbeitslosigkeit betroffenen Arbeiterschichten Nordenglands kennengelernt. Jetzt aber erlebte er In Barcelona den revolutionären Kampf der Arbeiter, dessen Bedeutung er sofort begriff. In Barcelona sah Orwell, wie es aussieht, wenn die Arbeiter sich einsetzen, um ihre Sache in die eigenen Hände zu nehmen. Er schrieb: „Ich habe wunderbare Dinge gesehen und bin vom Sozialismus jetzt wirklich überzeugt, was ich vorher nie gewesen bin.“

Orwell schloß sich jetzt der repubiikanischen Armee an, um die Republik gegen die Faschisten Francos zu verteidigen. Dabei mußte er zusehen, wie die stalinistische Kommunistische Partei Spaniens – statt die Selbsttätigkeit der Arbeiter zu ermuntern – den anarchistischen und trotzkistischen Flügel der Arbeiterbewegung bekämpfte und unterdrückte, um Kompromisse mit der progressiven Bourgeoisie zu schließen. Die Kommunisten setzten auf eine Klassenallianz, um den Faschismus zu bekämpfen, statt auf die Einheit der Arbeiterklasse. Um die verbündeten Klassen zu besänftigen, mußten die Klassenforderungen der Arbeiter zurückgestellt werden. Das Streben nach Selbstbefreiung wurde so gehemmt, die Arbeiterbewegung wurde gespalten und zum Schluß besiegt. Mein Katalonien fängt mit Begeisterung für die Stimmung unter der arbeitenden Bevölkerung Barcelonas an und endet in Enttäuschung über die katastrophale Niederlage.

Orwell war überzeugt, daß der Kampf gegen Hitler einen Kampf für den sozialistischen Umsturz des Kapitalismus In Großbritannien einschließen müßte. 1941 veröffentlichte er The Lion and the Unicorn (nicht auf deutsch erschienen), das eine Untersuchung der spezifischen Möglichkeiten eines englischen Sozialismus ist. Spätestens 1942 mußte es aber Orwell klar geworden sein, daß er den Einfluß der nationalistischen Ideologie auf die arbeitende Bevölkerung unterschätzt hatte. Nie wieder wurde Orwell mit Überzeugung über die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution schreiben.

Farm der Tiere (1945) ist eindeutig ein Gleichnis über das Scheitern der Oktoberrevolution in der Sowjetunion und ein offener und verbitterter Angriff auf den Stalinismus. Es wäre aber falsch, 1984 (1949) als eine geradlinige Vertiefung oder Weiterentwicklung dieses Gleichnisses zu sehen. Orwell sagte selber, der Roman kritisiere negative Tendenzen in der englischen Labour-Party. in den Intellektuellen der Labour-Party, in der Führung der Kommunistischen Partei Spaniens und in den stalinistischen Bürokratien der Ostblockstaaten erkennt man eine ähnliche Schicht von „Bürokraten, Wissenschaftlern, Technikern, Gewerkschaftsfunktionären, Propagandafachleuten, Soziologen, Lehrern, Journalisten und Berufspoiitikern“ (1984, S.189) wieder, wie sie auch in der Aristokratie der orwellschen Gesellschaft von 1984 lebt. Der zutiefst pessimistische Roman baut auf einer ganzen Reihe von negativen Erfahrungen auf: der Niederlage im spanischen Bürgerkrieg, dem Scheitern der russischen Oktober-Revolution und dem Aufstieg des Stalinismus, der Nazi-Herrschaft in Deutschland, dem Nationalismus und dem Ausbleiben von internationaler Arbeitersolidarität; und der Nachkriegs-Labourregierung, die Orwells frühere Skepsis voll bestätigte.

1984 soll keineswegs als Nebenprodukt der antikommunistischen Hetze des bald nach Ende des Weltkriegs einsetzenden Kalten Krieges verstanden werden. Aus dem Zusammenhang gerissen könnte es so aussehen, aber wenn man die früheren Werke und Orwells Entwicklung als Sozialisten betrachtet, ist 1984 ein trauriger, jedoch konsequenter Schlußpunkt seines Werkes. Schon Der Weg nach Wigan Pier hatte die in der Arbeiterbewegung tonangebenden linken Intellektuellen als Feinde gezeichnet. Dieselben Leute wollten von der Verurteilung der Kommunistischen Partei Spaniens und der Unterstützung für die spanischen Trotzkisten, wie sie in Mein Katalonien zu finden ist, nichts wissen. Die Farm der Tiere wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, als Stalin noch Alliierter der Westmächte war, und, als das Buch im Frühjahr 1944 fertig war, wurde es von sämtlichen Verlagen abgelehnt. Der englische Verlag Faber & Faber meinte eindeutig, das Buch gehöre nicht zu den Dingen, „die zum gegenwärtigen Zeitpunkt gesagt werden sollten“.

Ein Jahr später kam das Buch allerdings der herrschenden Klasse, gerade gelegen, um Ihre Ideologie des Kalten Krieges zu untermauern und 1984 paßte auch mühelos in diese Schablone, vorausgesetzt, daß seine Beziehung auf die westliche Welt geleugnet werden konnte.

Aber „Big Brother“ aus 1984 ist nicht nur Josef Stalin, er ist auch Lord Kitchener, der Mann, der im Ersten Weltkrieg die britische Arbeiterklasse zur Verteidigung des britischen Imperialismus aufhetzte. 1984 ist eher eine, düstere, negative Bestätigung für den sozialistischen Grundsatz, daß, ungeachtet der Form ihrer Ausbeutung, die Befreiung der Arbeiterklasse nur durch die selbständige Aktion der Arbeiterklasse erreicht werden kann. Nur diese Selbstbefreiung kann zu einer klassenlosen Gesellschaft führen. Jede andere Form von sozialer Umwälzung kann bestenfalls zu einer neuen Form der alten Ausbeutergesellschaft führen.

 

 

Die permanente Kriegswirtschaft

Die fiktive Welt des Romans 1984 kann man als Orwells „staatskapitalistische Utopie“ bezeichnen. Er nannte sie nicht so, aber trotzdem stellt 1984 eine ideelle staatskapitalistische Entwicklung dar. Orwell stellte sich eine Welt vor, wo sich drei völlig selbständige Lager von Staatskapitalien herausgebildet und die Welt zwischen sich aufgeteilt haben, und wo die weltwirtschaftliche Konkurrenz damit aufgehoben und der Privatkapitalismus untergegangen ist. Nach einem Atomkrieg in den 50er Jahren und einer Periode revolutionärer Umwälzungen in den 60er Jahren haben neue herrschende Klassen die Produktionsmittel kollektiv In Besitz genommen.

Die sogenannte Abschaffung des Privateigentums die um die Mitte des Jahrhunderts vor sich ging, bedeutete in der Auswirkung die Konzentration des Besitzes in weit weniger Händen als zuvor; aber mit dem Unterschied, daß die neuen Besitzer eine Gruppe waren, statt eine Anzahl von Einzelmenschen. (1984, S.190.)

Die tatsächliche Entwicklung des Nachkriegskapitalismus war nicht so sauber und übersichtlich, wie Orwell sie sich vorstellte. Verblüffend ähnlich ist jedoch die Konstellation von Supermächten mit ihren wechselnden Bündnissen und Feindbildern (z.B. die rote Gefahr, die gelbe Gefahr, kalter Krieg und Entspannung, der Bruch zwischen China und der UdSSR nach längerer Zusammenarbeit). Aber auch die Tendenz, daß der Staat die Produktionsmittel in die eigenen Hände nimmt, war von Orwell richtig vorausgesagt. Vor allem in den emporkommenden „3. Welt“-Ländern war das Eingreifen des Staates üblich, um knappe Mittel in Schlüsselprojekte zu dirigieren, In vielen Ländern ist das direkte Staatseigentum die einzige Rechtfertigung, sich „sozialistisch“ zu nennen. Auch in den meisten entwickelten Industrieländern wie z.B. Großbritannien, Frankreich oder Italien übernahm der Staat nach dem Krieg wichtige Industriezweige, Teile der Energieversorgung und des Verkehrs.

Im großen und ganzen ist jedoch die heutige Weit nicht von der Entwicklung selbständiger Staatskapitalien und von der Abschaffung des Privateigentums bestimmt. Im Gegenteil: große Teile der Welt und die Weltwirtschaft insgesamt werden heute immer noch von privaten Multi-Konzernen beherrscht.

In Orwells Roman ermöglicht aber die Idealvorstellung von der Aufteilung der Welt in drei vollständig staatskapitalistische, selbständige Mächte die Verdeutlichung einer Tendenz im Kapitalismus, die wir die permanente Kriegswirtschaft bzw. die permanente Rüstungswirtschaft nennen.

Mit Einführung der Autarkie, bei der Produktion und Verbrauch aufeinander abgestellt sind, ist die Jagd nach Absatzmärkten, die eine Hauptursache früherer Kriege war, beendet, während der Wettstreit um Rohstoffe keine Existenzfrage mehr ist. Jedenfalls ist jeder der drei Superstaaten so groß, daß er fast alle von Ihm benötigten Materialien innerhalb seiner eigenen Grenzen finden kann. Soweit der Krieg einen unmittelbaren wirtschaftlichen Zweck hat, Ist es ein Krieg um Arbeitskräfte. (1984, S.171-2)

Diese Arbeitskräfte werden jedoch nicht benötigt, um die Produktion von Gütern für Verbrauch oder Austausch, sondern lediglich um die Produktion von Zerstörungsmitteln zu erhöhen. Denn die militärische Konkurrenz hat die Stelle der wirtschaftlichen Konkurrenz eingenommen. Die drei Superstaaten kämpfen andauernd um die wenigen verbleibenden noch nicht endgültig eroberten Weltteile.

Die mehr oder weniger offen auf die Stellung von Sklaven herabgedrückten Bewohner dieser Gebiete (der noch nicht eroberten Weltteile – d.V.) gehen dauernd von dem Besitz des einen Eroberers in den des anderen über und werden ähnlich wie Kohlenbergwerke oder Ölquellen ausgebeutet, in dem Wettlauf, mehr Waffen zu produzieren, das Vorhandene Gebiet zu vergrößern, Ober mehr Arbeitskräfte zu verfügen, und endlos so weiter. (1984, S.172)

Dies ist eine Umschreibung der berühmten marxschen Darstellung der Logik des Kapitalismus: der Kapitalist nutzt Arbeiter aus, um Produktionsmittel anzuhäufen, um in der Lage zu bleiben, mehr Arbeiter auszunützen, um noch mehr Produktionsmittel anzuhäufen, usw. im klassischen Kapitalismus wird der Kapltalbesitzer gezwungen, Produktionsmittel ständig anzuhäufen, weil sonst, fürchtet er, seine Rivalen einen entscheidenden Vorsprung bei der Produktivität erringen werden und er seine Waren nicht mehr absetzen können wird. in der Epoche des Imperialismus nimmt, wie Lenin schon festgestellt hat, militärische Konkurrenz zunehmend den Platz von wirtschaftlicher Konkurrenz ein. Dann werden aus Furcht, daß der Gegner einen entscheidenden militärischen Vorsprung erringt, Vernichtungs- statt Produktionsmittel angehäuft. So beschreibt Orwell in 1984, wie der Aufrüstungswahnsinn zum Selbstzweck wird.

Die Eingliederung der „3. Welt“ in die Superstaaten, und die Versklavung der Bevölkerung der Randgebiete haben bei Orwell noch nicht tatsächlich stattgefunden. Die grausame Logik, die immer widersinniger wird, je weiter sie fortschreitet, ist aber in der heutigen Welt wiederzuerkennen. In Orwells Welt wird sie bis zum Absurdum geführt, immer hat sie aber ihre Wurzel in der Wirklichkeit, die der Verfasser mit so nüchternen Augen sah. Die Situation nach dem 2. Weltkrieg, als Orwell seinen Roman schrieb, war nämlich so, daß die zwei wichtigsten Siegermächte, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten, die Gebiete unter ihrem Einfluß zu vergrößern versuchten, damit sie eben mehr Arbeiter ausbeuten konnten, um mehr Vernichtungsmittei anzuhäufen, um in der Lage zu bleiben, usw. ...

Damals war es das erklärte Ziel der stärkeren Macht, der USA, den Einfluß des Gegners zunächst einzudämmen und dann zurückzudrängen. Da die Sowjetunion wirtschaftlich wesentlich schwächer war und ist, konnte sie nur durch militärische Maßnahmen und die Schließung der Grenzen ihre Einflußgebiete sichern. Die USA haben es dagegen Immer bevorzugt, sich auf scheinbar eigenständige Terrorregime zu stützen und, wo notwendig, ihre berühmte Taktik der wirtschaftlichen, aber auch militärischen „Entstabilisierung“ anzuwenden.

Der militärische Wettlauf hat für das Orwellsche System weiterhin eine wirtschaftliche Funktion, die nicht offen ausgesprochen werden darf und die sich stabilisierend auswirkt:

Durch ihre Arbeitsleistung ermöglichen die Sklavenbevölkerungen eine Intensivierung der dauernden Kriegsführung. Aber wären sie nicht vorhanden, so wäre die Struktur der Weltgesellschaftsordnung und das Verfahren, durch das sie sich erhält, nicht wesentlich anders.

Das Hauptziel der modernen Kriegsführung (in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Zwiedenkens wird dieses Ziel von den leitenden Köpfen der Inneren Partei gleichzeitig anerkannt und nicht anerkannt) besteht in dem Verbrauch der maschinellen Erzeugnisse, ohne den allgemeinen Lebensstandard zu heben. („1984“. S.173)

Die Kriegsführung löst also den innewohnenden Widerspruch des Kapitalismus, nämlich „was man mit der Überproduktion von Verbrauchsgütern anfangen sollte“.

„Verbrauchsgüter mußten zwar produziert, durften aber nicht unter die Leute gebracht werden. Und in der Praxis war der einzige Weg, dieses Ziel zu erreichen, eine immerwährende Kriegsführung.

Die Hauptwirkung des Krieges ist die Zerstörung, nicht notwendigerweise von Menschenleben, sondern von Erzeugnissen menschlicher Arbeit. (...) Arbeitskraft zu verbrauchen, ohne etwas zu erzeugen, was konsumiert werden kann. (1984, S.175)

Dieser Darstellung einer Gesellschaft, in der ein Zustand permanenter Kriegswirtschaft herrscht, liegt kein wunderlicher Einfall des Schriftstellers zugrunde. Sie baut auf der theoretischen Arbeit eines amerikanischen Ökonomen auf, der unter den Namen W.T. Oakes und T.N. Vance schrieb. Sein erster Artikel erschien 1944 und schilderte, wie in der „neuen Ära“ der kapitalistischen Entwicklung die sich wiederholenden Überproduktionskrisen dadurch überwunden werden konnten, indem der Staat – z.B. in der Kriegswirtschaft der USA oder Hitler-Deutschland – eingriff, und ohne Rücksicht auf die Profitrate Überschüsse in Investitionen dirigierte.

Unter normalen Umständen neigt die Profitrate im Kapitalismus dazu, zu fallen. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, daß Profite nicht aus den Gebäuden, Maschinen und Rohstoffen (dem konstanten Kapital) des Kapitalisten errungen werden, sondern nur aus den Arbeitskräften, die ihm zur Verfügung stehen (dem variablen Kapital). Die Konkurrenz zwingt den Kapitalisten, seine Produktionskosten so niedrig wie möglich zu halten, was durch ständige technische Erneuerungen und ständigen Lohndruck erfolgt. Dieses wirkt sich aber ungünstig auf das Verhältnis zwischen (konstantem) Kapital und Arbeitskräften aus, aus denen seine Produktionskosten bestehen. Das heißt, die Kosten der ständig modernisierten Anlagen und Maschinen steigen schneller als die Lohnkosten. Maschinen ersetzen Arbeiter, die Quelle seines Profits. Der einzelne Kapitalist kann natürlich dieser Entwicklung nicht widerstehen, da technische Erneuerungen und billigere Lohnkosten ihm Konkurrenzvorteile bieten, die zeitweilig – solange seine Konkurrenten ihn nicht eingeholt haben – Extraprofite hervorbringen. Die Profitrate erreicht so endlich einen Punkt, wo es sich für den Kapitalbesitzer nicht mehr lohnt, Kapital anzulegen. Das Wirtschaftsleben kommt erst dann wieder in Schwung, wenn durch Konkurse, Abschreibungen und ähnliches genügend (konstantes) Kapital vernichtet worden ist, um ein günstiges Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit wiederherzustellen, damit die Profitrate wieder steigt.

Durch das Profitstreben und den Konkurrenzkampf wird der Kapitalist gezwungen, seine Produktionskosten niedrig zu halten. Andererseits muß er seine Waren absetzen, d. h. es muß eine zahlungsfähige Nachfrage bestehen.

Die Kaufkraft der Massen kann – unter normalen Umständen – aber nicht mit der Ausdehnung der Produktion schritthalten, da Löhne ja ein Teil der Produktionskosten sind und niedrig gehalten werden müssen. Rüstungsgüter werden dagegen nicht auf dem freien Markt abgesetzt und sie werden ebenfalls nicht eingesetzt, um die Produktion zu modernisieren. Sie verändern somit auch nicht das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit (fixem und variablem Kapital). Der Abnehmer ist in der Regel der Staat, das Machtinstrument der herrschenden Klasse, und sie dienen dazu, dieses Macht- Instrument gegenüber ihren internationalen Rivalen zu stärken. Insoweit besteht immer eine zahlungsfähige und zahlungswillige Nachfrage. Rüstungsgüter werden entweder im Krieg zerstört, oder aber sie müssen wegen Überalterung durch neue ersetzt werden.

So funktionieren Rüstungsgüter wie eine Art Sicherheitsventil, indem Überschüsse an Kapital aus dem normalen kapitalistischen Kreislauf herausgenommen werden. Orwell schreibt treffend:

„Im Prinzip wäre es ganz einfach, die überschüssige Arbeit der Weit dadurch verpuffen zu lassen, daß man Tempel und Pyramiden baut, Löcher gräbt und sie wieder zuschüttet, oder sogar große Mengen von Gütern erzeugt und sie dann wieder verbrennt. Aber damit wäre nur die wirtschaftliche, nicht aber die gefühlsmäßige Basis für eine hierarchische Gesellschaftsordnung geschaffen. (1984, S.178)

Übrigens wird das Beispiel mit den Pyramiden als Mittel „Erzeugnisse menschlicher Arbeit“ zu zerstören von Oakes/Vance übernommen. Natürlich tragen Pyramiden im Gegensatz zu Waffen wenig dazu bei, die Macht der herrschenden Klasse zu erhalten und zu mehren. Darüberhinaus hat Kriegsführung, wie Orwell hier bemerkt, eine wichtige ideologische Funktion, nämlich die Gefahr von außen als Disziplinierungsmittel nach innen zu benutzen.

Oakes/Vance war sich im klaren darüber, daß die permanente Kriegswirtschaft nur eine Zeitlang die üblichen Überproduktionskrisen des Kapitalismus überwinden konnte. Auf dem Weltmarkt müßten für die Länder, die ohne Rücksicht auf internationale Konkurrenz. rüsteten, Konkurrenznachteile entstehen, da sie auf den zivilen Sektoren langsamer modernisierten und expandierten.

Orwell stimmte mit dieser Theorie überein. Anders aber hätte es werden können, wenn wie im Roman 1984 sowohl das Privatkapital als auch die Konkurrenz auf dem Weltmarkt aufgehoben wären, in der Nachkriegszeit, kurz vor Ausbruch des Korea-Krieges, als Orwell seinen Roman schrieb, schien dies eine echte Möglichkeit zu sein. Ein Atomkrieg und der Zusammenbruch des privat- kapitalistischen Systems schienen die logischen Folgen der hoffnungslosen Lage, in der der Kapitalismus sich befand.

 

 

Der Nachkriegs-Boom

Weder Orwell noch Oakes/Vances hatten vorausgesehen, wie die permanente Kriegswirtschaft eine Belebung der zivilen Wirtschaftssektoren mit sich führen könnte. Orwell stellt eine Welt dar, wo der allgemeine Lebensstandard der, Arbeiterklasse fünfzig Jahre lang nicht verbessert wird. Nach Orwells Tod entwickelte Oakes/Vance seine Theorie weiter: er behauptete, daß bei einer Rüstungsausgabe um die 10% des Bruttosozialprodukts die Durchschnittsprofitrate erhalten werden könnte, eine höhere Ausgabe aber zu Inflation und einer Begrenzung der Produktion durch staatliche Maßnahmen fuhren würde. Er rechnete also mit einer vorübergehenden Stabilisierung der Wirtschaft, aber keineswegs mit der tatsächlichen Expansion, die in den 50er und 60er Jahren stattfand und reale Lohnerhöhungen in allen entwickelten Industriestaaten mit sich brachte.

Das Lenken von Überschüssen aus dem zivilen Sektor in den militärischen wirkte im zivilen Sektor günstig auf das Verhältnis Kapital-/Arbeitskosten d.h. auf die Profitrate. Im klassischen Imperialismus hatte der Export von Kapital eine ähnliche Wirkung gehabt. Damals ging überschüssiges Kapital in die Kolonien und wurde so aus dem kapitalistischen Kreislauf in den imperialistischen Zentren (vor allem in Großbritannien) abgeleitet. Jetzt gingen die Überschüsse in Investitionen, die tatsächlich in die Luft verpufft wurden. Auf der einen Seite verhinderte diese Verschwendung von Investitionen einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung, auf der anderen vermied sie die üblichen verheerenden Rezessionen. Stattdessen bewegte sich die Weltwirtschaft ständig nach vorne: Zwischen 1950 und 1965 doppelt so schnell wie zwischen 1913 und 1950.

Diese Entwicklung hatte niemand vorausgesehen – weder Anhänger noch Gegner des kapitalistischen Systems. Und sie machte einen Strich durch Orwells Rechnung. Denn Orwells Romanwelt beruht auf der Annahme, daß eine andauernde wirtschaftliche Stagnation im Weltmaßstab bevorstünde. In der Tat dehnte sich aber die Weltwirtschaft wie nie zuvor aus. Das schaffte etwas Spielraum für die miteinander rivalisierenden Imperialmächte, es kam nicht zum vorausgesehenen Todeskampf des Kapitalismus. Im Gegenteil, die nationalen Grenzen wurden sogar den Supermächten USA und UdSSR bald zu eng, um mit der Ausdehnung der Produktion fertig zu werden. Eine Rückkehr zur Autarkie bzw. zum Isolationismus der Zwischenkriegsperiode war nicht mehr möglich. Die westlichen zunächst vorwiegend amerikanischen multinationalen Konzerne waren in der günstigsten Ausgangsposition, um ohne Rücksicht auf nationale Grenzen die Bodenschätze der Welt auszunützen und die Produktivkräfte zu entwickeln, In dieser Situation konnte die Abkapselung eines Staatskapitals, wie in 1984 dargestellt, nur wirtschaftliche Nachteile, Rückständigkeit und damit letztlich auch militärische Konkurrenzunfähigkeit und Niederlage bedeuten.

Die belebende Wirkung der permanenten Rüstungswirtschaft auf den zivilen Sektor sowie die Multinationalisierung von Kapital sind Entwicklungen, mit denen Orwell nicht gerechnet hat. Dagegen haben der Rüstungswettlauf und die Verstaatlichung von Kapital, die wichtige Bestandteile von 1984 sind, sich in der Wirklichkeit völlig bestätigt. Die beiden Tendenzen, sowohl die Multinationalisierung wie auch die Verstaatlichung von Kapital, sind Ausdruck für die Entwicklung im Kapitalismus, wobei der Besitz der Produktivkräfte in immer weniger Händen konzentriert wird. So gesehen führt die Verstaatlichung von Kapital keineswegs die Beseitigung des Kapitalismus mit sich, sondern unter Umständen ist sie die einzige mögliche Weiterentwicklung des Kapitalismus.

Orwell schrieb:

Der Kapitalismus verschwindet, aber der Sozialismus tritt nicht dessen Erbe an. Was jetzt entsteht ist eine neue geplante, zentralisierte Gesellschaft, weder kapitalistisch noch demokratisch. Die Herrscher in dieser neuen Gesellschaft werden diejenigen sein, welche die Produktionsmittel tatsächlich kontrollieren; Geschäftsleute, Techniker, Bürokraten, Soldaten. (1984, S.189.)

Orwell hatte Recht in seiner Beobachtung, daß „neue, geplante, zentralisierte Gesellschaften“ im Erstehen waren, und daß diese Gesellschaften weder kapitalistisch – im klassischen Sinn – noch demokratisch sein würden. Er irrte sich aber völlig mit der Annahme, daß der Kapitalismus verschwände. Der Kapitalismus überlebte, dem Krieg folgte keine Todesagonie des Systems, weil eben das System durch die permanente Rüstungswirtschaft gerettet wurde. Nur dort, wo die alte Bourgeoisie unfähig war, sich unter den harten Bedingungen des Weltmarktes zu behaupten, dort wurde die Bourgeoisie enteignet und ihr Eigentum wurde von einer Staatsbürokratie übernommen.

Diese neue Klasse von Bürokraten verwaltete das Nationalkapital unter Bedingungen, die vom kapitalistischen Weltmarkt bestimmt wurden, eine Abkapselung – Autarkie – wie Orwell sie sich vorgestellt hatte, war, wie gesagt, unmöglich. Diese neuen zentralisierten Gesellschaften waren dem kapitalistischen Akkumulationszwang untergeordmet. Die Führer dieser Gesellschaften sind wie die Kapitalisten im westlichen Lager von der Steigerung der Arbeiterproduktivität und von dem Aufbau ihrer eigenen militärischen Macht, kurzum von der Aufrechterhaltung ihrer eigenen Herrschaft besessen.

Auch in den Ländern, wo das Privatkapital überlebte und gedieh, waren die Tendenzen zum Plan und zur Zentralisierung unübersehbar. In der Bundesrepublik mußte beispielsweise der Staat eine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft spielen; er durfte nicht den blinden Kräften des Marktes überlassen bleiben. Der Staat stützte die Exportindustrien, die sich auf dem Weltmarkt zu behaupten wußten, und lenkte in diese Sektoren Investitionsmittel, die die Kapitalisten selbst nie hätten aufbringen können.

Mit dem langen Aufschwung, dem Nebenprodukt der Rüstungswirtschaft, der das Überleben des Privatkapitals ermöglichte, hatte also Orwell nicht gerechnet. Gerade deswegen ist er zum falschen Schluß gelangt, daß die Welt in wenige staatskapitalistische Blöcke aufgeteilt würde. Orwells Utopie ist trotzdem gut genug, um eine wichtige Lehre zu verdeutlichen: Staatseigentum ist keineswegs dem Sozialismus gleich, auch kein Schritt in die richtige Richtung. Im Gegenteil. Staatseigentum unter bürokratischer Kontrolle Ist eine Folge der verschärften Konkurrenz und der Konzentration des Kapitalismus im Weltmaßstab. Als solches stellt es keinen Fortschritt gegenüber dem Kapitalismus dar, sondern ein neues Stadium des Kapitalismus: den Staatskapitalismus.

In dieser Entwicklung wird das Privateigentum zwar manchmal „geopfert“, aber nur, um die alten Privilegien. und die alte Herrschaft der Wenigen über die Mehrheit aufrecht zu erhalten.

Deswegen ist es doppelt gefährlich, wenn Leute, die sich als Sozialisten verstehen, beabsichtigen, Ober den Weg des Staatseigentums zum Sozialismus zu kommen. Dieser Weg führt nicht zur demokratischen Kontrolle der Arbeiter über die Produktionsmittel, sondern allenfalls zu einer neuen Form der bürokratischen Klassendiktatur. Nur durch eine eigenständige Organisierung und politische Entwicklung kann die Arbeiterklasse die Produktionsmittel als Staatseigentum in die eigenen Hände nehmen. Orwell hat verstanden und überzeugend geschildert, daß die Herrschenden in einer Gesellschaft diejenigen sind, die die Staatsgewalt kontrollieren. Was in den Jahren nach der Niederlage in Spanien bei Orwell verlorengegangen war, war eine Perspektive, um ihnen diese Gewalt zu entreißen.

 

 

Wenn es eine Hoffnung gibt

1984 ist, wie gesagt, ein zutiefst pessimistisches Buch. Die Rebellion des Hauptcharakters Winston Smith hat von vornherein keine Chance auf Erfolg. Es liegt auch nichts Heldenhaftes in seiner Rebellion. Von Anfang an wird er genau überwacht, und wenn die Zeit dafür reif ist, wird er mühelos ausgeschaltet. Er wird verfolgt, gefoltert und „umgepolt“, sein Widerstand erlöscht, sogar sein persönlicher Haß auf das System wird vertilgt.

Winstons Rebellion drückt sich zunächst in seiner sexuellen Beziehung aus. Seine Affaire mit der Kollegin und Parteigenossin Julia ist mehr als Zuflucht vor einer unerträglichen Wirklichkeit. Sie ist ein bewußter Schritt, um menschliche Werte gegenüber dem inhumanen Machtapparat zu bewahren und zu hegen.

Ihre Umarmung war ein Kampf gewesen, der Höhepunkt ein Sieg. Es war ein gegen die Partei geführter Schlag. Ein politischer Akt. (1984, S.117)

Daß dieser Kampf aussichtslos ist, solange er in der privaten Sphäre und ohne gesellschaftliche Folgen bleibt, das weiß Winston. Sein nächster Schritt ist es, sich der Opposition in der Partei anzuschließen. Diese Opposition ist natürlich illegal und geheim, wir wissen nicht einmal, ob es sie tatsächlich gibt. Sie ist weiterhin auf die Partei beschränkt, d.h. auf höchstens 15% der Bevölkerung, Nur die Innere Partei kann man übrigens als herrschende Klasse bezeichnen, die Äußere Partei, zu der Winston gehört, besteht aus kleinen Angestellten, Büro-Arbeitern, Funktionären, die mit minimalen Privilegien gekauft worden sind. Die „Proles“, die unterdrückten Massen, sind die übrigen 85%. Die einzige Perspektive dieser Partei-Opposition, die die überwältigende Mehrheit des Volkes außer Acht läßt, sind terroristische Sabotage-Aktionen, deren geringe Erfolgschancen schon bei Winstons Einweihung deutlich gemacht werden. Durch die Erstellung einer Liste aller möglichen verzweifelten und sinnlosen Handlungen unterstreicht Orwell, daß der Terrorismus kein Ausweg ist.

Daß der einzige Ausweg in der eigenständigen Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse liegt, wird ziemlich früh angedeutet. Wenn es eine Hoffnung gibt, liegt sie bei den Proles, stellt Winston in seinem Tagebuch fest. Nur, die Voraussetzungen für eine solche Selbsttätigkeit scheinen kaum vorhanden zu sein. Die Massen haben genug mit dem alltäglichen Leben zu tun, und wegen der Volksverdummungstaktik der Herrschenden bleibt im Volk an Bewußtsein wenig übrig. Wenn dann Winston in einer Kneipe einem Proleten begegnet, kann dieser ihm wenig über die Geschichte der Arbeiterklasse erzählen.

Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam Winston. Die Erinnerung des alten Mannes war weiter nichts als ein Kehrichthaufen von Einzelheiten. Man hätte ihn den ganzen Tag ausfragen können, ohne eine einzige vernünftige Auskunft zu bekommen. Die Geschichtsdarstellungen der Partei konnten zur Hälfte wahr sein; ja, sie konnten sogar vollkommen wahr sein. (1984, S.88)

Nach dieser enttäuschenden Begegnung mit der Arbeiterklasse kehrt Winston der Möglichkeit einer proletarischen Revolution den Rücken. Wie Orwell in seinen Untersuchungen in Wigan macht Winston Smith hier die Erfahrung, daß die Arbeiterklasse atomisiert ist, sich selbst als Klasse gar nicht bewußt und den Ideen der herrschenden Klasse ausgeliefert. Etwa ein Jahrzehnt war vergangen, seitdem Orwell Der Weg nach Wigan Pier geschrieben hatte. In dieser Zeit hatte er die Niederlage in Spanien erlebt, ihm war darüber die Entartung der Revolution in Rußland klar geworden. Er hatte gesehen, wie die Arbeiter in Europa sich gegenseitig abschlachteten. Und zum Schluß erlebte er den Ausverkauf der Hoffnungen der Arbeiter in Großbritannien durch die nach dem Krieg gewählte „Labour“-Regierung. Diese Ereignisse bestätigten für Orwell seine frühere Skepsis und begruben die Erinnerungen an Katalonien, damals, als er vom Sozialismus „wirklich überzeugt“ war.

Wir haben schon festgestellt, daß für Orwell die zentrale Rolle der Arbeiterklasse für eine tiefgreifende Änderung der Gesellschaft kein Dogma war. Seine gesellschaftlichen Untersuchungen hatten aber die marxistische Lehre bestätigt, daß nur diese Klasse potentiell die Stärke hat, um diese notwendige Änderung herbeizuführen, und zweitens, daß nur diese Klasse überhaupt in der Lage ist, die Klassengesellschaft endgültig aufzuheben.

Freiheit ist die Freiheit zu sagen, daß zwei und zwei gleich vier ist. Sobald das gewährleistet ist, ergibt sich alles andere von selbst. (1984, S.77)

Diese Bemerkung hatte Winston Smith ziemlich früh in seinem unerlaubten Tagebuch niedergeschrieben. Nur die Einsicht bringt ihn allerdings nicht weit, da es eine solche Freiheit nie geben wird, solange die herrschenden Verhältnisse bestehen. Wo eine Minderheit herrscht, müssen bestimmte Verhältnisse verschwiegen, die wahren Verhältnisse verschleiert werden. Dieser Zustand erklärt die Heuchelei der herrschenden Klasse, die Orwell verabscheute und für die er in 1984 das Wort „Zwiedenken“ erfand.

Im früheren erwähnten Beispiel von Zwiedenken zeigt Orwell, wie einerseits der herrschenden Klasse bewußt ist, daß die permanente Kriegsführung ihre eigene Herrschaft aufrechterhält. Andererseits darf dies nicht öffentlich zugegeben werden: Die ganze Gesellschaft muß fest an die Gerechtigkeit des Kampfes und an die Unvermeidlichkeit des Sieges glauben. Um noch ein; Beispiel – aus der Wirklichkeit – anzuführen: Die Kapitalisten selbst müssen wissen, daß Werte aus menschlicher Arbeit entstehen, um diese Arbeit auszunützen und sich die Werte aneignen zu können. Gleichzeitig dürfen sie es nicht zugeben und so verbreiten sie die Idee, daß Werte durch Investitionen und freies Unternehmertum usw. entstehen. Der Glaube daran ist für sie bequemer als. das Wissen um die Wahrheit.

Erst wenn die Mehrheit die Produktionsmittel in Besitz nimmt, erst dann werden die wahren Verhältnisse offen ausgesprochen werden dürfen. „Wo Gleichheit gilt, da kann der gesunde Menschenverstand walten,“ meinte Orwell. (S.203) Damit wollte er sagen, daß die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse die Befreiung aller in sich einschließt.

Zum Schluß wird dies ein unlösbares Dilemma für Winston Smith wie auch für Orwell: auf der einen Seite die Notwendigkeit und auf der anderen die Unmöglichkeit einer proletarischen Revolution. Das Monopol der herrschenden Klasse über die Ideen in der Gesellschaft machte augenscheinlich eine selbständige Entwicklung der Arbeiterklasse unmöglich.

In dieser Hinsicht stellt sich die Frage, warum Orwell sich so wenig mit der Frage der selbständigen Organisierung der Arbeiterklasse auseinandersetzte. Denn es ist ebenfalls ein marxistischer Grundsatz, daß die Ideen, die in einer Gesellschaft herrschen, zu jeder Zeit die Ideen der Herrschenden sind. Gerade deswegen müssen die Arbeiter sich eigenständig organisieren, um die kapitalistische Herrschaft organisatorisch und ideologisch zu bekämpfen und letztlich die Herrschaft über die Gesellschaft für sich erringen. Allein und isoliert ist der Arbeiter gegen die Ideen, die die herrschende Klasse verbreitet, unbewaffnet und hilflos, wie Winston Smith feststellen mußte.

Auf seinem Weg von Eton College zur Schule des spanischen Bürgerkrieges ist Orwell nie auf die zwingende Notwendigkeit gestoßen, sich einer Arbeiterpartei anzuschließen. Im Gegenteil, er wurde von den Intellektuellen in der „Labour-Party“ und von den führenden Stalinisten in den Kommunistischen Parteien abgestoßen. In den reformistischen und stalinistischen Arbeiterparteien sah Orwell auch nicht die Freiheit zu sagen, daß zwei und zwei gleich vier ist. Diese Ablehnung der selbsternannten Befreier der Arbeiterklasse, die zuerst in Der Weg nach Wigan Pier auftauchte, wurde immer stärker. „Überall in der Welt haben sich totalitäre Ideen in den Köpfen der Intellektuellen festgesetzt“, bemerkte er schließlich zu seinem letzten Roman, in dem er versuchte, „diese Ideen logisch zu Ende zu denken.“

Orwell bekannte sich jedoch immer noch zum politischen Kampf. Man müßte „den politischen Kampf weiterführen, so wie en Arzt versuchen muß, das Leben des Patienten zu retten, der wahrscheinlich stirbt“. Im Vergleich zu den berauschenden ersten Seiten von Mein Katalonien ist dies eine traurige Perspektive.

 


Zuletzt aktualisiert am 4.5.2002