Jonathan Neale

AIDS-Politik

(1991)


Jonathan Neale, The Politics of AIDS, International Socialism 53, Vierteljahreszeitschrift der Socialist Workers Party, London, Winter 1991.
Aus dem Englischen: Rosemarie Nünning.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan for REDS – Die Roten.


Aids wurde vor zehn Jahren entdeckt. Inzwischen sind etwa 500.000 bis eine Million Menschen gestorben. Vielleicht haben 10 Millionen HIV, den Virus, der Aids verursacht. Die Zahlen sind reine Schätzungen. Es kann sein, dass 20 Millionen sterben werden. Vielleicht 50 Millionen. Vielleicht mehr. Seit acht Jahren wissen alle, die es angeht, wie der Virus zu stoppen ist. Er wurde nicht gestoppt. Dieser Artikel versucht zu erklären, warum. [1]

Zuerst müssen wir die Krankheit verstehen. Aids wird durch den Human Immunodeficiency Virus, HIV (menschliches Immundefektvirus) verursacht. [2] HIV kommt hauptsächlich in menschlichen weißen Blutkörpern vor, besonders in den „T-Helferzellen“. Der Virus lebt innerhalb dieser Zellen und vermehrt sich langsam. Schließlich bricht der Virus aus der Zelle aus und treibt im Blut, bis er neue T-Zellen findet. Jedes Mal wenn der Virus ausbricht, tötet er die alte Wirtszelle. Über einen langen Zeitraum hinweg zerstört der Virus fast alle T-Zellen in einem Körper. Das dauert normalerweise zehn bis fünfzehn Jahre. Es kann aber auch viel länger dauern.

Das Problem ist, dass T-Zellen ein lebenswichtiger Teil des Immunsystems sind. Wenn der Körper Bakterien ausgesetzt ist, produziert das Immunsystem die Antikörper, um die Bakterien zu zerstören. Die Mechanismen dabei sind komplex und noch nicht völlig erforscht, aber wenn man das Immunsystem mit einer Autofabrik vergleicht, dann sind die T-Zellen eine bestimmte Stelle des Fließbandes. Ohne T-Zellen kann der Körper keine Antikörper herstellen, und ohne Antikörper kann der Körper keine Bakterien abwehren.

Deshalb sind Menschen mit zu viel HIV in ihrem Blut nicht länger fähig, Krankheiten zu bekämpfen. Alltagskrankheiten geraten außer Kontrolle und werden gefährlich. Seltene Krankheiten werden alltäglich. Die Abwehrmechanismen des Körpers brechen allmählich zusammen. Es dauert durchschnittlich zehn bis zwölf Jahre von der Virusinfektion (HIV) bis zum Ausbruch der schweren Krankheit (Aids).

Wie überträgt sich HIV von Mensch zu Mensch? Zur Erinnerung: HIV lebt hauptsächlich in weißen Blutkörpern, und ein gesundes Immunsystem kann sehr kleine Mengen HIV beseitigen. Die Gefahr liegt in Körperflüssigkeiten mit großen Konzentrationen von weißen Blutkörpern: Blut, Menstruationsblut, Sperma und Vaginalflüssigkeit. Körperflüssigkeiten, in denen weiße Blutzellen kaum vorhanden sind, sind sicher: Speichel, Tränen und Urin. Scheiße ist aus denselben Gründen sicher.

Der Virus kann außerhalb des menschlichen Körpers nicht lange überleben. Weil er nicht in Speichel oder Urin lebt, kann er weder durch Küssen oder Kaffeetassen oder Toilettensitze oder Umarmen eingefangen werden. Er lebt nicht in der Luft oder in Wassertropfen in der Luft. Er kann nicht durch Wassertrinken oder Atmen übertragen werden. Er muss von den weißen Blutkörpern einer Person in den Blutkreislauf einer anderen gelangen. Es macht nichts, wenn du das Blut irgendeines Menschen auf deine Brust oder deine Hände bekommst. Du kannst es abwaschen. Er muss von weißen Blutkörpern zu weißen Blutkörpern ohne Kontakt mit der Luft übertragen werden.

Somit gibt es tatsächlich nur drei Wege, über die der Virus übertragen werden kann. Der erste ist bei vaginalem oder analem Sex (fachsprachlich „Penetration“). Nehmen wir als Erstes vaginalen Sex. Wenn ein Mann HIV in seinem Blut hat, wird er ihn sehr wahrscheinlich auch in seinem Sperma haben. Dringt er in die Vagina einer Frau ein, dann kann der Virus in die Gebärmutter gelangen und von dort durch die Wände der Gebärmutter in den Blutkreislauf. Benutzt er ein Kondom, kann dies nicht passieren. Das Kondom fängt das Sperma auf und deshalb auch den Virus. Was den Mann betrifft, kann der Virus in ihrer Vaginalflüssigkeit durch die kleine Öffnung an der Eichel seines Penis und zurück in seinen Blutkreislauf gelangen. Trägt er ein Kondom über der Eichel, wird der Virus durch das Gummi gehindert, durch diese Öffnung zu dringen.

Ähnlich ist es auch bei analem Sex. Dringt ein Mann in den Anus ein und hat den Virus in seinem Sperma, kann er direkt durch die Wand des Anus in den Blutstrom gelangen. Das Risiko für ihn ist geringer – es gibt keine Vaginalflüssigkeit im analen Kanal. Aber manchmal gibt es dort Blut, und das kann wieder durch die kleine Öffnung an der Spitze des Penis dringen. Noch einmal: Trägt er ein Kondom, ist diese Spitze geschützt und der Samen wird gefangen.

Natürlich reißen Kondome manchmal, und sie reißen häufiger bei analem Sex. Deshalb entscheiden einige, keine Kondome zu benutzen und auf penetrativen Sex ganz zu verzichten. Das ist eine individuelle Frage. Auf jeden Fall wäre der Gebrauch von Kondomen ausreichend, um die Verbreitung des Virus zu stoppen.

Abgesehen von vaginalem und analem Sex, ist alles andere sicher. Ihr könnt in der Hand, auf dem Bauch oder zwischen den Beinen eines anderen Menschen kommen. Ihr könnt euch gegenseitig schlagen oder peitschen, ihr könnt euch schmutzige Geschichten erzählen oder gegenseitig an euren Zehen saugen. Ihr könnt alles tun, was euch beiden gefällt. Und obwohl sich Menschen durch oralen Sex mit dem HI-Virus infiziert haben, ist das eine Ausnahme. [3]

Neben Sex ist der andere wichtige Weg, über den der Virus verbreitet wird, der von Blut zu Blut. Offensichtlich ist das bei Blut- oder Plasmatransfusionen (wie Faktor 8). Das ist seit 1982 bekannt. In einigen Ländern wird das Blut seit 1985 getestet. In vielen armen Ländern geschieht das nicht.

Die größte Infektionsgefahr durch Transfusionen liegt in einer „Do it yourself!“-Transfusion, wenn Menschen Drogen injizieren und Spritzen teilen. Die Gefahr liegt nicht in der Droge; du kannst schnupfen oder rauchen was du willst. Das Problem entsteht dadurch, dass Menschen, die selbst spritzen, in eine Vene kommen müssen. Glauben sie, eine Vene gefunden zu haben, dann ziehen sie den Kolben zurück. Gibt es Blut in der Spritze, dann wissen sie, dass sie in der Vene sind. Wird die Spritze geteilt, injizieren sie einen Teil des Spritzeninhalts in sich selbst. Dann wird die Spritze an die nächste Person übergeben und diese injiziert sich das Blut der ersten. Die Lösung dafür ist offensichtlich: eine eigene Spritze für jede Person.

Es kann auch passieren, dass Krankenhelfer sich zufällig das Blut eines anderen Menschen mit HIV injizieren, aber das ist höchst selten. [4] Blutübertragung und Sex bilden die Hauptgefahr. Der Virus kann auch durch die Mutter an das Kind vor der Geburt weitergegeben werden. Das geschieht in weniger als 20 Prozent der Schwangerschaften, in denen die Mutter HIV hat. Es ist eine Tragödie, wenn es dazu kommt. Jedoch wird der Virus selten von diesen Kindern auf andere Kinder oder Erwachsene übertragen, weil sie in der Regel vor der Pubertät sterben.

HIV kann gestoppt werden, wenn Menschen Kondome benutzen und wenn diejenigen, die Drogen spritzen, kostenlos Nadeln bekommen. Es ist so einfach. Das meiste ist seit 1982 bekannt, fast alles seit 1983, und alles seit 1984. Warum geschah trotzdem nichts?

 

Öffentliches Gesundheitswesen

Wir müssen damit beginnen, die Widersprüche des öffentlichen Gesundheitswesens zu begreifen. Die herrschende Klasse hat widerstreitende Interessen. Auf der einen Seite braucht sie gesunde Arbeiterinnen und Arbeiter. Wir selbst wollen das Gesundheitswesen, und sie will uns nicht mehr als notwendig ihrem System entfremden. Und die Mitglieder der herrschenden Klasse bekommen dieselben Krankheiten wie wir. Seit dem 19. Jahrhundert wissen sie durch Epidemien wie Gelbfieber oder Cholera oder Pocken, dass sich Krankheiten letztendlich vom östlichen Ende der Stadt zum westlichen ausbreiten können. Ein großer Teil ihrer Sorge hinsichtlich Aids konzentriert sich auf Prostitution, der Bereich, in dem sie besonders heucheln und uns am unmittelbarsten ausnehmen.

Andererseits gibt es die Kosten des öffentlichen Gesundheitswesens. Sie sind zum einen finanzieller Art, deshalb wird meistens zu wenig zu spät getan. Zum anderen aber sind es politische Kosten. Das ist ihr größtes Problem mit HIV.

Stell dir nur eine sinnvolle Regierungskampagne gegen HIV vor: Prinzessinnen und Präsidenten, Generalsekretäre und Päpste treten im Fernsehen auf und sprechen offen über Sex. Sie sagen, Analverkehr zwischen Männern ist im Grunde dasselbe wie Vaginalverkehr zwischen Männern und Frauen, mit derselben Hoffnung auf Vergnügen und Liebe. Drogengebrauch wird legalisiert. Kostenlose Kondome sind frei verfügbar. Es gibt eine öffentliche Debatte über Risiken und Vergnügen beim oralen Sex. Regierungen sagen: „Sex ist gut, also übernimm die Kontrolle über dein eigenes Sexualleben.“

Du verstehst das Problem. Nicht, dass die herrschende Klasse prüde ist – einige von ihnen sind es, aber viele nicht. Tatsächlich gibt es für sie eine politische Notwendigkeit, die Kontrolle über Sexualität und ihre Entstellung im Leben der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten. Dafür gibt es etliche Gründe.

Der erste ist die Familie. Der Kapitalismus braucht die Familie aus ökonomischen Gründen. Die Kosten der Versorgung von jungen, alten und behinderten Menschen haben die Mitglieder der Familien zu tragen, die für Lohn arbeiten, nicht der Staat oder das Kapital. Wenn der Kapitalismus die Familie in seiner jetzigen Form verteidigt, heißt das, alle Formen sexueller Aktivität zu attackieren, die außerhalb der Familie stattfinden. [5]

Aber unsere herrschende Klasse benötigt auch bis zu einem gewissen Grad unsere passive Zustimmung zu ihrem System. Das ist keine einfache Angelegenheit für sie. Wenn uns unsere simplen wirtschaftlichen Interessen in den Kampf gegen das Kapital treiben, ist es für sie umso wichtiger, den ganzen ideologischen Müll in unseren Köpfen zu bestärken. So funktioniert Rupert Murdochs Zeitung Sun in England oder Springers Bild in Deutschland. Bei jedem wichtigen Streik liefern diese Zeitungen die Argumente, die die Reaktionäre an den Arbeitsplätzen benutzen, um ihre Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen, nicht zu streiken oder sogar Streikbrecher zu spielen. Bei jedem wichtigen politischen Thema versorgen sie die Reaktionäre am Arbeitsplatz ebenfalls mit ihrer Munition.

Aber Sun und Bild hätten keine Massenleserschaft, wenn sie einfach Zeitungen für Rechte wären. Sie überleben auf Grund ihrer Berichte über Sport, TV und Sex. Und ihre Haltung zu Sex ist äußerst zwiespältig. Diese Blätter sind durchtränkt von Sex und von der Ablehnung von Sex. Eine geifernde, moralistische Story über eine Vergewaltigung steht neben einem Bild von einer halb bekleideten Frau. Diese Zeitungen finden den ideologischen Müll in unseren Köpfen und heizen ihn an. Dann benutzen sie diese Atmosphäre der Reaktion, um die allgemeine reaktionäre Ideologie der Zeitungen zu transportieren. Das Ziel ist, uns alle in Streikbrecher und schuldbewusste Onanierer zu verwandeln. Das ist natürlich nur zum Teil erfolgreich.

Unsere herrschende Klasse hat ebenfalls ein Interesse zu verhindern, dass wir bewusst Kontrolle über unsere eigene Sexualität übernehmen. Eine Frau, die sich wegen einer Abtreibung schämt, ist eingeschüchtert und fühlt sich minderwertig. Ein Schwuler, der sich nicht traut, öffentlich zu seiner Homosexualität zu stehen, ist eingeschüchtert und fühlt sich minderwertig. Eine Frau, die auf Benutzung von Kondomen besteht, übernimmt Kontrolle über einen Teil ihres Lebens. Und unser Sexualleben ist nicht hermetisch abgeschottet von unserem politischen Leben und Arbeitsalltag. Wir sind gleichzeitig liebhabende, arbeitende und politische Wesen. Jedes gewachsene Selbstbewusstsein und jedes Stück Kontrolle, das wir uns erobern, rinnt zurück von unserem privaten in unser öffentliches Leben.

Die marxistische Tradition ist für Sex. Sex ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Arbeit ist ebenfalls ein grundsätzlich menschliches Bedürfnis, aber unter kapitalistischen Bedingungen wird Arbeit verbogen, gebrochen, kontrolliert, mystifiziert und entfremdet. Der Arbeit wird jedes Vergnügen, jede Befriedigung und Liebe entzogen. Sexualität ist genauso gebrochen, kontrolliert, entfremdet, mystifiziert und des Vergnügens, der Befriedigung und Liebe beraubt. Aber es gibt gleichzeitig einen ständigen Kampf über Arbeit und Sex. Arbeiterinnen und Arbeiter versuchen, kollektiv den unangenehmsten Jobs noch ein Stück Kontrolle und Befriedigung abzuringen. So ist es auch mit Sex. Es gibt einen öffentlichen und politischen Kampf für sexuelle Befreiung, an dem Marxistinnen und Marxisten immer teilnehmen müssen. Und es gibt einen vielfältigen individuellen Kampf, die moralischen Vorschriften der kapitalistischen Gesellschaft aus unseren Betten zu drängen. Unsere Siege sind immer nur Teilsiege, unsere Liebe und unser Vergnügen niemals getrennt von der Außenwelt. Erstaunlich dabei ist aber nicht, wie wenig Liebe, Gleichheit und Vergnügen wir erreichen können, sondern wie viel.

All diese Dinge versteht unsere herrschende Klasse. Einige verstehen es bewusst, einige intuitiv. Margaret Thatcher hatte keine Probleme mit Schwulen – sie berief sie in ihr Kabinett. Aber sie war gleichzeitig die treibende Kraft hinter dem Clause-28-Angriff [6] auf Schwule und Lesben. Cecil Parkinson war einer ihrer Minister. Als seine Sekretärin und Geliebte schwanger wurde, forderte er eine Abtreibung. Gleichzeitig stimmte er im Parlament für jede Antiabtreibungsmaßnahme. Ronald Reagan unterstützte christlichen Fundamentalismus, war gegen Abtreibung, vögelte herum und forderte von seiner Geliebten eine Abtreibung. Nicht, dass alle Heuchler wären, aber welche persönlichen Ansichten sie auch haben, sie müssen die Familie und die Kontrolle über Arbeiterinnen und Arbeiter aufrechterhalten.

Das oben Geschriebene ist eine vereinfachte Version eines komplexen Prozesses, von dem viel unbewusst abläuft. Aber es reicht für unsere Zwecke. Es ist klar, warum die herrschenden Klassen der Welt keine vernünftige öffentliche Kampagne zu Aids organisieren können. Das heißt nicht, dass sie es einfach alle ignorieren wollten. Sie haben – zur Erinnerung – auch ein Interesse an „Volksgesundheit“. Deshalb haben sie zum Beispiel in England TV-Spots produziert, die Menschen sinnlos zu Tode erschrecken statt aufzuklären. Sie brauchten eine Kampagne, aber einen Inhalt, der ohne moralische Einschränkungen Sexualität anspricht, hätten sie nicht ertragen können.

 

USA und New York

Es wäre möglich, Beispiele aus der ganzen Welt zu bringen, aber der Platz ist beschränkt, also sehen wir uns New York City an. In New York gibt es HIV spätestens seit den 70er Jahren. Über 100.000 sind in den Vereinigten Staaten gestorben und über 40.000 davon in New York. Die Stadt erlebte eine Aids-Krise seit Anfang der 80er Jahre. Und das waren die Reagan-Jahre.

Ronald Reagan gelangte zur Macht als Teil eines größeren politischen Projekts der amerikanischen Rechten. Mehrere Fäden kamen zusammen. Erstens: Angriff auf die organisierte Arbeiterklasse. Dafür wurde die Streikbewegung der Fluglotsen gebrochen und die Gewerkschaftsführer wurden dazu gebracht, Arbeitsverträge über niedrigere Löhne zu unterschreiben. Zweitens: Angriff auf Sozialleistungen jeglicher Art. Es gab massive Kürzungen bei Gesundheitsprogrammen, Ausbildung und sozialen Diensten. Drittens: Rollback der Politik der 60er Jahre. Dies war der Versuch, das „Vietnamsyndrom“ rückgängig zu machen – sowohl international als auch im eigenen Land. Innerhalb der USA bedeutete das auch einen fortgesetzten Angriff auf alle Bewegungen und Ideologien dieser Jahre. Es hieß, das Bild von schwarzen Arbeiterinnen und Arbeitern als Aufständische und Aktivisten zu verwandeln in „innerstädtische“ Kriminelle und Drogenabhängige. Und es hieß auch, die Homosexuellen-Befreiung anzugreifen.

Deshalb tat die Reagan-Regierung in ihren ersten fünf Jahren nichts gegen Aids. Reagan selbst sprach das Wort in der Öffentlichkeit nicht aus. 1987 tat er es: Er forderte Routinetests. Der Kongress stellte minimale Geldsummen für Forschung über Medikamente und Behandlungen zur Verfügung, aber viel von diesem Geld wurde niemals ausgegeben. Es gab Ärzte und Wissenschaftler, die es ausgeben wollten. Aber die Administration drohte, Wissenschaftler und Manager im medizinischen Bereich zu entlassen, wenn diese veröffentlichten, dass das Geld nicht benutzt wurde. Gelder für Arzneimittel und wissenschaftliche Forschung wurden im Allgemeinen beschnitten. Jeder Pfennig für Aids hätte weniger Geld für schon bestehende Programme bedeutet, die bereits von Kürzungen bedroht waren. [7] 1987, als die Epidemie sich zunehmend verbreitete, stellte der Kongress 374 Millionen Dollar für die Aids-Forschung eines Jahres zur Verfügung, aber das Geld wurde nicht ausgegeben. [8]

Das war nicht nur ein schwerwiegendes Problem für Amerikaner. Die USA sind das Zentrum grundlegender wissenschaftlicher Forschung in fast jedem Wissensbereich. Wenn es notwendig war, alle Fähigkeiten von Wissenschaftlern zu mobilisieren, um Aids zu verstehen und zu heilen, dann musste dies in den amerikanischen Labors und Universitäten geschehen. Die gleiche Indifferenz der Regierung gab es in England und noch mehr Kürzungen bei den Ausgaben für wissenschaftliche Forschung. Deshalb gibt es hier fast keine wissenschaftliche Aids-Forschung – nur ist die britische Wissenschaft nicht so entscheidend.

Immerhin: Ein Medikament wurde entwickelt. AZT ist kein Heilmittel. Für die meisten Menschen verlangsamt es die Wachstumsrate des Virus. Es wirkt besser bei noch gesunden Menschen, als bei denen, die bereits Krankheitssymptome zeigen. Bei vielen erzeugt es ernsthafte Nebenwirkungen, besonders bei schon kranken Menschen. Viele Aids-Kranke hassen es wegen der Nebenwirkungen. Viele wurden verwirrt und gleichzeitig wütend, weil sie eine Heilung erwarteten, aber ihre Freunde trotz der Einnahme von AZT starben.

Die amerikanische Regierung hat die Lizenz für AZT. Sie gaben sie kostenlos an eine privatisierte britische Gesellschaft, Burroughs Wellcome, ab. Die Financial Times berichtet alle Aids-Neuigkeiten im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die Aktienkurse von Burroughs Wellcome. Die Aktien stehen sehr gut. Aber die Existenz von AZT hat sich als Hindernis ausgewirkt, neue Medikamente zu testen. Der meiste Teil der Medikamentenforschung konzentriert sich auf weitere Versuche mit AZT, nicht mit anderen Mitteln. Bis jetzt wurde nur ein weiteres brauchbares Medikament entwickelt: ddI. Wie AZT ist es kein Heilmittel.

AZT kostete 1987 in den USA 8.000 Dollar pro Jahr. Das lag außerhalb der Reichweite der meisten amerikanischen Arbeiter und Arbeiterinnen. Afrikanische Arbeiterinnen und Arbeiter können nicht einmal davon träumen. Nach Jahren der Forschung haben die Ärzte gerade einmal herausgefunden, dass die halbe Dosierung von AZT so gut ist wie die ganze. Es sieht so aus, als würde sogar schon ein Viertel der Dosis reichen. [9]

Aber es gibt eine größere Schwierigkeit bei der Forschung – sie konzentriert sich fast vollständig auf Medikamente. Das wirkliche wissenschaftliche Problem besteht darin, dass das Wissen über das Immunsystem noch zu gering ist. Die Grundlagenforschung hierfür würde viel teurer sein. Sie könnten es sich natürlich leisten. Sie konnten sich den Golfkrieg leisten. Aber sie haben es nicht getan. [10]

Dazu kommt, dass die USA kein nationales Gesundheitssystem haben. Menschen sind krankenversichert, wenn sie arbeiten. Ohne Arbeit sind sie nicht versichert, oder sie haben einen Job ohne versichert zu sein, oder die Krankenversicherung übernimmt nur einen kleinen Teil der anfallenden Kosten. In New York müssen die Arbeitslosen und viele der nicht versicherten Arbeiterinnen und Arbeiter die Notaufnahmen der städtischen Krankenhäuser für eine medizinische Behandlung nutzen. Vier Stunden sind eine kurze Wartezeit und es kann auch vier Tage dauern. Ärzte in den Krankenhäusern wollten Aids-Kranke nicht behandeln. Sie fürchteten, in den Geruch eines Slum-Krankenhauses zu kommen, dem Staat und Stadt die Bezahlung der Behandlung verweigern könnten. Deshalb wiesen sie die Ärzte an, keine Diagnose zu stellen. Mitte der 80er Jahre wurden Rechtsanwälte der Wall Street mit Aids von Ärzten aufgefordert, in die Notaufnahme zu gehen und dort sechs bis zwölf Stunden zu warten, oder wie lange auch immer es dauerte, bis sie bewusstlos auf dem Boden zusammenbrachen. Erst dann konnten sie hoffen, behandelt zu werden.

Die Stadt New York tat ebenfalls nichts für Menschen mit HIV oder Aids. Sie hatten eine „Krise der Steuereinnahmen“. New York ist die reichste Stadt im Zentrum des Weltkapitals. Die 80er Jahre waren Boomjahre für New York, aber die „Finanzkrise“ führte zur Einschränkung der öffentlichen städtischen Dienste, um die Immobilienbesitzer, die Trumps und Ferraros, vor dem Horror der Steuerzahlung zu schützen. [11] Kleine Summen tröpfelten in Selbsthilfeorganisationen von Schwulen, vorausgesetzt, sie schwiegen zu politischen Fragen.

So war es für Menschen, die wussten, dass sie HIV haben. Von größerer Dringlichkeit war Prävention. Es gab „Initiativen“ hier und dort. Aber die Bundesregierung und die Stadt taten nichts für Prävention. Konnte der widerwärtig heterosexuelle Präsident der Vereinigten Staaten das Wort nicht einmal aussprechen, so war der heimlich homosexuelle Bürgermeister von New York nicht einmal bereit, eine Delegation von Schwulen zu empfangen, um das Thema zu diskutieren.

Aber es gab Widerstand.

 

Die Politik der Schwulen

Aids ist keine „Schwulenkrankheit“. In Europa, Afrika und Asien ist die Mehrheit der Menschen mit HIV heterosexuell. Aber dies ist ein politischer und kein medizinischer Aufsatz. Über Widerstand zu sprechen, heißt deshalb, über Schwulenpolitik zu sprechen. Es gab drei wichtige Siege, die durch schwule Politik in Amerika im Kampf gegen HIV gewonnen wurden.

Der erste war die Entdeckung der Krankheit selbst. 1979 wussten Ärzte in New York, dass viele injizierende Drogenbenutzer an etwas starben, das sie „Junkiegrippe“ nannten. Niemand achtete besonders darauf – der Tod von Drogenbenutzern wurde erwartet. [12] Es war die Strafe für ihre erbärmliche Existenz.

Dann entwickelten etliche junge Männer ein Syndrom, das eine seltene Art von Hautkrebs beinhaltete: „Kaposi Sarkom“. Alle waren offen schwul. Viele von ihnen gingen zu offen schwulen Ärzten. Diese Ärzte waren formell und informell mit anderen schwulen Ärzten organisiert. Sie gingen nicht davon aus, dass ihre Patienten den Tod verdienten. Sie verglichen Daten und identifizierten „Gay Related Immune Deficiency“ (Schwulenspezifische Immunschwäche). Wenn diese Patienten und Ärzte in ihrem Versteck geblieben wären, wären weitere hunderte an etwas gestorben, was „Schwulengrippe“ genannt wurde.

Manchmal nehmen wir das Ausmaß unserer historischen Siege erst wahr, wenn wir in die Vergangenheit zurückblicken. Stell dir für einen Moment vor, was Aids ohne die Bewegung gegen die Unterdrückung von Lesben und Schwulen, ohne Gay Liberation, gewesen wäre. Wir haben genug von dem Leiden der Männer gesehen, die unfähig waren, ihre Sexualität auch nur zu erwähnen, und die plötzlich durch Symptome von Aids, durch Atemnot oder Flecken im Gesicht „enttarnt“ waren. Wir haben genug Beerdigungen gesehen, wo die Krankheit des toten Mannes niemals erwähnt wurde, der Sarg wird abgeschlossen und der Liebhaber vor der Kirchentür ausgeschlossen. Stell dir vor, das wäre allgemein so, das wäre die Erfahrung nahezu aller Schwulen mit Aids. Stell dir vor, es hätte keinen Kampf in der gesamten Gesellschaft für die Akzeptanz offener Homosexualität gegeben. Stell dir vor, es gäbe keine offen schwulen Organisationen und ihre Kampagnen, wenn sogar schwule Ärzte und Krankenpfleger ihre Sexualität zu verbergen hätten. Die Krankheit hätte sich vielleicht etwas langsamer verbreitet, Menschen hätten vielleicht etwas weniger Partner gehabt, etwas weniger Liebe. Ja, vielleicht. Aber sie hätte sich viel weiter verbreitet, viel unerbittlicher, viel verborgener vor dem Tageslicht.

Wer von uns vor Gay Liberation aufgewachsen ist, hat keine Schwierigkeit, sich all dies vorzustellen. Aber diese Bewegung kam nicht aus dem Nichts. Sie erwuchs aus einer viel größeren Bewegung. Zuerst gab es die Bewegung der Schwarzen in Amerika, die Antikriegsbewegung, die Studentenbewegung, die Streiks und die Frauenbewegung. In einer Freitagnacht 1969 kämpften Schwule in dem New Yorker Stadtviertel Greenwich Village gegen eine Polizeirazzia in der Schwulenbar „Stonewall“. Diese Männer kannten die Bewegungen. Im oberen Stadtteil Harlems hatte es bereits zwei große Aufstände der Schwarzen gegeben. Hunderttausende von New-Yorkern waren gegen den Krieg auf die Straße gegangen. Es gab schwarze Männer und Frauen und Kriegsgegner unter den schwulen Kämpfern. Die anderen hatten es im Fernsehen gesehen. Deshalb waren sie bereit, selbst auf der Straße zu kämpfen.

Als sie sich zu wehren begannen, wussten sie deshalb auch sofort, was sie damit hatten: eine politische Bewegung. Und sie wussten ihren Namen. Sie nannten sie Gay Liberation Front (Homosexuellen-Befreiungsfront), nach der Nationalen Befreiungsfront in Südvietnam. [13] Sie wussten außerdem, dass sie ihre Politik in eine größere Bewegung einbringen mussten.

Anfang der 80er Jahre war diese Bewegung im Großen und Ganzen tot. Ich kann hier nicht die Gründe erklären [14], aber es gab eine Erinnerung, eine Organisationsform und ein politisches Verständnis, worauf zurückgegriffen werden konnte.

 

Safe Sex

Die erste politische Reaktion in New York war die Gründung von Gay Mens Health Crisis (GMHC). Es war eine Organisation, die Geld sammelte und den Betroffenen half. Kein Wunder, dass sie auf einem Treffen von reichen schwulen Männern gegründet wurde. Sie hatten das Geld. [15]

Aber innerhalb der nächsten Monate begann sich der Vorstand von GMHC zu spalten. Die Mehrheit des Vorstands meinte, GMHC sollte Geld für die „Gay Community“ – die Schwulengemeinde – sammeln und sich gegenüber der Stadt nett verhalten, selbst wenn diese nichts für sie tat. Privat empfahlen die Ärzte des Vorstands, Sex zu vermeiden oder zumindest den „Austausch von Körperflüssigkeiten“. Sie glaubten, dass GMHC das nicht öffentlich vertreten sollte – es würde ein schlechtes Bild von Schwulen abgeben. Diese Männer waren ganz okay, aber bei ihrem sozialen Hintergrund lag ihnen solch eine Politik natürlich nahe.

Auf der anderen Seite war Larry Kramer, ebenfalls ein reicher Schwuler, ein Schriftsteller und Filmproduzent. Kramer ist emotional empfindlich, ultralinks bis in die Fingerspitzen und der Held unserer Geschichte. Frustriert über den Rest des Vorstands, setzte er sich über ihre Köpfe hinweg. Er schrieb einen Artikel für die Schwulenpresse mit dem Titel 1.112 und steigend. Wie Tom Paine, wie alle großen politischen Schreiber verwandelte er die Sprache der Straße in klare und beißende Worte. Er begann:

Wenn euch dieser Artikel keine Scheißangst einjagt, sind wir in wirklichen Schwierigkeiten. Wenn euch dieser Artikel nicht in Zorn, Wut, Raserei und zur Aktion treibt, haben Schwule auf dieser Erde keine Zukunft. Unsere weitere Existenz hängt davon ab, wie wütend ihr werden könnt. [16]

Er beendete den Artikel mit einer Liste verstorbener Männer, die er gekannt hatte. Bei einigen nannte er nur den Vornamen – sie waren gestorben, ohne ihre Sexualität offen gelegt zu haben und er respektierte es.

Der Artikel stieß quer durch das schwule Amerika auf Resonanz. Viele andere waren dabei, das Problem zu durchdenken. Die vorherrschende Haltung unter den Linken war dabei keine große Hilfe. Die meisten linken Schwulen betrachteten den Kampf an erster Stelle als „ideologisch“ – das hieß für sie, das Image von Schwulen aufzupolieren. Deshalb verteidigten die den schwulen „Lebensstil“ und versuchten zu beweisen, dass Schwule genauso gut seien wie die Heterosexuellen in den besseren Vororten.

Einige Safe-Sex-Aktivisten versuchten zum Beispiel die schwulen Saunas zu schließen. Sie vermuteten – völlig richtig –, dass die Saunas ein Anziehungspunkt für viel ungeschützten Sex seien. Sie waren außerdem ein Industriezweig mit einem Wert von 100.000.000 Dollar, und die Besitzer zahlten für einen Großteil der Anzeigen in der Schwulenpresse. Die Besitzer lehnten sowohl die Schließung als auch Safe-Sex-Plakate ab. Die Linke und die etablierten Schwulenorganisationen unterstützten sie. Die Linke betrachtete den Angriff auf die Saunas als einen Angriff auf homosexuellen Sex. Tatsächlich jedoch verweigerten dieselben Regierungen, die nichts gegen Aids taten, ebenfalls die Schließung. [17]

Imagepolitik heißt, all unsere Schwächen unter den Teppich zu kehren. Das ist das Gegenteil der leninistischen Tradition. In Lenins Arbeiten gibt es keine Gedichte über die Menschlichkeit und Schönheit der Arbeiterklasse. Stattdessen war Lenin bereit, die materielle Realität der Situation wahrzunehmen. Er betonte immer wieder die Schwäche von Bewegungen. Weil er innerhalb der Bewegung und für die Bewegung war. Er versuchte, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie wir gewinnen können, und nicht, wie wir gut auf irgendwen wirken.

Die Schwulen, wie Kramer, waren in ihrer Politik keine Leninisten. Aber das Ausmaß der Epidemie in ihrem eigenen Leben zwang sie, die Frage genauso anzugehen. Weil sie sich ihrer Realität stellten, entwickelten sie die Idee von Safe Sex.

Sie begannen mit der biologischen Realität. Sie hielten außerdem an einer zentralen Idee der Homosexuellenbefreiung fest: Homosexueller Sex ist gut. Statt also zu sagen: Fick nicht herum!, sagten sie: Fick nicht, mach was anderes! Sie benutzten es als Gelegenheit, nicht Monogamie, sondern Experimentieren zu fördern. Der Slogan „Suck, Don’t Fuck“ (Blasen statt Ficken) sagt alles. In San Francisco gab es eine Alternative zu dem Privileg, Kapitalisten Geld zu zahlen, um gefährlichen anonymen Sex zu haben. Sie hatten sichere, gemeinsame Sexpartys in Privatwohnungen.

Sie übersetzten die Ideen von Safe Sex in die Sprache der Straße und der Bar und des Betts. Schwule hörten zu, weil es Sinn machte. Sie retteten hunderttausenden das Leben. Aber Safe Sex war nicht an erster Stelle ein Sieg für die Homosexuellenbewegung. Es war ein Sieg für Schwule und Arbeiterinnen und Arbeiter auf der ganzen Welt. Solch eine Politik konnte nicht von Regierungen, medizinischen Hochschulen oder Seminaren ausgehen. Sie ging von einer Bewegung aus und ist jetzt die Grundlage aller Bewegungen.

 

Act Up

Safe Sex war nur die halbe Schlacht. Die andere Hälfte war die Schlacht innerhalb von GMHC über die Haltung zur Stadt New York und der Bundesregierung. Hier verlor Kramer. Er wurde aus dem Vorstand gedrängt. Vier weitere Jahre lang gab es fast keine unabhängige politische Bewegung gegen Aids.

Dafür gab es mehrere Gründe. Betrachten wir es aus der Perspektive der meisten Führungen von Organisationen wie GMHC. Sie standen vor einer Krise, gegen die etwas getan werden musste. Menschen starben. Sie brauchten Rat, psychologische Hilfe und medizinische Behandlung. Menschen brauchten Telefonnotrufe und „Buddys“ – persönliche Helfer. Es gab enorm viel zu tun.

Außerdem wussten sie, dass das Establishment zutiefst homosexuellenfeindlich war. Damit musste man irgendwie umgehen. Schwule sind eine Minorität – sie durften nicht zu weit gehen. Wenn sie die vorherrschende Meinung zu sehr gegen sich aufbrächten, könnten sie am Ende vor Zwangstests und Konzentrationslagern stehen. Auf Kuba wird jetzt so mit Schwulen verfahren, und in Schweden ist es ähnlich. Die amerikanische Regierung internierte Japan-Amerikaner während des Krieges. Sie könnten uns so behandeln, also bedrängt sie nicht zu sehr – versucht sie zu gewinnen.

Dies war die Politik, diejenigen, die die Macht haben, zu überzeugen. Zur gleichen Zeit gab es die Frage der Gelder. 1982 beruhten alle Anstrengungen auf Selbsthilfe. 1987 finanzierten verschiedene Regierungsinstitutionen quer durch Amerika hauptsächlich Schwulenorganisationen, um den „Opfern“ von Aids zu helfen. Sie wollten das Geld nicht direkt ausgeben, sie wollten das politische Sperrfeuer vermeiden. Aber es waren Bedingungen an das Geld geknüpft – eine hieß: Greif die Regierung nicht an. Die andere Bedingung lautete: Sprich nicht gegenüber Heterosexuellen von Sexpartys.

Viele der besten, hingebungsvollsten, klügsten und zornigsten Menschen in der Schwulenbewegung übernahmen in diesen Organisationen Aufgaben. Sie fanden sich in Karrieren mit Haushaltsbudgets und Konferenzen wieder. Dass etwas getan werden musste, war offensichtlich. Und dies schien der offensichtliche Weg zu sein, etwas zu erreichen. [18]

Verzweiflung war ein anderes Problem. In New York und San Francisco griff der Tod um sich. Du konntest nach Hause kommen und drei Nachrichten auf deinem Anrufbeantworter über den Tod von drei Freunden finden. Leute waren erschlagen von den Nachrichten, verloren sich in Depressionen und wurden defensiv. Verstärkt wurde das durch das Gefühl, vor einer historischen Tragödie zu stehen. Gerade als sie eine Bewegung hatten, nachdem sie endlich ihr Coming-out hatten, als ein besserer Tag anzubrechen schien, erschienen die Zeichen eines Holocaust. Und der Holocaust traf sie an dem Ort ihres tiefsten Vergnügens. Die Verzweiflung war verständlich.

Reformistische Politik, die Aids-Industrie und Verzweiflung kamen zusammen. Aber letztendlich war die Epidemie zu groß und die Reaktion der Reagan-Regierung zu bösartig. Immer mehr Menschen wollten etwas tun, irgendetwas, um sich zu wehren.

Larry Kramer sprach 1987 vor einer Versammlung von Lesben und Schwulen in New York. Er forderte alle, die eine politische Organisation gründen wollten, auf, dazubleiben. [19] Sie gründeten Act Up: Die Aids Coalition to Unleash Power (etwa: Aids-Koalition zur Entfesselung von Kraft). [20]

Act Up sammelte hunderte von Menschen auf Veranstaltungen. Hunderte, manchmal tausende demonstrierten. Sie demonstrierten in der Wall Street gegen Burroughs Wellcome. Sie demonstrierten vor dem Weißen Haus mit einem Flugblatt, auf dem stand: „An einem Tag gibt das Pentagon mehr als die gesamte Summe für Aids-Forschung und Schulung seit 1982 aus.“ [21]Sie organisierten ein Sit-in in der Gesundheitsbehörde von New York und besetzten die Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde in Maryland, um mehr Forschung zu fordern. Sie protestierten gegen Obdachlosigkeit vor dem Trump-Hochhaus. Sie standen als Streikposten vor der New York Times und Cosmopolitan. Sie protestierten gegen Kardinal O’Connor vor der St.-Patricks-Kathedrale und trugen Plakate mit dem Bild des Kardinals und der Abbildung eines Kondoms. Unter den Bildern stand der Slogan: „Schleimbeutel. Nur einer verhindert Aids.“ [22]

Act Up war vor allem eine Organisation von Menschen mit HIV. Ihre „Minimalforderung war medizinische Behandlung: ... Medikamente in die Körper“. [23] Sie gewannen wichtige Siege. Die Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde beschleunigte das Testen neuer Mittel. Act Up wurde wütend, weil viele Medikamente nur innerhalb von Versuchsreihen zu erhalten waren. Und die Hälfte der Menschen in den Versuchsreihen erhielt nur nutzlose Placebos. Sie schafften es weitgehend, die Placebos aus den Versuchsreihen herauszuhalten. Die 374 Millionen Dollar, die das Nationale Gesundheitsinstitut nicht hatte investieren wollen, wurden nun freigegeben. Sie erreichten, dass der Preis für AZT auf 3.750 Dollar jährlich gesenkt wurde.

Aber es gab Grenzen in ihrer Politik und Grenzen in dem, was sie erreichen konnten. Ihr Hauptproblem war ihre Isolation. Gay Liberation war Teil einer viel größeren Bewegung gewesen – Act Up stand allein da. Um zu verstehen warum, müssen wir uns der Situation der Heterosexuellen mit HIV in New York zuwenden.

 

Nadeln

Schon zu Beginn der Epidemie waren 40 Prozent der Menschen, denen Gay Mens Health Crisis half, Heterosexuelle mit Aids oder HIV. In den frühen 80er Jahren waren mindestens ein Drittel der HIV-Infizierten heterosexuell. Die Mehrheit hatte Drogen gespritzt. Jetzt ist, nach einer groben Schätzung, die Hälfte der Menschen mit HIV in New York hetero. Heute sind es nicht nur Drogengebraucher, sondern ihre Partner und die Partner ihrer Partner. 1987 hatte in New York eine von 61 Müttern zur Zeit der Entbindung HIV. 1990 waren 15 Prozent der neuen weiblichen Gefangenen in New York HIV-positiv. [24]

Tatsächlich starben seit 1979 Drogenbenutzer, die spritzten, in New York an Aids. 1981 wusste Dr. Ayre Rubinstein, ein Kinderarzt, dass dutzende seiner Patienten an Aids starben. Etliche der Mütter hatten Drogen gespritzt. Jedes wissenschaftliche Magazin im Land verweigerte den Abdruck seines Artikels. Andere Ärzte strichen die Diagnose Aids aus der Patientenkartei. Jeder wusste doch, dass Kinder keine Schwulenkrankheit bekommen konnten. [25]

Die optimistischste Schätzung liegt bei 200.000 bis 250.000 injizierenden Drogenbenutzern in New York City und vielleicht noch einmal so vielen im New Yorker Umland. Aber diese halboffiziellen Schätzungen berücksichtigen nicht die Tatsache, dass viele Menschen nur wenige Male spritzen und viele „Abhängige“ später ganz aufhören. Drogenbenutzung ist kein endgültiger Zustand, sondern etwas, das Menschen tun. Das heißt, die Zahl der Menschen in New York, die seit 1979 gespritzt haben, ist viel größer als die etwa 200.000, die jetzt spritzen. Die meisten sind Schwarze oder Hispanos, und die große Mehrheit kommt aus der Arbeiterklasse. Sie nehmen Drogen aus demselben Grund, aus dem Arbeiterinnen und Arbeiter eher rauchen, eher Probleme mit Alkohol haben, eher depressiv und eher psychisch krank sind. New York mag die reichste Stadt der Erde sein. Aber innerhalb der New Yorker Arbeiterklasse gibt es großes Elend. Heroin macht dich einen Moment lang glücklich.

Unglücklicherweise ist das Teilen von Nadeln eine sehr effiziente Methode, den Virus zu verbreiten. Wer Drogen spritzt, braucht saubere Nadeln. Mit dem Drogenhandel kann viel Geld gemacht werden. Jede Drogenkontrollbehörde in diesem Bereich war bis jetzt hoffnungslos korrupt. Also gab es Drogen. Aber die Polizei konnte verhindern, dass Menschen Nadeln bekommen – und sie tat es. Wenn du Heroin brauchst, hast du keine Wahl. Also wurden Nadeln geteilt.

New York ist eine Stadt, wo aus allem Geld gemacht wird. Gibt es einen Bedarf, taucht ein Unternehmer auf. Sie eröffneten Shooting Galleries, Druckräume, in denen Spritzen für zwei Dollar verliehen wurden. Menschen saßen in den Druckräumen und schätzten den Gesundheitszustand der Anwesenden ab. Die Person, die am kränksten wirkte, bekam die Nadel zuletzt. [26] Die Benutzer waren nicht organisiert. Dafür aber einige, die in den Drogenprojekten arbeiteten. Sie gründeten Adapt (Alcohol & Drug Abuse Prevention Training; Training zur Verhinderung von Alkohol- und Drogenmissbrauch), um eine Kampagne für saubere Nadeln zu organisieren, und gerieten in Ronald Reagans Drogenkrieg.

Der Drogenkrieg war Teil des Versuchs, den amerikanischen Imperialismus zu rehabilitieren. In den 80er Jahren wurde eine heftige Kampagne gegen das „Vietnamsyndrom“ entfesselt. Sie fühlten sich nicht selbstbewusst genug, einen ernst zu nehmenden Feind zu schlagen. Stattdessen probten sie auf Grenada, einer winzigen Insel, wo sie von der Bevölkerung freundlich empfangen wurden. Sie organisierten einen Propagandaangriff auf „internationalen Terrorismus“: Araber und Iraner. Und sie begannen einen Propagandakrieg gegen die Drogenbarone von Kolumbien und Panama. Sie hofften, bewaffneten Amerikanern außerhalb des eigenen Landes eine neue moralische Rolle geben zu können.

Im eigenen Land diente der Drogenkrieg einem anderen Zweck. Er war Teil der Dämonisierung der schwarzen Arbeiterklasse und der „Innenstädte“. Die Aufstände der 60er Jahre hatten sich gegen brutale rassistische Bullen gewandt. Jetzt wurden Cops durch Fernsehserien wie Miami Vice und Hill Street Blues rehabilitiert. Aber die Bullen verhafteten nicht Drogen. Sie verhafteten und prügelten Drogennehmer und die Menschen, die in deren Autos mitfuhren, und die Menschen, die aussahen wie Drogennehmer. Die Arbeit wurde erleichtert, weil der typische Drogengebraucher an seiner Hautfarbe zu erkennen war. Menschen nehmen Drogen, weil sie verzweifelt sind. Der Staat macht sie zu Kriminellen. Es ist ein Krieg gegen Drogennehmer, nicht gegen Drogen. Außer, natürlich, wenn sie reich sind. Dann werden sie in die Betty-Ford-Klinik Für Menschen, Die Den Mehrwert Anderer Menschen Schnupfen, sprich: Kokain nehmen, geschickt.

Der Drogenkrieg traf auf Widerhall innerhalb der Arbeiterklasse. Es ist nicht leicht, die Mutter oder der Ehemann von jemandem zu sein, der Drogen nimmt. Sie ruinieren dich finanziell und seelisch, und früher oder später wirfst du sie raus. Es ist nur zu leicht, ihre Qual zu ignorieren und Drogen verantwortlich zu machen. Das gilt besonders, wenn du in ihr Leid verwickelt bist; dein Leiden teilweise als Ursache ihres Leidens und teilweise das Ergebnis davon.

Wichtiger aber war die Reaktion der schwarzen Mittelklasse. Die Bewegung der Schwarzen in den 60er Jahren bestand aus einer schwierigen Koalition schwarzer Mittelschichten und schwarzer Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie war stark genug, um die amerikanische herrschende Klasse zu zwingen, den Mitgliedern der Mittelschicht mehr Chancengleichheit einzuräumen. Sie waren plötzlich schwarze Professoren, schwarze Polizeioffiziere und schwarze Bürgermeister. Für alle wurde ein Platz gefunden – irgendwo am unteren Ende des Yuppie-produzierenden Irrsinns. Schwarze Arbeiter und Arbeiterinnen hatten zu den Führern aus der Mittelschicht aufgeschaut. Mit dem Niedergang des Kampfes schufen sie sich keine neuen eigenen Führer, also blickten sie nach wie vor auf Führer, die jetzt die Interessen einer anderen Klasse repräsentierten.

Adapt propagierte die saubere Nadel für jeden Drogenbenutzer. Die ganze etablierte Gesellschaft schrie auf, dass dies das endgültige Ende des Drogenkriegs bedeuten würde. Die Antwort der schwarzen und hispanischen Führer war entscheidend. Die katholische Kirche war die wichtigste organisierte Kraft unter Hispanos. Also waren sie gegen saubere Nadeln. Ebenso die schwarzen Kirchen, die in der Bürgerrechtsbewegung eine einflussreiche Kraft waren. Ebenso David Dinkins, zu der Zeit ein schwarzer Stadtpolitiker und jetzt Bürgermeister. Ebenso, natürlich, Jesse Jackson. Ein Kreuzzug gegen Drogen war zentraler Teil der Präsidentschaftskampagne.

Adapt wurde ein Versuch zugestanden. Um eine Nadel zu bekommen, musstest du dich im Gerichtsgebäude der Innenstadt registrieren lassen, während du von „TV News“-Kameras gefilmt wurdest. Du musstest Beratungsstunden akzeptieren, und wenn die Beratung wirkte, irgendwann später wegen eines neuen Termins wiederkommen. Die Vergabe von Nadeln fand gegenüber von der FBI-Zentrale New Yorks statt. Wenn du spritzt, wenn du eine Nadel brauchst, dann brauchst du sie sofort. Welch ein Wunder: Das Experiment funktionierte nicht.

Also gab es keine Nadelabgabestellen. Hunderttausende von Menschen werden in Groß-New-York deshalb sterben: Drogenbenutzer, ihre Liebhaber, ihre Kinder, die Liebhaber ihrer Liebhaber ... Weitere hunderttausende in ganz Amerika sind in derselben Situation. Es ist die Todesstrafe für die Unglücklichen. Diese Menschen werden aus demselben Grund sterben, und durch die Hand desselben Feindes, wie die Menschen in Bagdad und auf der Straße nach Basra.

 

Isolation

Schwule in New York waren nicht die einzigen Menschen mit HIV, aber ihre Bewegung war isoliert. Die Bewegung der Schwarzen ist weitestgehend zusammengebrochen, die Gewerkschaftsbewegung hängt in den Seilen und ist entpolitisiert, und die Frauenbewegung verbirgt sich unter starken Schulterpolstern. Das wird nicht so bleiben. Die Wut ist vorhanden, und es gibt hier und da Unruhe. Aber die allgemeine Schwäche der amerikanischen Linken seit 1987 beschränkt eindeutig, was Act Up erreichen könnte.

Act Up versuchte, „andere Gemeinden“ zu erreichen, um eine „Regenbogenkoalition“ aufzubauen. Das Problem dabei war, wer die Koalition führen sollte und wofür sie geführt würde. Zorn und Frustration rieben sich so an den Schranken des unmittelbar Möglichen. Eine wütende und isolierte Minderheit neigt immer zu ultralinker Politik. Bei Act Up nahm sie die Form des „Outings“ an. Das hieß, bekannte Persönlichkeiten, die ihre Homosexualität verbargen, öffentlich zu entlarven. Zu Beginn waren es Politiker, und es ging schnell über zu Sängern, Filmstars und allen möglichen alten Berühmtheiten. Es war ein politischer Fehler, aber wir müssen seine Wurzeln verstehen.

Fast während der ganzen 80er Jahre war der Bürgermeister von New York ein versteckter Schwuler. Er war ebenfalls der Hammer gegen die Gewerkschaften, der Feind der Schwarzen und der Apostel des Zionismus, und er weigerte sich, irgendetwas zu tun, um Aids zu bekämpfen. Er stellte sich hinter Reagan. Fast während der ganzen 80er Jahre wüteten Larry Kramer und die anderen an seiner Seite innerlich gegen ihn. Sie wollten ihn entlarven und sie wussten, es wäre ein Fehler.

Außerdem gab es mehr Menschen, die eine Politik wie die Larry Kramers verfolgten. Er ist zornig. Er versteht nun, dass das amerikanische System auch Frauen und Schwarze so unterdrückt, wie es ihn unterdrückt. Aber er glaubt, das amerikanische System müsse dazu gebracht werden, richtig zu funktionieren und dass es möglich sei, es dazu zu bringen. Wenn Homosexuelle den Einfluss der katholischen Kirche hätten, dann würde etwas gegen Aids getan. Tatsächlich hilft der Einfluss der katholischen Kirche den irischen Müllarbeitern der Stadt New York ziemlich wenig – er hilft den Bischöfen.

Von der Wut auf den Bürgermeister und der Wut über die Epidemie führt nur ein kleiner Schritt zu der Idee, dass die entlarvten Heuchler dann für uns kämpfen müssten. Und selbst wenn sie es nicht täten, könnten Menschen zu positiven schwul-lesbischen Vorbildern aufschauen. Niemand wird es je aussprechen, aber viele Menschen fühlen es: Schau, was uns der Tod von Rock Hudson brachte.

Jetzt werden Menschen in Outweek geoutet, auf Demonstrationen, auf Plakaten in der ganzen Stadt. Es trägt nichts dazu bei, Schwule und Lesben zu befreien. Der Fehler ist verständlich. Er resultiert aus Zorn und Frustration und Verrat. Aber „Outing“ stellt den Prozess des „Coming-outs“ auf den Kopf. Wenn eine Lesbe oder ein Schwuler am Arbeitsplatz oder gegenüber Freunden oder der Familie erklären, dass sie homosexuell sind, dann ist es ein befreiender Akt. Er stärkt dein Selbstbewusstsein und den Respekt für dich selbst. Andere Menschen am Arbeitsplatz akzeptieren dich. Es erleichtert die Situation anderer Homosexueller.

Wenn aber jemand gegen seinen Willen entlarvt wird, macht es alles schwieriger. Sie sind beschämt und können bestraft werden. Coming-out ist etwas, das du selbst tust, Outing wird mit dir gemacht. Natürlich sagen Outer, dass sie es nur bei Prominenten tun. Aber was ist die Wirkung? Kürzlich outete eine Demonstration einen englischen Sänger. Ich mag seine Politik, seine Klasse und seine Musik nicht. Am nächsten Tag berichtete die Sun über die Demonstration. In Amerika wäre es der National Enquirer, in Deutschland die Bild gewesen. Erleichtert so etwas einer Lehrerin oder einem Krankenhausportier an seinem Arbeitsplatz, sich offen zu ihrer Homosexualität zu bekennen? Nein. Es wird schwerer.

Outing unterstellt auch, dass der Bürgermeister von New York in gewisser Hinsicht die gleichen Interessen hat wie wir. Es unterstellt, dass unter einem schwulen Präsidenten die Homosexuellen Gerechtigkeit erfahren würden. Der jetzige Bürgermeister von New York ist schwarz. Er demonstrierte zusammen mit dem Schwulen- und Lesbenblock auf der St.-Patricks-Day-Parade. Er versucht gleichzeitig, die Gewerkschaften der Stadt in die Knie zu zwingen und alle städtischen Dienste, die Schwarze und Menschen mit HIV brauchen, zu zerstören. Er ist der Bürgermeister. Das ist sein Job.

 

Afrika

Dieser Artikel hat sich bis jetzt hauptsächlich mit den USA beschäftigt. Aber jeder Artikel über Aids-Politik muss Afrika diskutieren. Einfach deshalb, weil Aids-Politik auf der Rechten mit Rassismus getränkt ist. Es ist wichtig, wahrzunehmen, dass HIV kein Virus für Schwule ist. Er diskriminiert nicht. In Europa und Afrika ist die Mehrheit der Menschen mit HIV heterosexuell. Vermutlich ist auch in New York jetzt die Mehrheit heterosexuell. In einigen Gegenden Afrikas liegt der Anteil der jungen, sexuell aktiven Bevölkerung mit Aids in den Städten bei 5 oder 10 Prozent. In den ländlichen Gebieten ist dieser Anteil normalerweise viel niedriger. [27] Mit anderen Worten: In Afrika ist HIV vor allem eine Krankheit der Arbeiterklasse. Und welcher Schätzung du auch glaubst, ist es eindeutig, dass Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern in Afrika sterben werden, genauso wie in den Vereinigten Staaten.

All das ist wahr. Aber bei den Rechten ruft es hässlichen Rassismus hervor. All die alten Fantasien über die Sexualität der Schwarzen schwemmen an die Oberfläche. Es sind meistens Prostituierte. Sie wechseln häufig ihre Partner. Sie machen sich keine Gedanken über den nächsten Tag. Für sie ist es nur eine weitere Krankheit. Testet alle, bevor sie in unser Land hinein dürfen. Und, als Höhepunkt des Ganzen: Aids entstand, weil Afrikaner sexuellen Verkehr mit Affen haben.

HIV scheint jedoch fast zur selben Zeit in Amerika, Haiti und Afrika aufgetaucht zu sein. Viele amerikanische oder europäische Wissenschaftler nahmen einfach an, dass der Virus aus Afrika stammt, weil von dort schließlich alle Krankheiten kommen. Jede Sozialistin und jeder Sozialist muss damit anfangen, diesen Rassismus anzugreifen, wenn sie oder er über Aids in Afrika diskutieren. Und, zur Erinnerung, dieser Rassismus ist nur ein weiteres Mittel, den Menschen mit Aids selbst die Verantwortung zuzuschieben. Aber wir dürfen nicht in einer defensiven Argumentation stecken bleiben, wenn wir nicht in einer politischen Falle landen wollen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Buch Aids, Africa and Racism von Richard und Rosalind Chirimuuta. [28] Ihr Ausgangspunkt ist, dass die westliche Diskussion über Aids rassistisch war. Frühe Blutuntersuchungen waren unzuverlässig und lieferten unglaubliche HIV-Quoten. Es gibt keinen überzeugenden Hinweis, dass HIV in Afrika zuerst auftauchte.

So weit, so gut. Dann aber gehen sie weiter und streiten ab, dass HIV jetzt in Afrika weit verbreitet ist. Sie sagen, dies sei ebenfalls ein rassistischer Mythos. Das ist nicht wahr. Es ist eine materielle Wahrheit, mit der Menschen in Afrika leben und sterben müssen. Das Problem hier ist dasselbe wie bei der homosexuellen Linken der frühen 80er Jahre: die Politik, gut auszusehen. Notwendig ist es stattdessen, die Heuchler zu bekämpfen und die Realität wahrzunehmen.

Darüber hinaus akzeptieren die Chirimuutas implizit das zentrale Argument der Rechten. Wenn Aids von Afrika ausging, dann sind Afrikaner verantwortlich. Wenn afrikanische Arbeiterinnen und Arbeiter viel Sex außerhalb der Ehe haben (wie amerikanische oder britische), dann können sie in irgendeiner Form verantwortlich gemacht werden. Ich akzeptiere nichts davon. Ich weiß nicht, ob Aids von Afrika ausging, und es interessiert mich auch nicht. Afrikaner haben keine Schuld.

Viele glauben, dass die Grippeepidemie von 1919, die mehr Menschen als der Erste Weltkrieg tötete, von Ostnigeria ausging. Darüber gibt es einen guten Roman von einem Nigerianer. [29] Niemand macht die Nigerianer dafür verantwortlich. Der einzige Grund, warum Afrikanern die Schuld für Aids gegeben wird, liegt in der Tatsache der sexuellen Übertragung. Sex ist nichts Falsches. Aber die afrikanische Bourgeoisie denkt da anders. Sie sind beschämt. Die Reaktion der afrikanischen Regierungen ist wie die der amerikanischen oder der irischen, der britischen oder der deutschen. Sie versuchten das Wort nicht auszusprechen und taten zu wenig zu spät. Und fast alle Schriften über Aids in Afrika werden von Leuten produziert, die die Regierung beschwichtigen wollen.

Weil alle Experten für die UN, die Weltgesundheitsorganisation, amerikanische oder afrikanische Universitäten oder Hilfsprojekte arbeiten. Sie wissen, dass irgendetwas sofort getan werden muss. Sie arbeiten für Projekte, die aus dem Land geworfen werden, wenn sie auch nur vorsichtig kritisch sind. Sie arbeiten für Projekte, die Waffen des Imperialismus sind. Oder sie sind Angehörige der Nation selbst und könnten ihre Jobs verlieren oder Schlimmeres erleben.

Sie glauben, wie ihre Kollegen in Großbritannien oder Deutschland, dass die Politik der Regierung geändert werden muss, wenn sich etwas ändern soll. Und das Klima des Rassismus um die Frage von Aids macht ihre Aufgabe noch heikler. Sie müssen besonders vorsichtig sein, Arap Moi oder Mosaveni oder Mobuto nicht zu beleidigen. Diese Leute sind empfindlich, sagen sie. Geh nicht zu weit. Wenn wir vorsichtig sind, kann vielleicht jeder davon überzeugt werden, ein Aids-Programm zu entwickeln, das so gut ist wie das ugandische.

Uganda hatte nicht von vornherein ein gutes Aids-Programm. Zu Beginn der Epidemie untersuchte Wilson Carswell, ein ausgebürgerter Arzt, das Blut von Lastwagenfahrern und weiblichen Prostituierten in Uganda, die sehr hohe HIV-Raten aufwiesen. Das war eine wichtige Entdeckung. Etwas, das Lastwagenfahrer, Prostituierte und alle ugandischen Arbeiterinnen und Arbeiter wissen mussten. Die Information wurde in westlichen Zeitungen enthüllt, und die ugandische Regierung war beschämt. Also deportierten sie Dr. Carswell und – ein netter alter kolonialer Zug – ermordeten seine Bediensteten, um alle anderen zu entmutigen. [30]

Jetzt gibt es Bemühungen in Uganda, die Menschen mit Aids zu zählen – aber nicht zu behandeln. Die katholische Kirche ist in Uganda so wichtig wie in New York. Es gibt keine kostenlosen Kondome. Das Land kann sich solche Dinge „nicht leisten“. Wie die Amerikaner können sie sich eine Armee leisten. Was es gibt, ist eine Öffentlichkeitskampagne der Regierung gegen Aids. Ein Slogan lautet „Achte die Süße und Herrlichkeit der Liebe“. [31] Das heißt nicht Safe Sex: Es ist gegen Sex gerichtet. Präsident Mosaveni unterstützt die Idee des „zero grazing“: Männer sollen nicht herumvögeln. Über Jahre argumentierte er, Kondome würden der traditionellen afrikanischen Kultur nicht entsprechen. (Zu dem traditionellen Sexismus in Britannien passen sie auch nicht.) Im Mai 1991 richtete Mosaveni eine Erklärung im Parlament an die internationale wissenschaftliche Aids-Konferenz in Florenz. Die versammelten Experten waren ernsthaft bewegt. Im September verbot Mosavenis Regierung jede Kondomwerbung. Das ist eine relativ gute Regierungskampagne.

In Sambia lautet der Slogan: „Aids tötet. Ein Man oder eine Frau für das Leben.“ [32] Südafrikas Regierungskampagne, die sich an die Schwarzen wendet, benutzt ein Plakat, auf dem mehrere Männer einen Sarg in ein offenes Grab absenken. Der Text dazu sagt: „Aids. Die neue tödliche Krankheit ist da. Verhindere Aids. Schlafe nicht mit jedem. Ein-Partner-Beziehungen sind sicher. Im Zweifelsfall benutze ein Kondom.“ [33] Die britische Regierungskampagne startete mit Bildern eines Eisbergs und Bildern von umfallenden Grabsteinen. Wir warten bis heute auf die amerikanische Regierungskampagne.

Viele wütende Afrikaner machen den Imperialismus für Aids verantwortlich. Das ist eine schnelle, gefühlsmäßige Reaktion. Aber dann gehen sie – defensiv – weiter und behaupten, Aids entstand nicht in Afrika sondern wurde in einem CIA-Laboratorium unter Nixon entwickelt. [34] Ein Problem dabei ist, dass es jetzt HIV-positive Blutproben von 1959 und aus den 60er Jahren von Großbritannien, den USA und Norwegen gibt. Das größere politische Problem ist, dass es die afrikanische herrschende Klasse aus der Verantwortung entlässt.

Es gibt eine andere Möglichkeit zu verstehen, wie Aids in Afrika bekämpft werden kann. Sie beinhaltet, sowohl gegen Imperialismus als auch die lokale herrschende Klasse zu kämpfen. Es funktioniert so: Wir unterschätzen Aids in Afrika nicht. Unsere Völker leiden. Sie leiden, weil die Regierungen keine brauchbaren Vorbeugungskampagnen organisieren. Sie stellen keine sinnvollen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Sie lügen über das, was passiert. Sie tun es aus demselben Grund wie die westlichen herrschenden Klassen. Das ist ein unabdingbarer Bestandteil der Tyrannei von Präsidenten und Unternehmern in Afrika. Es ist nur ein weiterer Grund, sie zu stürzen.

Wir akzeptieren außerdem nicht, dass „Afrika sich nicht leisten kann“, etwas zu tun. Afrikaner sind nicht naturhaft arm. Sie leisten sich Armeen und Autos von Mercedes-Benz. Afrikanische Ökonomien sind in Schwierigkeiten, weil westliches Kapital sie abgeschrieben hat: Sie investieren nicht. Aber Afrikaner produzieren nach wie vor Reichtum. Viel davon wird zur „Schuldenzahlung“ an westliche Banken benutzt. Die Regierung von Zaire kann sich keine Kondome für alle leisten. Sie könnte es leicht genug, hätte sie die unzählbaren Milliarden, die CIA-Liebling Präsident Mobutu im Land plünderte, um sie auf Bankkonten im Ausland anzulegen. [35]

Dieses Herangehen an Aids-Politik ist natürlich unmöglich, wenn du für die Weltgesundheitsorganisation arbeitest. Dieses Herangehen lässt den Imperialismus nicht davonkommen. Wenn du für einen Aufstand und gegen Schuldenzahlungen argumentierst, kommst du schnell genug mit ihm in Konflikt. Dieses Herangehen heißt nicht, hier und heute nichts zu tun. In den letzten zwei Jahren gab es wichtige Kämpfe gegen die Regierungen in Kenia, Niger, Togo, Kamerun, Äthiopien, Somalia, Sambia, Zaire und Südafrika. Erfolgreicher Kampf gegen Aids heißt nicht, ihn zum Teil der Programme von Diktatoren zu machen. Es bedeutet, ihn zu einem weiteren Teil des Programms derjenigen zu machen, die die Diktatoren stürzen wollen.

 

Kapitalismus

Es gab hier nur Raum, um über Aids-Politik in New York und, etwas kürzer, in Afrika zu sprechen. Aber HIV ist jetzt eine Weltepidemie. Und fast überall ist es zunehmend eine Krankheit der Unterdrückten.

Eine Studie über Menschen, die in Seattle HIV-getestet wurden, zeigte kürzlich, dass du als schwarzer Mensch eher HIV haben wirst, denn als weißer. Als hispanischer eher, als wenn du anglo bist. Als Schwuler eher als ein Heterosexueller. Aber als die Statistiker von all diesen Faktoren absahen, entdeckten sie, dass das Einkommen entweder genauso oder sogar wichtiger war. Unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Sprache haben eher Menschen aus der Arbeiterklasse HIV.

Und so ist es in Ghana, in New York, in Bombay, in Edinburgh und Mailand. Mit der Ausbreitung der Epidemie sind es vor allem die Unterdrückten, die von ihr betroffen sind. Während sie zunehmend zu einer Krankheit der Heterosexuellen in New York wird, wird sie gleichzeitig zunehmend zu einer Krankheit der Schwarzen und der Arbeiterklasse. Und wenn du schwarz und schwul und Arbeiter bist, besteht natürlich eine größere Gefahr für dich, den Virus zu bekommen, als wenn du schwarz und schwul und aus der Mittelschicht bist. Wo die HIV-Infektion vorwiegend zur Krankheit von Heterosexuellen wird, wird sie zunehmend zur Krankheit von Frauen, weil Frauen den Virus durch heterosexuellen Sex leichter einfangen können als Männer. Soweit sich die Epidemie auf Weltebene ausbreitet, wird sie zunehmend zu einer Epidemie der Dritten Welt. [36] Und überall ist die Reaktion der Regierungen dieselbe.

In den letzten zwei Jahren hat der Virus einen entscheidenden Sprung nach Asien gemacht, dorthin, wo die halbe Menschheit lebt. In Indien versuchten sie, afrikanische Studenten zu testen und zu deportieren. Jetzt gibt es auch dort den Virus und sie machen Drogenbenutzer in Assam und Prostituierte in Bombay verantwortlich. In Thailand hat die neue Militärregierung den „progressiven“ Dr. Meechai zum Gesundheitsminister ernannt. Er gibt dem internationalen Sextourismus die Schuld, will aber die Bordelle für Thais offen halten. In China ist die Regierung nach wie vor nur bereit, zuzugeben, dass der Virus unter Drogenbenutzern an den Grenzen zu finden ist.

Dutzende von Millionen werden sterben. Viele werden in Scham, Angst und Isolation sterben wegen der Gesellschaften, in denen wir leben. Ein Thema dieses Artikels war, dass Menschen mit HIV nicht selbst die Verantwortung dafür haben. Das andere Thema ist, dass der Kapitalismus verantwortlich ist. Das mag krass erscheinen. Es mag so aussehen, als solle Leid geleugnet, persönliche Schmerzen in abstrakte Wut gelenkt werden. Ich beabsichtige nicht, dein Leid zu leugnen. Demonstrationen sind keine Alternative zu Beerdigungen. Es gab zu viel Depression. Es kann nicht genug Tränen geben.

Du magst denken, es sei albern, dem Kapitalismus die Schuld zuzuweisen, weil es ja auch den Ostblock gab. In ganz Osteuropa wurden Menschen ohne ihre Zustimmung getestet, gezwungen, sich regelmäßig bei ihren Ärzten und Polizeistationen zu melden, gezwungen, ihre Chefs zu informieren. In Russland war die offizielle Linie bis vor kurzem, dass es kein Aids gebe, weil Homosexualität illegal sei, obwohl die Krankenhäuser es von Kind zu Kind weitergaben, weil sie sich keine sauberen Nadeln „leisten konnten“ (sie konnten sich aber atomare U-Boote leisten). In China lautet die Linie heute, dass alles in Ordnung ist, weil sie keine Homosexuellen haben. In Kuba testet der Staat Männer, die „verweichlicht“ aussehen. Positiv Getestete werden in Konzentrationslager geschickt. [37]

Wenn du glaubst, dass der Ostblock auch nur ansatzweise sozialistisch war, dann hat HIV zweifellos nichts mit Kapitalismus zu tun. Wir müssen Heterosexuelle oder Männer oder Ärzte oder die menschliche Natur verantwortlich machen. Unsere Tendenz argumentiert seit langem, dass diese Gesellschaften in Wirklichkeit staatskapitalistisch sind oder waren. [38] Das Argument soll hier nicht wiederholt werden. Aber wenn du es nicht akzeptieren kannst, dann frage dich selbst, inwieweit eine Gesellschaft, die Schwule in Lager bringt, „sozialistisch“ sein kann?

Kapitalismus verantwortlich zu machen, macht ebenfalls keinen Sinn, wenn du dir Kapitalismus lediglich als ökonomisches System vorstellst. Im Herzen der kapitalistischen Gesellschaft gibt es eine industrielle Produktionsweise und eine Machtbeziehung zwischen Männern und Frauen am Arbeitsplatz. Diese Machtbeziehung durchdringt und regelt die ganze Gesellschaft, in der wir leben. Diese Machtbeziehung, zentral in unserem Alltagsleben, entscheidend für das System, gestützt durch Gewalt und mystifiziert durch Ideologie, formt jede Institution und Erfahrung in unserer Gesellschaft. Schulen, die Familie, Sex, Sport, Zoos, psychotherapeutische Kliniken, Opernhäuser, die Erfahrung des Alterns: Alles trägt den Stempel der kapitalistischen Gesellschaft. Weil im Zentrum dieser Gesellschaft nicht eine Beziehung zwischen Dingen steht, sondern eine lebendige und gelebte Beziehung zwischen Menschen und Dingen und zwischen Menschen und Menschen. Die Art, wie diese Beziehung unser Leben formt, ist nicht einfach. Es gibt keine fest geregelte Beziehung zwischen Kapitalismus und dem Alltagsleben. Die Beziehung ist komplex, widersprüchlich und wird teilweise durchbrochen. Aber es ist dennoch eine Beziehung – und sie tötet Menschen.

Um es einfach zu machen: Aids verbreitet sich und es gibt keine Mittel zur Heilung, weil der Kapitalismus nicht für menschliche Bedürfnisse produziert. Aber Aids verbreitet sich auch, weil sexuelle Unterdrückung grundlegend für den Bestand der kapitalistischen Gesellschaft ist. Der Virus hätte gestoppt werden können aber er wurde nicht gestoppt.

Damit es kein Missverständnis gibt: Ich sage nicht, dass du nicht Krankenschwester oder „Buddy“ für jemanden mit Aids sein sollst. Ich sage nicht, dass es nutzlos ist, für die Art von kleinen aber wichtigen Reformen zu kämpfen, die Act Up erreicht hat. Ich sage, um Aids zu stoppen, müssen wir das System ändern. Weil Aids letztendlich keine ganz besondere Krankheit ist. Es ist eine Krankheit desselben Systems, das Cholera in Südamerika hervorgebracht hat, Malaria, die Kinder in Afrika tötet, und die Fluten Bangladeschs, in denen die schutzlosen Armen ertrinken. Pest, Krieg und Hunger gehören zu einem System, das für Profite und nicht für menschliche Bedürfnisse organisiert ist.

 

Widerstand

Unterdrückung erzeugt Widerstand. Aids hat einen politischen Widerstand hervorgerufen, aber außerdem noch etwas anderes. Wenn Bauern vor dem Verhungern stehen, verkaufen sie ihre Kinder und speichern die Lebensmittel von Ehefrauen und Brüdern. Gibt es eine gute Ernte, stürmen sie die Städte. Die Arbeitslosen können wenig tun. Bekommen sie Arbeit, werden sie ihre Verbitterung in Erinnerung behalten. Die verzweifeltesten Menschen sind oft zu schwach oder abgelenkt, um kämpfen zu können. Aber sie können sich erinnern.

Gut 500.000 Lesben und Schwule marschierten 1987 zum Weißen Haus. Es war zwar eine Zeit der Reaktion, aber sie hatten die Schnauze voll. Vor allem hatten sie die Schnauze voll von den Homosexuellenfeinden, der moralischen Rechten, der Aids-Panik, dem Leiden ihrer Geliebten. Diese Wut war der Antrieb für die Demonstration.

In Großbritannien erreichte der Hass auf die konservative Regierung 1990 ihren Höhepunkt in dem Aufstand gegen die Kopfsteuer. Aber er begann 1988 mit der Kampagne gegen die Anti-Homosexuellen-Gesetzgebung der Konservativen. Die homosexuellen Männer und Frauen in den Demonstrationen waren jung, wütend und zahlreich. Sie waren nicht defensiv in der Aids-Frage. Sie kämpften für die Rechte der Homosexuellen. Die Erfahrung mit der Epidemie ließ diese Bewegung ebenfalls wachsen.

Dies werden nicht die einzigen Bewegungen sein. Die Socialist Workers Party in Großbritannien organisiert viele Veranstaltungen mit dem Thema: Wird die amerikanische Arbeiterklasse jemals kämpfen? Wenn ich auf diesen Veranstaltungen gesprochen habe, habe ich immer auf die großen Kämpfe der 30er und 60er Jahre verwiesen. Die wirkliche Antwort auf diese Frage findet sich aber in denselben Kräften, die massenhafte Drogenabhängigkeit in New York produzieren. Es gibt großes Leid innerhalb der amerikanischen Arbeiterklasse. Nicht nur Drogenbenutzer fühlen dieses Leid. Der Druck verletzt viele. Einige zerbrechen daran. Wendet sich dieses Leid nach innen, führt es zur Depression und Selbstzerstörung. Wendet es sich nach außen, wird es eine Explosion werden.

Das ist kein Aufruf zum Heroin-Romantizismus. Injizierende Drogenbenutzer sind Menschen wie du und ich. Aber die Erfahrung von Abhängigkeit macht Menschen nicht stärker. Sie drückte sie nieder und spaltet sie. Deshalb gibt es keine organisierte Bewegung von Drogenbenutzern.

Aber diese Leute haben Liebhaber. Sie haben Brüder und Schwestern. Ihre Brüder und Schwestern waren stärker oder glücklicher, oder wurden etwas weniger getreten. Sie wissen, was ihre Brüder zerbrochen hat. Wenn sie zu kämpfen beginnen, werden sie sich an Aids erinnern. Nicht selten ist die Mutter, die ihren Sohn hinausgeworfen hat, weil er ihre Geldbörse stahl, dieselbe, die ihn beerdigt.

Sie erinnert sich. Wir müssen uns auch erinnern, trauern, leben und kämpfen.

 

Anmerkungen

1. Dieser Artikel baut auf den Argumenten auf, die zuvor in der Broschüre Aids and the New Morality von D. Blackie und I. Taylor (London, 1987) entwickelt wurden.

2. Viele Aids-Aktivisten bezweifeln das. Das überrascht nicht. Wenn konventionelle Wissenschaft und Medizin keine Antwort haben, wird natürlich eine Lösung bei der alternativen Medizin und Wissenschaft gesucht. Aber es gibt einen wichtigen politischen Grund darauf zu bestehen, dass Aids von HIV verursacht wird. Einerseits, weil wir die Realität anerkennen müssen. Andererseits aber, weil die Leugnung der Verbindung von HIV und Aids dazu führt, dass Safe Sex keinen Sinn mehr macht. Eine gute Einführung in die Wissenschaft von HIV bieten S. Connor und S. Kingman, The Search for the Virus, Second Edition (London, 1989).

3. Es gibt einige wenige Menschen, die den Virus durch oralen Sex bekommen haben, und die keinen analen oder vaginalen Sex hatten. Soweit bekannt, kam bei allen ein Mann in ihrem Mund. Möglicherweise gibt es mehr, die den Virus durch oralen Sex bekamen, die aber außerdem analen oder vaginalen Sex hatten. Dennoch ist diese Art von Übertragung viel seltener. Der Grund dafür scheint darin zu liegen, dass Speichel HIV abtötet, ebenso wie Magensäure. Genauere Informationen gibt jede Aids-Beratungsstelle.

4. Es gab 1990 nur 19 bestätigte Fälle von Virusinfektionen durch Arbeit im Gesundheitswesen. Die Hauptgefahr besteht in Verletzungen durch Nadeln. Einer detaillierten Studie über New York zufolge infizierten sich 3 Personen von 1.440 durch Verletzungen mit einer Spritze, in der HIV-positives Blut war.

5. Siehe hierzu L. German, Sex, Class and Socialism (London, 1989).

6. Clause 28 (Paragraf 28) untersagte die „Förderung“ von Homosexualität in kommunalen Einrichtungen, was unter anderem bedeutete, dass Schwulen- und Lesbenorganisationen kein Geld erhielten, um über Aids zu informieren, oder der Bücherbestand von Stadtbibliotheken zensiert wurde.

7. Über die US-Regierungspolitik schreibt R. Shilts, ... Und das Leben geht weiter (München, 1994).

8. L. Kramer, Reports from the Holocaust: The Making of an Aids Activist (New York, 1989).

9. A.C. Collier u.a., A Pilot Study of Low-dose Zidovudine in Human Immunodeficiency Virus Infection, The New England Journal of Medicine, October 1990, S. 1015-1021.

10. Diesen Hinweis verdanke ich Keith Fisher.

11. See C. Perrow und M.F. Guillen, The Aids Disaster: The Failure of Organisation in New York and the Nation (New Haven, 1990).

12. C. Patton, Inventing Aids (London, 1990), S. 26-27.

13. Siehe N. Halifax, Gay Liberation and the Struggle for Socialism: Out, Proud and Fighting (London, 1988), S. 25-29.

14. Einen Teil der Antwort gibt C. Harman, The Fire Last Time: 1968 and After (London, 1988).

15. Diese Einschätzung von GMHC beruht auf Kramer und Shilts, s. Anm. 7 und 8.

16. 1.112 ... ist nachgedruckt in Kramer, S. 33-51.

17. R. Shilts ist sehr hilfreich in Bezug auf die Saunakontroverse. Viele Aids-Aktivisten kritisieren Shilts, weil sie den Eindruck haben, dass er Schwule als promisk angreifen will. Ich habe dieses Buch jetzt dreimal gelesen. Beim erstenmal neigte ich dazu, mit seinen Kritikern übereinzustimmen. Aber nach weiterem Lesen, denke ich, dass sie Unrecht haben. Shilts versteht sowohl die Anziehung als auch die Entfremdung, die in zwanghaftem Gelegenheitssex liegt. Das wird in seinem früheren Buch, The Mayor of Castro Street: The Life and Times of Harvey Milk, sehr deutlich. Ich meine damit nicht, dass Schwule mehr entfremdet sind, als Heterosexuelle; oder dass andere sexuell entfremdet sind, ich aber nicht; auch meine ich nicht, dass Schwule in irgendeiner Form für Aids verantwortlich zu machen sind. Mehr zur Saunakontroverse findet sich in: R. Bayer, Private Acts, Social Consequences: Aids and the Politics of Public Health (London, 1989), S. 20-71.

18. C. Patton, a.a.O., besonders S. 5-24. Eine ihrer Kapitelüberschriften lautet From Grass Roots to Business Suits. Diese Entwicklung ging in England noch viel weiter. Hier wurde die wichtigste Aids-Organisation, der Terence Higgins Trust, durch das Home Office, das Polizeiministerium, finanziert. Sogar Mainliners, die Organisation für Drogenbenutzer mit HIV, bekam ihr Geld vom Home Office. Die kommunalen Organisationen werden von den Kommunen finanziert. Die Beschäftigten in diesen Organisationen blicken immer vorsichtig auf ihre Finanziers. Das heißt konkret, dass keine dieser Organisationen die Regierung angreift. Und jahrelang hat keine dieser Organisationen ein brauchbares Safe-Sex-Flugblatt für Heterosexuelle herausgebracht.

19. Seine Rede ist abgedruckt in Kramer, S. 127-136.

20. Die beste und leicht erhältliche Quelle zu New Yorks Act Up ist D. Crimp und A. Rolston, Aids Demo Graphics (Seattle, 1990). Einen kleinen Einblick in dieses Thema und die Act-Up-Politik in Deutschland gibt auch A. Salmen (Hg.), Act Up, Feuer unterm Arsch: Die Aids-Aktionsgruppen in Deutschland und den USA (Sonderband der Deutschen Aids-Hilfe e.V., Berlin, 1991).

21. D. Crimp und A. Rolston, S. 33.

22. Das Plakat ist in Crimp/Rolston abgedruckt, S. 135. Ihre Poster dürfen von allen, die sie für ihren Kampf benutzen wollen, frei reproduziert oder übernommen werden.

23. Crimp/Rolston, S. 36-37.

24. I.B. Wefuse u.a., HIV-1-Infektion unter Heterosexuellen in New York City, Aids, 1990, Bd. 4, Nr. 2, S. 99-106.

25. R. Shilts, S. 103-104, 124, 171-172.

26. C. Perrow und M.F. Guillen, S. 126. Sie zitieren C. Gilman, Genesis of New York City’s Experimental Needle Exchange Program, International Journal on Drug Policy, 1989, 1: S. 28-32. Der Rest dieses Abschnitts über Adapt stützt sich auf Perrow/Guillen, S. 89-105 und 117-126. Mehr über Adapt und ein Bild aus erster Hand, was es bedeutet, Arbeiter, heterosexuell und HIV-positiv in New York zu sein, in: G. Whitmore, Someone Was Here: Profiles in the Aids Epidemic (New York, 1988), S. 125-211.

27. Es gibt ein Meer von Artikeln zu verschiedenen Ländern in The Lancet, The New England Journal of Medicine and Aids. Fast alle sind Untersuchungen über spezifische Teile der Bevölkerung: Kranke, Krankenhelfer, Prostituierte, Mütter, die ihre Kinder ins Krankenhaus bringen, etc. Es gibt eine nationale Stichprobenforschung in Uganda, die inzwischen einige Ergebnisse vorlegen kann. Eine der besten Untersuchungen ist die noch nicht abgeschlossene Studie in Kinshasa. Siehe z.B. R.W. Ryder, Heterosexual transmission of HIV-1 among employees and their spouses in two large businesses in Zaire, Aids, 1990, Bd. 4, Nr. 8, S. 725-732.

28. Zweite Ausgabe (London, 1988).

29. E. Amadi, The Great Ponds.

30. Carswell ist nicht perfekt. Er arbeitet zurzeit als Berater für Aids-Politik für die Regierung von Südafrika.

31. Siehe Aids Watch, 1988, Nr. 4, S. 3; World Aids, März 1991, S. 3-4; und E. Hopper, Slim (London, 1990).

32. Aids Newsletter, 1991, Bd. 6, Artikel 595.

33. Panos Dossier, The 3rd Epidemic: Repercussions of the Fear of Aids (London, 1990), S. 218.

34. Diese Geschichte kursiert mehr als Gerücht. Eine gute Einschätzung gibt R. Sabatier, Blaming Others: Prejudice, Race and Worldwide Aids (London, 1988), S. 61-65.

35. R.T. Naylor, Hot Money and the Politics of Debt (London, 1987). Es wurde auf vier bis fünf Milliarden für 1987 geschätzt.

36. L.E. Kruger u.a., Poverty and HIV seropositivity: the poor are more likely to be infected, Aids, 1990, Bd. 4, S. 811-814, für Seattle, USA; M. Desvarieux und J.W. Pape, HIV and Aids in Haiti: recent developments, Aids Care, 1991, Bd. 3, S. 271-280; A.R. Neequaye u.a., Factors That Could Influence the Spread of Aids in Ghana, West Africa: Knowledge of Aids, Sexual Behaviour, Prostitution and Traditional Medical Practices, Journal of Aquired Immune Deficiency Syndromes, 1991, Bd. 4, S. 914-920; S. Berkley u.a., Aids and HIV Infection in Uganda, are more women infected than men?, Aids, 1990, Bd. 4, S. 1237-1242.

37. Einige Beispiele in A. Hendriks, Bulgaria tests entire population, World Aids, September 1989, S. 5, und A. Hendriks und K. Knichler, About turn in central and eastern Europe, Word Aids, Mai 1991, S. 7-15; Cuban Policy Changing, World Aids, September 1991, S. 9-10.

38. Siehe T. Cliff, Staatskapitalismus in Rußland (Frankfurt am Main, 1974); C. Harman, Class Struggles in Eastern Europe (London, 1988); C. Hore, The Road to Tiananmen Square (London, 1991).

 


Zuletzt aktualisiert am 8 February 2010