Alex Callinicos

 

Die antikapitalistische Bewegung und die revolutionäre Linke

(2001)


Hier zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht im Auftrag von Linksruck.
Übersetzung von Alexc Callinicos, The Anti-Capitalist Movement and the Revolutionary Left (2001).
Übersetzung und Transkription: Linksruck.

HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


„Seattle war ein Scheideweg“, hat Ralph Nader gesagt. Seit der Demonstration, welche die Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO) Ende November 1999 zum Scheitern brachte, hat sich in den entwickelten kapitalistischen Ländern eine politisch aktive Minderheit herausgeschält, die den weltweiten Kapitalismus als Quelle für die Übel der Welt sehen. Dieses Gefühl von Ganzheit, davon, dass das System selbst der Fehler ist, unterscheidet diese neue antikapitalistische Bewegung von Kampagnen, die sich auf einzelne Themen und Missstände konzentrieren. Das Neue an dieser Bewegung wurde sehr gut in einem Bericht der Washington Post über die Proteste gegen George W. Bushs Amtseinführung beschrieben:

Aber was hat das mit dem IWF und der WTO zu tun? Die internationalen Finanz- und Handelsorganisationen versuchen die Welt für dieselben Konzerne profitabel zu machen, die auch die US-Politik dominieren, sagen die Demonstranten. Dieses Werk geschieht unter dem Deckmantel der Armutsbekämpfung oder der Währungsstabilisierung, sagen sie, aber die vom Markt diktierten Lösungen lassen immer die Interessen der Investoren Oberhand gewinnen.

Aus dieser Perspektive war es möglich, die verschiedensten Anliegen gegen einen gemeinsamen Feind zusammenzufassen. Rettet-den-Regenwald- und Anti-Sweatshop-Aktivisten wenden sich zum Beispiel gegen ein und dieselbe Handels- und Entwicklungspolitik, durch die Investitionen großer Konzerne in armen Ländern gefördert werden, welche wiederum damit beschäftigt sind, die natürlichen Ressourcen des Landes auszuverkaufen. Der globale Kapitalismus ist unter solchen Umständen ungerecht und ineffektiv, sagen die Aktivisten. [1]

Die antikapitalistische Bewegung zeigt sich auf vier Ebenen: Protestdemonstrationen, eine größere Veränderung des politischen Klimas, die Bildung neuer politischer Milieus und eine intellektuelle Wende.

1. Eine neue Welle des Protests. Seit N30 in Seattle gab es große Mobilisierungen gegen den internationalen Kapitalismus in Washington (16. April 2000), Millau (30. Juni 2000), Melbourne (11. September 2000), Prag (26. September 2000), Seoul (10. Oktober 2000), Nizza (6. bis 7. Dezember 2000) und wieder Washington (20. Januar 2001). Zusätzlich gab es sowohl 2000 als auch 2001 Proteste gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos, das sich jedes Jahr im Januar trifft. Unter den Zielen für die kommenden Proteste in diesem Jahr befinden sich das Gipfeltreffen der Europäischen Union in Götheborg vom 14. bis 16. Juni und das G-8-Treffen in Genua vom 20. bis 22. Juli. Der Charakter und die Zusammensetzung dieser Demonstrationen waren recht unterschiedlich. So war die Beteiligung der organisierten Arbeiterklasse in Seattle stark, schwach in Washington und Millau, schwach (aber durchaus vorhanden) in Prag und beherrschend in Seoul und Nizza. Trotz dieser Unterschiede kann es keinen Zweifel über die Größe der Bewegung geben. Wie Susan George sagte: „Seit dem Vietnamkrieg hat es nicht solch ein Wiederaufleben aktivistischer Energie gegeben.“ [2]

2. Die antikapitalistische Stimmung: In gewisser Hinsicht ist die Veränderung des allgemeinen politischen Klimas aber wichtiger. Die Bedeutung der Demonstrationen liegt zum Teil in dem, was sie tatsächlich erreicht haben – die von Seattle trug zum Scheitern des WTO-Treffens bei, während die Proteste von Prag die jährliche Vollversammlung des IWF zu einem vorzeitigen Ende brachte. Aber sie spielen auch eine symbolische Rolle, die nicht unterschätzt werden darf.

Es gab in den letzten Jahren größere Demonstrationen in den Vereinigten Staaten als die von Seattle. Es gab frühere Proteste gegen die kapitalistische Globalisierung – zum Beispiel zur Verschuldung der Dritten Welt bei den G-8-Gipfeltreffen in Birmingham im Juli 1998 und in Köln ein Jahr später, und schließlich der antikapitalistische Aufruhr J18 in London, Juni 1999. Aber vielleicht weil Arbeiter, Studenten und Nichtregierungsorganisationen im Herzen der Bestie zusammenkamen, in der Hauptstadt der „Neuen Ökonomie“ – wurde Seattle zum Kristallisationspunkt der neuen Stimmung. Der ehemalige polnische Finanzminister Grzegorz Kolodko bezeichnete in einem Buch mit dem Titel „Meine Globalisierung“ die Ereignisse von Seattle als „globales Radom“ und verglich so Seattle mit den Arbeiterprotesten in Polen 1976, die trotz ihrer brutalen Unterdrückung zum Vorboten der großen Solidarnosc-Bewegung von 1980 bis 1981 wurden.

In geringerem, aber immer noch bemerkenswertem Ausmaß erhielten auch die Proteste von Prag eine symbolische Bedeutung, obwohl es woanders größere Demonstrationen mit höherer Arbeiterbeteiligung gab. Eine der großen bürgerlichen Zeitungen in Bolivien veröffentlichte Bilder von den Prag-Protesten auf der Titelseite. Die linke mexikanische Tageszeitung La Jornada beschrieb die Proteste gegen das Weltwirtschaftsforum im karibischen Seebad Cancun im Februar 2001 als von Seattle, Washington und Prag inspiriert. Die Financial Times kommentierte:

Es war ein Glücksfall für die belagerten Organisationen, die eher Zusammenkünfte in Davos, Schweiz, gewohnt sind, dass das Treffen in Mexiko mit dem Beginn des zweiwöchigen Marsches der maskierten indianischen Rebellen auf Mexiko-City zusammenfiel, von denen die internationale Anti-Globalisierungs-Bewegung fasziniert ist. Bisher spielten Mexikaner in den Anti-Globalisierungs-Raufereien von Seattle, Davos und Prag keine große Rolle. Aber seit dem Erfolg des „Weltsozialforums“ in Porto Alegre, Brasilien, letzten Monat, das gegen Davos gerichtet war, sagen Aktivisten, dass es ein Wiederaufleben des Interesses in ganz Lateinamerika gebe. [3]

Seattle und Prag repräsentieren die Wiederkehr des Glaubens in die Möglichkeit gemeinsamen Widerstands gegen das System. Es ist wichtig zu verstehen, dass dies nicht heißt, jeder Kampf, der irgendwo auf der Welt stattfindet, sei ein Ausdruck dieser antikapitalistischen Stimmung. Der Motor der Al-Aqsa-Intifada zum Beispiel ist der brennende Groll der Palästinenser gegen ihre Unterdrückung durch den zionistischen Staat und besonders gegen die Art, wie der „Friedensprozess“ dazu diente, den israelischen Raub großer Teile des Landes im Westjordanland und dem Gazastreifen zu sichern und zu legitimieren. Es gibt natürlich eine Verbindung zwischen der Unterdrückung der Palästinenser und dem globalen Kapitalismus in der Gestalt des US-Imperialismus, aber das System selbst ist nicht im Zentrum ihres Bewusstseins, wenn sie den israelischen Staat bekämpfen. Dennoch beginnt die antikapitalistische Bewegung ein politischer Bezugspunkt sogar für jene Kämpfe zu werden, deren Antriebskraft woanders liegt. Edward Said schreibt zum Beispiel:

Ein Wendepunkt wurde jedoch erreicht, und dafür ist die palästinensische Intifada ein bedeutsames Zeichen. Denn sie ist nicht nur eine antikoloniale Rebellion der Art, wie wir sie periodisch in Setif, Sharpeville, Soweto und sonstwo erleben konnten. Sie ist ein weiteres Beispiel der allgemeinen Unzufriedenheit mit der (ökonomischen und politischen) Weltordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs, wie sie in den Ereignissen von Seattle und Prag demonstriert wurde. [4]

3. Die Herausbildung eines neuen politischen Milieus. Die antikapitalistische Stimmung findet ihren konkreten Ausdruck in der Entstehung eines mehr oder weniger organisierten politischen Milieus, wo eine neue Linke beginnt Form anzunehmen. Dieser Prozess begann in Frankreich nach den Streiks von 1995, als Le Monde diplomatique und Attac zu einem Anziehungspunkt für die Opposition gegen den Neoliberalismus wurden. [5] Diese Initiativen hatten europaweite Auswirkungen: Es gibt jetzt englische, deutsche und griechische Ausgaben von Le Monde diplomatique, während Attac jetzt in Norwegen, Dänemark, Schweden und der Schweiz gegründet wurde.

In den Vereinigten Staaten haben sich ebenfalls vielfältige Koalitionen und Kampagnen entwickelt, um das neue antikapitalistische Bewusstsein zu artikulieren. Ralph Naders Wahlkampagne zu den Präsidentschaftswahlen trug dazu bei, diesen Bewegungen einen nationalen Mittelpunkt zu geben. Wie es ein Unterstützer formulierte, „fühlte sich das Abstimmen für Nader an, wie ein kleiner Schritt in eine breitere Bewegung, ein Akt, der mich mit Protestierenden in Seattle und Prag verband.“ [6] Thomas Harrison fasste die politische Hauptstoßrichtung dieser Kampagne wie folgt zusammen:

Plutokratie, Oligarchie – dies waren die Worte, die Nader benutzte. Nader ist kein Sozialist, er ist nicht einmal ein Gegner des Kapitalismus und der Marktwirtschaft an sich. Seine Rhetorik hat viel Ähnlichkeit mit dem altmodischen amerikanischen Populismus und Progressivismus. Aber Naders Kampagne zog unablässig die Aufmerksamkeit auf die Probleme der Klassenherrschaft. Seit Norman Thomas in den 1930ern hat kein prominenter Kandidat für die Präsidentschaft dies zum Thema gemacht und Leute damit gezwungen, darüber nachzudenken. [7]

Obwohl der Druck, in diesem ultraengen Rennen die Demokraten zu wählen, Naders Anteil an den Stimmen unter die Fünf-Prozent-Hürde senkte, deren Erreichung die Voraussetzung für die öffentliche Parteifinanzierung bei zukünftigen Herausforderungen ist, schweißte seine Kandidatur eine bundesweite Kampagne zusammen. Howie Hawkins, ein Aktivist für die Grüne Partei (die Nader unterstützte) schreibt:

463.000 Unterschriften wurden gesammelt, um Nader auf die Wahllisten in 43 Staaten und dem Distrikt von Columbia zu bekommen. 150.000 Freiwillige sind in den Computern der nationalen Kampagne und den staatlichen, lokalen und Parteiorganisationen der Grünen, zu denen sie übertragen wurden, gespeichert. 25.000 studentische Freiwillige konnten 10.000e von neuen Wählern registrieren. Umfragen nach den Wahlen deuten darauf hin, dass die Kampagne über eine Million neue Wähler mobilisieren konnte, die sonst nicht zur Wahl gegangen wären.

Gut 100 Personen wurden in zwei Büros in DC und 19 Vor-Ort-Büros in verschiedenen Staaten eingestellt, wobei jeder Staat mindestens einen bezahlten Koordinator hatte. Mit der Hilfe dieses Personals konnten über 500 lokale grüne Gruppen und 900 grüne Universitätsgruppen 8 Millionen Stück Literatur organisieren und verteilen und 1 Million Buttons, Bumper-Stickers und Yard-Signs. Zwei Gewerkschaften – die Kalifornische Krankenschwester-Vereinigung und die Vereinigten Elektrizitätsarbeiter unterstützen Nader vollständig. Die Führer der UAW (Vereinigte Automobilarbeiter) und der Teamsters flirteten öffentlich mit Nader, und sei es nur, Gore in Bezug auf die Handelsthemen eine Warnung zu geben.

Nader war der einzige Präsidentschaftskandidat, dessen Kampagne in allen 50 Staaten lief. Seine Wahlveranstaltungen waren die größten von allen Kandidaten – 15.000 in Madison Square Gardens in New York, 14.000 im Target Center in Minneapolis, 12.000 im Fleet Center in Boston und 10.000 jeweils im Pavillon in Chicago, dem Coloseum in Portland und dem MCI Center in Washington DC. [8]

Auf etwas niedrigerer Ebene konnten die Konferenzen der Sozialistischen Bündnisse [die in den letzten Jahren links der britischen Sozialdemokratie entstanden sind; d. U.] und der Globalize Resistance in Großbritannien zwei sich überschneidende Wählerschaften zusammenbringen – jene, die von der Anti-Globalisierungs-Bewegung inspiriert sind, und die durch ihre Erfahrungen mit Blairs Regierung desillusionierten Unterstützer der Labour-Party. Das wirft ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass zumindest in Westeuropa die Krise des Reformismus sich verstärkte durch die Politik der sozialdemokratischen Regierungen, die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre gewählt worden waren, und diese Krise eine der Hauptquellen der antikapitalistischen Stimmung wurde.

4. Die Wiederkehr der Kritik des Kapitalismus. Um das Ausmaß der sich entwickelnden intellektuellen Wende zu begreifen, müssen wir uns die Szene der Verheerung in Erinnerung rufen, die nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime 1989 bis 1991 herrschte. Zu dieser Zeit verkündete Francis Fukuyama das Ende der Geschichte: Der liberale Kapitalismus habe triumphiert über alle Systemalternativen und würde, es sei denn es käme zu einem unvorhersehbaren Rückfall in die Barbarei, für immer herrschen. In einer bemerkenswert respektvollen Antwort von der intellektuellen Linken gestand Perry Anderson zu, dass Fukuyama möglicherweise Recht habe. [9] Anderson, der vor kurzem erneut Herausgeber der New Left Review wurde, bestätigte diese Perspektive nach Seattle und erklärte, die Vorherrschaft des Neoliberalismus sei nun so unangefochten, dass es „zum ersten Mal seit der Reformation keine bedeutende Opposition mehr gibt – das heißt, systematische konkurrierende Weltanschauungen – innerhalb der Gedankenwelt des Westens und auch kaum auf Weltebene, wenn wir die religiösen Doktrinen als vorwiegend unwirksame Archaismen [überholte Formen] abrechnen.“ [10] Aber diesmal wurde er unmittelbar angegriffen. [11]

Andersons Pessimismus steht nun im Kontrast zu einer Reihe von Figuren, die aufgetreten sind, um eine systematische Kritik des Kapitalismus anzubieten. Die wichtigsten unter ihnen sind Walden Bello, Pierre Bourdieu, Susan George, Naomi Klein und George Monbiot. Es ist leicht genug für Marxisten, die Beschränkungen ihrer Kritiken zu erkennen – ihre Zweideutigkeit zum Beispiel, ob der Feind der globale Kapitalismus oder lediglich der Neoliberalismus ist, die damit eng verbundenen Illusionen in den kleinbürgerlichen Kapitalismus als eine Alternative zu den multinationalen Konzernen und ihre gelegentliche Bereitschaft, sich mit der konservativen Rechten gegen die internationalen kapitalistischen Institutionen zu verbünden. [12]

Darüber hinaus entwickelt sich ein Prozess der Differenzierung in der Anti-Globalisierungs-Bewegung zwischen diesen Kräften. Zum Beispiel zwischen den so genannten Congos (kooptierte Nichtregierungsorganisationen), die auf ihrer Suche nach einem „Dialog“ bereit sind, mit dem IWF und der Weltbank zusammenzuarbeiten, und jenen, die im Gegensatz dazu, wie Bello sagt, die „Krise der Legitimation (dieser Institutionen) verstärkt“ sehen möchten. Auf dem Weltsozialforum (WSF) von Porto Alegre im Januar 2001, abgehalten als Alternative zu dem jährlichen Remmidemmi der Bosse in Davos, konnten wir starke Kräfte sehen – vor allem verbunden mit Le Monde diplomatique und der Führung von Attac, die energisch eine reformistische Tagesordnung durchsetzten.

Susan George, die völlig richtig die weit links stehenden französischen Mitglieder des Europaparlaments kritisiert, weil sie nicht bereit waren, eine Resolution für die Tobin-Steuer auf internationale Finanzspekulationen zu unterstützen, sagte in Porto Alegre:

Ich bedauere, dass ich gestehen muss, nicht mehr zu wissen, was „den Kapitalismus stürzen“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts heißt. Vielleicht werden wir erleben, was der Philosoph Paul Virilio „den globalen Unfall“ nennt. Wenn es dazu kommt, wird er sicher von unglaublichem menschlichen Leid begleitet sein. Wenn alle Finanzmärkte und alle Börsen zu gleicher Zeit zusammenbrechen, würden sich Millionen von Menschen in der Arbeitslosenschlange wiederfinden, Bankenzusammenbrüche würden die Möglichkeiten der Regierungen, Katastrophen zu verhindern, weit übersteigen, Unsicherheit und Kriminalität würden zur Regel werden, und wir würden in die Hobbes’sche Hölle des Kriegs eines jeden gegen jeden geworfen. Nennt mich eine „Reformistin“, wenn ihr wollt, aber ich möchte solch eine Zukunft ebenso wenig wie die neoliberale Zukunft. [13]

Es würde jedoch ein großer Fehler sein, solche Äußerungen für den Ausdruck einer gefestigten reformistischen Position zu halten. In der selben Rede weist Susan George das Etikett „Globalisierungsgegner“ zurück: „Wir sind ‚Globalisierungsbefürworter‘, weil wir dafür sind, Freundschaft, Kultur, Kochen, Solidarität, Wohlstand und Ressourcen zu teilen“. Und sie zeigt ein klares Verständnis von der zerstörerischen Logik des Kapitals:

Es ist ein Hirngespinst zu denken, dass die transnationalen Konzerne und die reichen Länder ihr Verhalten letztendlich ändern werden, wenn sie schließlich begreifen, dass sie das Leben des Planeten zerstören werden, auf dem wir alle leben müssen. Meiner Ansicht nach können sie nicht aufhören, selbst wenn sie es wollten, selbst wenn es um die Zukunft ihrer eigenen Kinder geht. Kapitalismus ist wie das berühmte Fahrrad, das sich immer nach vorne bewegen muss oder umfällt, und Firmen konkurrieren, um zu sehen, wer schneller in die Pedale treten kann, bevor sie gegen eine Mauer prallen.

An anderer Stelle hat sie eindringlich die Identitätspolitik angegriffen, welche unter der akademischen „kulturellen Linken“ in der Hochblüte des Postmodernismus in den 1980ern und 1990ern modern wurde. Mit der Vorstellung von einer kapitalistischen Strategie, die unter anderem „Feindschaft zwischen den ethnischen Gruppen schürt, um die Bevölkerungszahlen zu senken“, schreibt sie:

Das wichtigste psychologische Werkzeug, das für diesen Zweck geschmiedet wurde, ist die „Identitätspolitik“, wie sie heute im Westen genannt wird. Idealerweise sollten Individuen sich überall stark mit einer ethnischen, sexuellen, sprachlichen, rassischen oder religiösen Untergruppe identifizieren im Gegensatz zu einer Selbstdefinition als ein Bürger irgendeines Landes oder gar als Mitglied einer sozialen Klasse oder Berufskaste dieses Landes, noch weniger als ein Mitglied einer „menschlichen Rasse“. Jede Person soll sich an erster Stelle als Mitglied einer eng definierten Gruppe fühlen und erst an zweiter Stelle als Arbeiter, als Mitglied einer Gemeinde, als Mutter oder Vater, ein nationaler oder internationaler Bürger. [14]

Dies ist ein weitaus schärferer Angriff auf die Weise, wie Identitätspolitik sich in die kapitalistischen Interessen des Teilens und Herrschens fügt, als entsprechende Angriffe von revolutionären Marxisten. [15] Die Zweideutigkeiten der antikapitalistischen Theorie ändern nicht das Geringste an dem Einfluss, den die Bewegung hatte, indem sie die Bedingungen der intellektuellen und politischen Debatte veränderte. In einem speziellen Bericht mit dem Titel „Globaler Kapitalismus: Kann er dazu gebracht werden, besser zu funktionieren?“ argumentiert Business Week:

Es wäre ein großer Fehler, den Aufruhr, den wir in den letzten paar Jahren [sic!] in Seattle, Washington DC und Prag beobachten konnten, als unwesentlich abzutun. Viele der Radikalen, die die Proteste anführten, mögen am politischen Rand stehen, aber sie haben dazu beigetragen, ein grundlegendes Überdenken von Globalisierung in den Regierungen, unter Wirtschaftswissenschaftlern des Mainstreams und in Konzernen loszutreten, was bis vor kurzem hauptsächlich in obskuren Denkschmieden und akademischen Seminaren stattfand. [16]

Die Angriffe auf die internationalen kapitalistischen Institutionen haben sie in die Defensive gedrängt. Sowohl in Prag als auch Porto Alegre leitete Bello Teams, die mit Repräsentanten des globalen Kapitalismus, einschließlich – in Prag – den Köpfen des IWF und der Weltbank debattierten, und in beiden Fällen mit dem Hedge-Fund-Zauberer George Soros. Die Tatsache, dass Letzterer zu dieser Auseinandersetzung bereit war, ist bemerkenswert. Zudem erlitten sie beide Male schwere Niederlagen. Der Weltbank Präsident Wolfensohn stotterte schließlich: „Ich und meine Kollegen fühlen uns gut dabei, wenn wir täglich zur Arbeit gehen.“

Nachdem Bello den Bossen in Davos in einer Fernsehausstrahlung über Satellit erklärte, das Beste, was sie für die Welt tun könnten, sei, sich in den Weltraum schießen zu lassen, berichtete die Financial Times von Soros: „Solch unbequeme Erfahrungen scheinen vorübergehend seine Fähigkeit zu markigen Sprüchen durcheinander gebracht zu haben.“ [17] Soros dagegen musste anerkennen: „Diese Protestbewegung greift etwas auf, das von vielen gefühlt wird. Die Methoden, die sie benutzen, sind nicht akzeptabel, aber sie sind wirksam – durch ihre Störungen haben sie eine Aufmerksamkeit erzeugt, die es vorher nicht gab.“ [18] Sogar ein Blair-Journalist musste zugeben: „Porto Alegre hatte etwas, das Davos verloren hat. Es war das Gefühl, auf dem Rücken einer Bewegung zu reiten.“ [19]

Die Bosse mit Worten zu schlagen, ist natürlich nicht dasselbe wie ihnen die Kontrolle dieses Planeten zu entreißen. Dennoch sehen wir die Entstehung einer zunehmend einflussreichen Gruppe von Intellektuellen, die sich selbst als Teil eines politischen Kampfes gegen den globalen Kapitalismus sehen. Bourdieus letzte Schriften offenbaren eine zunehmend schärfere antikapitalistische Orientierung. So schreibt er (zusammen mit Loic Wacquant):

Empirische Untersuchungen der Langzeitentwicklungen der entwickelten Ökonomien legen nahe, dass „Globalisierung“ keine neue Phase des Kapitalismus, sondern eine „Rhetorik“ ist, die Regierungen heraufbeschwören, um ihre bereitwillige Unterordnung unter die Finanzmärkte zu rechtfertigen. Weit davon entfernt, wie es unablässig wiederholt wird, die unvermeidliche Folge des wachsenden Außenhandels zu sein, sind Deindustrialisierung, die Zunahme der Ungleichheiten und die Widersprüche der Sozialpolitik Ergebnis hausgemachter politischer Entscheidungen, die das Umkippen der Klassenverhältnisse zu Gunsten der Eigentümer des Kapitals reflektieren. [20]

Diese Radikalisierung ist nicht auf die Akademie beschränkt. Boris Kagarlitsky schrieb in seinem Bericht zu Prag: „Walden Bello ist wie Lenin im Oktober. Durch die Demonstrationen von Seattle hat er sich von einem akademischen in einen wirklichen Führer verwandelt.“ [21] In Wahrheit hat Bello noch einen gewissen Weg zu gehen, ehe er zu einem anderen Lenin wird. Aber zweifellos ist die Rolle, die er jetzt spielt, die eines Aktivisten, der eine direkte politische Intervention macht, nicht die des Akademikers, der Seminarpapiere liest. Das gleiche gilt auch für Bourdieu, der nach den Streiks von 1995 so etwas wie eine kleine politische Organisation, Raison d’agir, gegründet hat, die die treibende Kraft hinter den europaweiten Initiativen für eine Bewegung der „Generalstände für ein soziales Europa“ ist.

Worauf dies hinausläuft, ist die Geburt einer neuen Linken auf internationaler Ebene. Nach der Globalize-Resistance-Konferenz schrieb George Monbiot:

Endlich geschieht es. Gerade in dem Moment, da die Neoliberalen auf beiden Seiten des Atlantiks den weltumspannenden Sieg proklamieren, beginnt sich eine vielfältige radikale Oppositionsbewegung zu entwickeln. Sie ist konfus, widersprüchlich und sie hat keine Ähnlichkeiten mit dem, was wir von früher kennen. Aber zum ersten Mal in den 14 Jahren politischer Aktivität habe ich das Gefühl, dass ich Zeuge von etwas Unaufhaltsamem bin. [22]

 

 

Eine Herausforderung für Revolutionäre

Dies ist, wie sie 1968 sagten, nur der Anfang. Antikapitalismus ist international am weitesten als Stimmung verbreitet. Seine Entwicklung zu einer Bewegung ist recht unterschiedlich – am weitesten in den US und Frankreich entwickelt, viel ungleichmäßiger in anderen Ländern. Ein endgültiger Erfolg wird von dem abhängen, was kurz in Seattle geschah – dem Zusammentreffen von organisierten Arbeitern und Anti-Globalisierungs-Aktivisten – und der Entwicklung einer beständigen Bewegung. Und das setzt voraus, dass der Antikapitalismus, der immer noch eine diffuse Ideologie ist, die sich vorwiegend durch das definiert, wogegen sie ist – neoliberale Politik und multinationale Konzerne – zu einem zusammenhängenden sozialistischen Bewusstsein entwickelt. All dies ist das kleine ABC für revolutionäre Marxisten. Die Tatsache bleibt, dass dies die größte Öffnung für die Linke seit den 1960er Jahren ist.

Die antikapitalistische Bewegung ist dennoch eine große Herausforderung für die revolutionäre Linke. Die beiden sind nicht das Gleiche. Die antikapitalistische Bewegung ist, wie Monbiot es formulierte, „vielfältig, konfus, widersprüchlich“. Sie bedient sich aus allen möglichen ideologischen Quellen, umfasst eine unglaubliche Bandbreite verschiedener Organisationen und entstand unter einer sehr heterogenen Sammlung von Aktivisten – Christen in der Dritte-Welt-Schuldenerlass-Kampagne, Umweltschützer, Dritte-Welt-Ökonomen, Tierschützer, Überlebende der 1960er, anarchistische Straßenkämpfer, Mitglieder angesehener Nichtregierungsorganisationen, Unterstützer verschiedener Dritte-Welt-Solidaritätsbewegungen und ein paar Einsprengsel von Gewerkschaftern und Sozialisten. Die revolutionäre Linke umfasst im Gegensatz dazu jene marxistischen Organisationen, die es geschafft haben, die Niederlagen der 1980er zu überleben – hier besonders auf internationaler Ebene die Unterstützer der Internationalen Sozialistischen Tendenz (IST) und das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VSVI). [23]

Das Zusammenkommen der antikapitalistischen Bewegung und der revolutionären Linken wird keine unaufhaltsame Entwicklung sein. Damit dies geschieht, müssen Revolutionäre sich selbst ändern. Sie werden die Gewohnheiten abschütteln müssen, welche sie in den 1980ern entwickelten und in der ersten Hälfte der 90er Jahre, als rechte Ideen Zulauf bekamen und es deshalb wichtig war, die marxistischen Ideen und Organisationen vor der feindlichen politischen Umgebung zu schützen. Heute brauchen wir neue Arbeitsmethoden. Besonders die systematische Anwendung der Einheitsfront, wie sie von den Bolschewiki und der Kommunistischen Internationale in ihren ersten Jahren (1918 bis 1923) entwickelt wurde, ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir uns auf das neue politische Milieu beziehen.

Die Socialist Workers Party in Großbritannien stolperte mehr oder weniger in der Praxis während des Balkankrieges von 1999 darüber, als die Antikriegsbewegung sich durch einen viel höheren Grad von Einheit und gleichem Ziel auszeichnete, als während des Golfkriegs von 1991. Linke Einheit erreichte im Londoner Sozialistischen Bündnis, das eine Liste zu den Wahlen der Greater London Authority [das Gesamtlondoner Stadtparlament] aufgestellt hatte, einen noch höheren Grad. Sie war in der Lage, aus dem weitverbreiteten Bedürfnis nach Einheit zu schöpfen, das von einem großen Spektrum der radikalen Linken zu vielen traditionellen Unterstützern der Labour-Linken reichte. Der Erfolg der Globalize-Resistance-Konferenzen im Februar 2001 beruhte entscheidend auf dem breiten Spektrum politischer Ansichten, die sich bei den Vorbereitungen und auf der Konferenz selbst zeigten. [24]

Diese Wende hin zu einer systematischen Einheitsfrontarbeit ist lediglich ein wichtiger Teil einer viel größeren Wandlung, die Revolutionäre einleiten müssen, um sich auf die antikapitalistische Bewegung beziehen zu können. Diese Wandlung beinhaltet, eine Sensibilität für den besonderen Stil und die Anliegen der Bewegung zu entwickeln, ihre Literatur zu kennen und die Themen auf die sie sich konzentriert, und eine Bereitschaft zum Dialog. Die Erfahrungen mit der Arbeit für Prag und Nizza und für die Globalize-Resistance-Konferenz hat immer wieder gezeigt, dass die an diesen Einheitsfronten Beteiligten unglaublich offen für marxistische Argumente sind – vorausgesetzt, diese sind in einer Weise vorgebracht, dass sie für ihre Anliegen von Belang sind, und vorausgesetzt, dass ihnen nicht gepredigt wird. All dies unterstreicht die Wichtigkeit, mit den Tendenzen zum Sektierertum zu brechen, welche die Isolation, in der sich revolutionäre Sozialisten in den letzten zwanzig Jahren befanden, erzeugte.

Aber es gibt absolut keine Garantie, dass Revolutionäre diesen notwendigen Bruch vollziehen. Die Geschichte der sozialistischen Bewegung hat immer wieder gezeigt, dass jede scharfe Veränderung der objektiven Situation Krisen innerhalb der revolutionären Organisationen hervorruft. Mitglieder beginnen das, was ursprünglich in Reaktion auf bestimmte Umstände als Taktik entwickelt worden war, als eine Angelegenheit von Prinzipien zu sehen. Die Organisation umzusteuern, um auf andere Bedingungen reagieren zu können, trifft immer auf Widerstand, der die Trägheit reflektiert, welche durch eine Orientierung geschaffen wurde, die in der Vergangenheit erfolgreich war.

Bei der Betrachtung der Erfahrungen der Bolschewiki schrieb Trotzki 1924:

Allgemein gesprochen kommt es in der Partei bei jeder ernsthaften Wende im Kurs der Partei zu einer Krise, entweder als Vorspiel zu der Wende oder als Konsequenz davon. Die Erklärung dafür liegt in der Tatsache, dass jede Periode in der Entwicklung der Partei ihre eigenen Merkmale hat und bestimmte Gewohnheiten und Arbeitsmethoden erfordert. Eine taktische Wende verlangt einen größeren oder kleineren Bruch mit diesen Gewohnheiten und Methoden. Hierin liegt die unmittelbare Wurzel parteiinterner Spannungen und Krisen. „Zu oft geschieht es“, schrieb Lenin im Juli 1917, „dass, wenn die Geschichte eine scharfe Wendung macht, sogar fortschrittliche Parteien für einige Zeit unfähig sind, sich selbst der neuen Situation anzupassen und stattdessen Sprüche wiederholen, die früher korrekt waren, aber jetzt ihren Sinn verloren haben – so ‚plötzlich’ verloren haben, wie die scharfe Wendung in der Geschichte ‚plötzlich’ kam.“ Deshalb besteht, wenn die Wende zu abrupt oder zu plötzlich kommt und wenn in der vorhergegangenen Periode zu viele Elemente der Trägheit in den führenden Parteiorganen zusammenkamen, die Gefahr, dass die Partei sich als unfähig erweisen wird, ihre Führerschaft in dem äußersten und kritischen Moment, auf den sie sich im Laufe der Jahrzehnte vorbereitet hat, auszuüben. Die Partei wird von einer Krise verwüstet und der Moment geht an der Partei vorüber – und nimmt Kurs auf die Niederlage. [25]

Lenin war mit dieser Gefahr zu verschiedenen Gelegenheiten konfrontiert. Die wichtigste war seine Reaktion auf die Russische Revolution von 1905 als er, wie Tony Cliff es ausdrückte, darum kämpfte, „die Tore der Partei zu öffnen – das heißt für die Massenrekrutierung von Arbeitern, die durch ihre Erfahrungen im Aufschwung der Kämpfe radikalisiert worden waren. Er tat dies gegen den bitteren Widerstand der „Komiteemänner“ – der professionellen Revolutionäre, die mit Lenin an ihrer Spitze eine eng zentralisierte Untergrundorganisation während der Jahre der Repression vor 1905 aufgebaut hatten. Lenins engster Verbündeter in diesem Kampf, die Partei zu öffnen, war Aleksandr Bogdanow. Aber in der Zeit der Reaktion nach der Niederlage der Revolution von 1905 wurde Bogdanow der Führer einer ultralinken Fraktion innerhalb der Bolschewiki, die sich gegen eine notwendige Änderung der Taktik, welche zur Anpassung an die neue Situation erforderlich war – zum Beispiel Kandidaten zu der zaristischen Duma als Plattform für legale politische Aktivitäten aufzustellen –, wehrte. Trotz ihrer engen Zusammenarbeit bis dahin, zögerte Lenin nicht, mit Bogdanow zu brechen und ihn schließlich von den Bolschewiki auszuschließen. [26]

Lenins Praxis des „Ruder-Herumreißens“ – auf die entscheidenden Aufgaben in der gegenwärtigen Situation zu konzentrieren und alle zweitrangigen Faktoren auszuschließen, sogar mit Übertreibungen – ergab sich teilweise aus der Notwendigkeit, den konservativen Widerstand in der Partei gegenüber Veränderungen, die durch eine „scharfe Wendung in der Geschichte“ diktiert wurden, zu überwinden. Cliff schreibt:

Lenin hatte grundsätzlich Recht, wenn er darauf bestand, „das Ruder“ einen Tag in die eine Richtung „herumzureißen“, den anderen Tag in die andere Richtung. Wenn alle Aspekte der Arbeiterbewegung sich gleichmäßig entwickelt hätten, wenn ein ausgewogenes Wachstum die Regel gewesen wäre, dann hätte die Methode des „Ruder-Herumreißens“ vernichtende Auswirkungen auf die Bewegung. Aber im realen Leben dominiert das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung. Ein Aspekt der Bewegung ist zu einer bestimmten Zeit entscheidend. Das Haupthindernis, vorwärts zu kommen, mag ein Mangel an Parteikadern sein, oder im Gegenteil, der Konservativismus der Parteikader lässt sie hinter den fortgeschrittenen Teilen der Klasse hinterherhinken. Perfekte Abstimmung aller Elemente würde die Notwendigkeit des „Ruder-Herumreißens“ überflüssig machen, aber auch die revolutionäre Partei oder die revolutionäre Führung. [27]

Der Preis dafür, diese andere Herangehensweise nicht zu entwickeln, ist Sektierertum. Nachdem Marx nach der Niederlage der Revolutionen von 1848 durch eine lange Zeit der Isolation gegangen war, reagierte er auf die Wiederbelebung der Arbeiterbewegung in den frühen 1860ern, indem er eine führende Rolle bei der Gründung und dem Aufbau der Ersten Internationale spielte. Dazu gehörte, dass er mit linken Strömungen zusammenarbeitete, die er früher heftig kritisiert hatte – zum Beispiel die Anhänger Proudhons, deren Ideen er in Das Elend der Philosophie (1847) systematisch auseinander genommen hatte und, zumindest zu seiner eigenen Befriedigung, in den unveröffentlichten Manuskripten von Kapital (besonders in den Grundrissen). Marx beschrieb die erforderliche Änderung der Arbeitsweise, als er die Kapriolen der Anhänger von Bronterre O’Brien diskutierte, einer der großen Führer der Chartisten-Bewegung in den 1840ern, der später in den Jahren der Reaktion, zu einem Sektierer degenerierte:

Die „Internationale“ wurde gestiftet, um die wirkliche Organisation der Arbeiterklasse für den Kampf an die Stelle der sozialistischen oder halbsozialistischen Sekten zu setzen. Die ursprünglichen Statuten wie die „Inauguraladresse“ zeigen dies auf den ersten Blick. Andrerseits hätte die Internationale sich nicht behaupten können, wenn der Gang der Geschichte nicht bereits das Sektenwesen zerschlagen gehabt hätte. Die Entwicklung des sozialistischen Sektenwesens und die der wirklichen Arbeiterbewegung stehn stets im umgekehrten Verhältnis. Solange die Sekten berechtigt sind (historisch), ist die Arbeiterbewegung unreif zu einer selbständigen geschichtlichen Bewegung. Sobald sie zu dieser Reife gelangt, sind alle Sekten wesentlich reaktionär. [28]

In einem Brief an J.B. Schweitzer, den Führer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), der von Ferdinand Lassalle gegründet worden war, lobte Marx Lassalle, weil er die deutsche Arbeiterbewegung in den frühen 1860ern während „einer Zeit der Reaktion“, nach „fünfzehnjährigem Schlummer“, wieder wachgerufen hatte. Aber dann argumentierte Marx weiter, dass Lassalle, indem er versuchte, von Bismarcks reaktionärem Regime Reformen zu erhalten, und indem er die staatsgeförderten Kooperativen der Entwicklung der Gewerkschaften entgegenstellte, den ADAV in eine Sekte verwandelt hatte:

In der Tat, jede Sekte ist religiös ... Er fiel in den Fehler Proudhons, die reelle Basis seiner Agitation nicht aus den wirklichen Elementen der Klassenbewegung zu suchen, sondern letzterer nach einem gewissen doktrinären Rezept ihren Verlauf vorschreiben zu wollen ... Die Sekte sucht ihre raison d’être und ihren point d’honneur [ihre Daseinsberechtigung und ihre Ehre] nicht in dem, was sie mit der Klassenbewegung gemein hat, sondern in dem besondren Schibboleth [Merkmal], das sie von ihr unterscheidet. [29]

Marx kritisierte dann Schweitzer selbst:

Die Auflösung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gab Ihnen den Anlass, einen großen Fortschritt zu vollziehn und zu erklären, zu beweisen, dass ein neues Entwicklungsstadium eingetreten und die Sektenbewegung nun reif sei, in die Klassenbewegung aufzugehen und allem „Anertum“ ein Ende zu machen. Was den wahren Inhalt der Sekte betraf, würde sie ihn, wie alle früheren Arbeitersekten, als bereicherndes Element in die allgemeine Bewegung tragen. Stattdessen haben Sie die Forderung an die Klassenbewegung gestellt, sich einer Sektenbewegung unterzuordnen. Ihre Nichtfreunde haben daraus geschlossen, dass sie unter allen Umständen Ihre „eigne Arbeiterbewegung“ konservieren wollen. [30]

 

 

Die verpassten 60er Jahre: die amerikanische Socialist Workers Party

Es gibt jedoch zwei jüngere Beispiele dafür, dass revolutionäre Organisationen Schwierigkeiten haben können, eine Wende einzuleiten – oder es gar nicht schaffen. Die Socialist Workers Party in den Vereinigten Staaten war die Hauptorganisation der trotzkistischen Bewegung in ihrem Anfangsstadium in den 1930er und 1940er Jahren. James P. Cannon und andere Führer der SWP (US) arbeiteten eng mit Trotzki zusammen und sie konnten sich mit einiger Berechtigung als seine Erben bezeichnen. Trotz der internen Spaltungen und staatlichen Verfolgung konnte die SWP in den 50er Jahren zusammengehalten werden, in einer der schwierigsten Zeiten für Amerikas Revolutionäre, als der Kalte Krieg, McCarthyismus und der lange Wirtschaftsaufschwung authentische marxistische Politik völlig überflüssig erscheinen ließen.

Aber der Erhalt der Organisation wurde zum Preis der Verknöcherung erkauft. Tim Wolforth, ein führendes Mitglied der SWP (US) in den späten 50ern und frühen 60ern erinnerte sich:

Das Ortsgruppenleben in der SWP war eine schwerfällige und routiniert Angelegenheit. Jedes Treffen begann damit, das Protokoll des letzten Treffens vorzulesen. Dann kam der Bericht des Organisators, üblicherweise eine trockene Rezitation der verschiedenen organisatorischen Aufgaben, vor denen die Gruppen standen. Diesem folgte eine Kette von untergeordneten Berichten bezüglich der Kasse, Verkauf des „Militant“, des Forumkomitees, Aktivitäten zur Gruppenumbildung oder was auch immer. Politische Ereignisse in dieser Woche wurden kaum erwähnt, und Fragen von Theorie und der politischen Linie wurden nur alle zwei Jahre in speziellen Vorkonferenzzeiten diskutiert. Der apolitische Ton dieser politischen Partei ging von der Führung im Politischen Komitee aus und wurde dann in jeder Ortsgruppe des Landes gläubig nachgebetet. [31]

Nachdem er die fraktionellen Streitereien, welche die Langeweile des Parteilebens in den 50er Jahren belebten, beschrieben hatte, kommentierte er:

Ich will nicht unterstellen, dass die SWP in dieser Zeit eine Art fraktioneller Dschungel war. Das Alltagsleben der Partei war friedlich bis zur Langeweile. Die meiste fraktionelle Arbeit hatte Untergrundcharakter, ausgeübt von Individuen, die behaupteten, keine politischen Differenzen gegenüber der Führung zu haben. Mitgliedsbeiträge wurden bezahlt und „Militant“ immer verkauft. Die Partei wurde unauffällig, aber professionell geführt. Das Problem war, dass sich in der Partei eine Generation von Arbeitern und Intellektuellen befand – jene, die in den 30ern und während des Zweiten Weltkrieges rekrutiert worden waren –, die langsam alt und müde wurde. Cannon leistete bessere Arbeit als Shachtman, da er seine alternden Kader halten konnte und insgesamt erhielten er und seine Anhänger sich das revolutionäre Vertrauen. Aber weil der Wille und die Energie verloren gegangen waren, war das Vertrauen so ziemlich alles, was geblieben war. [32]

Zu Beginn der 60er Jahre begann sich die Situation zu ändern, besonders wegen der Pionierarbeit, die verschiedene kleine linke Grüppchen leisteten. [33] Eine neue Radikalisierung begann sich zu entwickeln, vor allem im Gefolge der Bürgerrechtsbewegung. Aber erst die Gegnerschaft zum Vietnamkrieg, insbesondere auf Grund von Präsident Lyndon B. Johnsons Eskalation der direkten militärischen US-Intervention 1964–65, rief die riesige Massenmobilisierung hervor. Vietnam spaltete die amerikanische Gesellschaft in den späten 60ern und frühen 70ern tief, mit Langzeitwirkungen, die noch heute zu spüren sind. Es erzeugte eine enorme Hinwendung zu linken Ideen unter Millionen gerade junger Leute, die sich an den großen Antikriegsdemonstrationen beteiligten. Die neue linke Dachorganisation an den Unis, die „Studenten für eine demokratische Gesellschaft“ (SDS), schoss wie Pilze aus dem Boden im Verlauf des Jahrzehnts. Maurice Isserman schrieb:

1961 hatte der SDS etwa 300 beitragzahlende Mitglieder; um 1968 hatte er ungefähr so viele Ortsgruppen. Auf Grund der chaotischen Buchführung der Organisation und der Tatsache, dass so viele Aktivisten in lokalen Ortsgruppen ihre Beiträge nicht an das nationale Büro überwiesen, ist es unmöglich, die wirkliche Mitgliedschaft Ende der 60er Jahre zu bestimmen, aber Schätzungen damals lagen zwischen 30.000 bis zu 100.000. Gemessen an den 50ern oder auch den 30ern, war dies eine riesige Gruppe. [34]

Die Tragödie der SWP (US) war, dass sie die Gelegenheit, welche diese Radikalisierung eröffnete. verpasste. Immerhin warf sie sich in die Antikriegsbewegung und spielte eine Schlüsselrolle dabei, für eine Reihe von Massendemonstrationen zu mobilisieren. Sie war zum Beispiel die treibende Kraft in der Nationalen Friedenskoalition (NPAC), welche eine der größten Antikriegsdemonstrationen in Washington am 24. April 1971 ins Leben rief. Das Problem war, dass die SWP (US) einen Fetisch aus der Taktik legaler Massendemonstrationen in einer Einpunktbewegung machte. Peter Camejo, ein führendes Mitglied in den 60er und 70er Jahren, erinnerte sich später:

Es wurde zu einem geradezu grundlegenden religiösen Dogma, dass du für eine friedliche, legale Demonstration zu einem einzigen Thema eintreten musstest. Und nur sehr wenige stellten das in Frage. Es wurde innerhalb der SWP eingehämmert. Wenn neue Leute zu uns kamen, um sich im Allgemeinen an der Vietnamkriegsbewegung zu beteiligen, erklärten ihnen die SWPler, warum dies der Schlüssel war, und auf dieser Grundlage rekrutierten sie. [35]

Das SWP-(US)-Dogma der legalen Massendemonstrationen bedeutete, dass sie den starken Kräften innerhalb der Antikriegsbewegung, die massenhaften zivilen Ungehorsam unterstützten, mit bitterer Feindseligkeit begegnete. Genau aus diesem Grund gründete sie NPAC und spaltete so die Bewegung. Schlimmer noch, die Haltung der SWP (US) schnitt sie ab von der politischen Radikalisierung, von der ein großer Teil durch den SDS ging, die viele dazu brachte, Druck für Formen der – gewaltsamen wie friedlichen – direkten Aktion auszuüben. Obwohl Wolforth die Antikriegsarbeit der SWP (US) lobt, gibt er zu:

Indem die SWP sich entschied, ihre Energien auf die Antikriegsbewegung zu konzentrieren, vernachlässigte die das ebenso wichtige Anwachsen des SDS. Teilweise, da bin ich sicher, war diese Vernachlässigung eine Frage der mageren Ressourcen, da die SWP in diese Periode nach einer Reihe von Spaltungen und wegen abtrünniger alter, müder Kader erheblich geschwächt eintrat. Sie hatte etwa 400 Mitglieder während der ganzen 60er Jahre und wuchs bis zu den 70ern nicht ernsthaft. Aber die Wahl zu Gunsten einer Antikriegsarbeit hatte auch mit dem Charakter der Partei zu tun. Die SWP fühlte sich bequem damit, mit jenen in massenhaften friedlichen Demonstrationen zu arbeiten, die politisch rechts von ihr standen. Es war entschieden unbequemer, an Gruppen wie den SDS heranzutreten, die links von ihr standen und eine Form von Aktivität gewählt hatten, die viel spontaner war und gelegentlich auf Abenteurertum hinauslief. So wie die SWP den Aufstieg von Progressive Labour ignoriert hatte, so nahm sie Abstand davon, innerhalb des SDS zu intervenieren, der bald eine lose Mitgliedschaft von rund 30.000 hatte. Die SWP rekrutierte fast niemanden aus dem Milieu des SDS. [36]

Die Abwesenheit irgendeiner ernsthaften marxistischen Organisation, die versuchte, sich auf die Radikalisierung zu beziehen, trug mit dazu bei, eine Situation zu schaffen, in der Aktivisten durch einen Zyklus von großen Massenmobilisierungen gefolgt von Perioden der Demoralisierung gingen, verursacht durch die Tatsache, dass der Krieg trotz der Demonstrationen weitergeführt wurde: Die daraus resultierende Frustration brachte Kriegsgegner zu Formen der Aktivität – für die Wahlkampagne der Kriegsgegner in der Demokratischen Partei zu arbeiten oder zu Mitteln des Terrorismus zu greifen –, die als gemeinsamen Nenner den Versuch hatten, einen Ersatz für die Massenaktion zu finden. [37] Organisatorisch drückte sich diese Radikalisierung hauptsächlich in dem Wachstum verschiedener maoistischer Gruppen aus, die sich als völlig unfähig erwiesen hatten, die für diese Situation notwendige Politik anzubieten (heute sind die US-Akademien übersät mit Professoren, die in den 70er Jahren einige Jahre damit verbracht haben, in Stahl- oder Autowerken zu arbeiten im Rahmen der „Industrialisierungs“-Strategie einiger maoistischer Sekten. Noch schlimmer war, dass einige zu den Weathermen und anderen Gruppen gingen, die einen vergeblichen und verheerenden bewaffneten Kampf gegen den amerikanischen Staat führten und tot, im Knast oder manchmal jahrelang auf der Flucht endeten. Eine Generation, die zumindest eine Basis für eine starke amerikanische Linke hätte werden können, ging verloren.

 

 

Eine amerikanische Tragödie: die International Socialist Organization

Die Wurzeln des Scheiterns der SWP (US) können bis zu dem falschen Weg zurückverfolgt werden, den sie – zusammen mit dem Rest der Vierten Internationale – nach dem Zweiten Weltkrieg eingeschlagen hatte, als Trotzkis Analyse von Russland als entarteter Arbeiterstaat zum heiligen Dogma erkoren wurde. Die Strömung der Internationalen Sozialisten hat ihren Ursprung in dieser Krisenzeit und insbesondere in der Kritik Tony Cliffs an Trotzki und der daraus entwickelten Staatskapitalismustheorie. Das ermöglichte uns, an der klassischen marxistischen Vorstellung von Sozialismus als Selbstbefreiung der Arbeiterklasse festzuhalten und eine Herangehensweise im Parteiaufbau zu entwickeln, die von der Realität proletarischen Lebens statt von den Fantasien der orthodox-trotzkistischen Programmdrescher ausging. [38]

Doch Sektieriertum muss nicht nur die Folge des orthodoxen Trotzkismus sein. Eine formal richtige theoretische Analyse allein sorgt auch nicht für Immunität. Die von der neuen antikapitalistischen Stimmung gestellte Herausforderung hat die radikale Linke auf eine Weise polarisiert, die quer zu den traditionellen Grenzen verläuft. Die vielleicht extremste sektiererische Reaktion – die von der führenden trotzkistischen Organisation Frankreichs, Lutte Ouvriere, kam – dient als Beispiel: LO beteiligte sich nicht an den landesweiten Demonstrationen, die in Frankreich in Solidarität mit N30 in Seattle stattfanden; sie schrieb sie als Block zwischen linken Nationalisten und rechten Gaullisten ab und denunzierte die gesamte Bewegung gegen die Welthandelsorganisation:

Heute ist die Internationalisierung der Wirtschaft unter der Schirmherrschaft der kapitalistischen Staaten eine Tatsache. Wer sie im Namen von diskreditierten protektionistischen Ideen und Nationalismus bekämpfen will läuft Gefahr, bei offen reaktionären Zielen zu enden. Es ist auch kein Zufall, dass man in Seattle unter diesem Programm sowohl Dritte-Welt-Nationalisten als auch die Führung der amerikanischen Autoarbeitergewerkschaft UAW – die in den 80er Jahren nicht zögerte, „Strafaktionen“ gegen amerikanische Besitzer japanischer Autos zu organisieren – vereint finden kann. Denn beide versuchen mit ihrer Internationalisierungsfeindlichkeit eine Übereinstimmung der Interessen der Bevölkerung mit denen der nationalen Bourgeoisie herzustellen. [39]

Kürzlich hat LO den französischen Bauernführer José Bové wegen seiner direkten Aktion gegen die Einführung genetisch modifizierter Organismen in die Landwirtschaft angegriffen, indem sie ihm vorwarf, er verbünde sich praktisch mit Präsident Chirac und der gaullistischen Rechten gegen die wissenschaftliche Forschung. [40] Die Ligue Communiste Revolutionnaire, die andere bedeutende französische trotzkistische Organisation und das wichtigste überlebende Mitglied der Vierten Internationale, hat grundsätzlich eine weitaus positivere Herangehensweise gewählt. Einige LCR-Mitglieder spielen eine bedeutende Rolle in Attac. VSVI-Anhänger versuchten, die Entwicklung einer eindeutig sozialistischen Analyse hineinzutragen, indem sie argumentierten, dass die „Bewegung gegen Globalisierung“ aufhören müsse, „die Frage der Eigentumsformen an den Produktions-, Kommunikations- und Tauschmitteln als Tabu zu betrachten“ und die Idee des gesellschaftlichen Eigentums wieder auf die Tagesordnung setzen müsse. [41] Aber die LCR mobilisierte weder ernsthaft nach Prag noch – was eine größere Schande ist – nach Nizza.

Leider hat der Aufstieg der antikapitalistischen Bewegung auch die IS-Tendenz gespalten, wie es sich am Fall der International Socialist Organization (ISO), die seit ihrer Gründung 1977 das US-amerikanische Mitglied der IST gewesen ist, zeigt. [42] Die ISO entstand unter höchst ungünstigen Umständen. Um sie herum brach die radikale Linke zusammen und der kleine Aufschwung an Arbeiterkämpfen in den USA, der die enorme politische Radikalisierung durch die Bürgerrechtsbewegung, den Vietnamkrieg und die Ghettoaufstände begleitet hatte, ging gerade zu Ende. [43]

Trotz dieses schwierigen Anfangs konnte die ISO mit offen sozialistischen Ideen in der Amtszeit Reagans aufbauen, während große Teile der übrigen Linken in der Demokratischen Partei aufgingen. Die Gruppe hatte zum ersten Mal während des Golfkriegs 1991 größeren Einfluss, weil sie eine Schlüsselrolle im Aufbau eines bundesweiten Bündnisses studentischer Vereinigungen gegen den Krieg spielte. In der Folge unterstützte die ISO aktiv einige wichtige Arbeitskämpfe, vor allem den UPS-Streik 1997. Sie war auch die treibende Kraft beim Aufbau der Kampagne gegen die Todesstrafe (CEDP). Zum Ende der 90er Jahre konnte die ISO ungefähr 1.000 Mitglieder verzeichnen. Sie schien politisch und organisatorisch viel besser vorbereitet zu sein, als es die SWP (US) in den 60er Jahren gewesen war.

Doch wieder einmal erwiesen sich Arbeitsmethoden, die für den Aufbau im langen Abschwung entwickelt worden waren, letzten Endes als verhängnisvolles Hindernis für die Fähigkeit der ISO, sich auf die Bewegung zu beziehen, die in Seattle explodierte. Dieses machte sich zuerst im Balkankrieg 1999 bemerkbar, als die Führung der ISO eine Debatte mit dem Zentralkomitee der SWP anfing und dessen Art und Weise kritisierte, wie die Opposition zum Krieg formuliert wurde. Der Leitungsausschuss der ISO argumentierte, dass es „Pflicht“ von Revolutionären sei, bei dem Aufbau von Bündnissen gegen den Krieg die Differenzen hervorzuheben, die sie von anderen Gegnern der Nato-Bombardierung trennte. Insbesondere sollten sie Illusionen in die Vereinten Nationen als Alternative zur Nato, Sympathien für den serbischen Nationalismus und Opposition zur kosovarischen Selbstbestimmung scharf angreifen. „Es wäre,“ erklärten sie abschließend, „prinzipienlos, diese Fragen innerhalb der Antikriegsbewegung zu ignorieren.“ [44] Dieser Standpunkt hilft zu verstehen, warum die Arbeit der ISO gegen den Balkankrieg – besonders in Chicago, wo die Zentrale der Gruppe ihren Sitz hat – sehr viel weniger effektiv war als ihre Arbeit im Golfkrieg fast zehn Jahre zuvor. Die Herangehensweise der ISO stand in dramatischem Kontrast zur Politik ihrer europäischen Schwesterorganisationen, die ihre Hauptaufgabe im Aufbau einer möglichst breiten Bewegung gegen den Krieg sahen. Das Zentralkomitee der SWP nahm dies zum Anlass, unverzüglich privat mitzuteilen, dass wir damit nicht übereinstimmten. Wir schrieben an die Führung der ISO:

Ihr macht Zugeständnisse an die Fehlvorstellung, dass Revolutionäre sich in Einheitsfronten dadurch hervortun, dass sie „die Argumente vortragen“, die uns von anderen Kräften in der Einheitsfront unterscheiden. Nach unserer Erfahrung unterscheiden wir uns und ziehen neue Leute am ehesten dadurch an, dass wir die dynamischste und radikalste Kraft beim Aufbau der jeweiligen Bewegung sind. Natürlich führt dieser Prozess zu Diskussionen, aber diese entwickeln sich aus der konkreten Situation und entspringen nicht etwa einer abstrakten „Pflicht“, mit anderen Leuten nicht übereinzustimmen. Das war auf jeden Fall unsere Erfahrung beim Aufbau der Antikriegsbewegung in Großbritannien. [45]

Die Führung der SWP ging also davon aus, dass die Herangehensweise unserer amerikanischen Schwesterorganisation falsch war, aber wir hofften, dass die Ereignisse sie bald weg von den sektiererischen Einstellungen gegenüber anderen Gegnern des Balkankrieges führen würde. Wir waren allerdings erschüttert über diese Auseinandersetzung. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt in der Debatte zeigte die ISO die Einstellung, die Marx als typisch für eine Sekte bezeichnete, nämlich: „Sie sieht ihre Daseinsberechtigung und ihre Ehre nicht in dem, was sie mit der Klassenbewegung gemein hat, sondern in dem besondren Schibboleth, das sie von ihr unterscheidet.“ Manchmal ist die Unterscheidung unerlässlich, wenn eine revolutionäre Organisation in einer ungünstigen politischen Umwelt überleben muss. Das galt für die Reagan-Thatcher-Ära der 80er Jahre, als sowohl die ISO als auch die SWP sich zum Schutz gegen das rechte Klima in der Gesellschaft und den Zusammenbruch der Linken auf die revolutionäre marxistische Tradition zurückzog. Aber diese defensive Einstellung war nicht mehr notwendig, als sich der lange Abschwung der Klassenkämpfe in der zweiten Hälfte der 90er Jahre seinem Ende näherte. [46]

Die Kosten dieser Einstellung wurden klar, als Ende November 1999 die Demonstrationen in Seattle explodierten. Nur eine Hand voll ISO-Mitglieder war anwesend. Lee Sustar, ein führendes Mitglied der Gruppe, wurde bei den Demonstrationen festgenommen, doch seine Rolle (im Nachhinein von der ISO oft erwähnt) konnte kein Ersatz für die ungenügende Mobilisierung der Gruppe sein. Der Leitungsausschuss der ISO war einmal bereit, dies zuzugeben:

Unsere Beteiligung an der Seatte-Demonstration war gering, nicht nach einem abstrakten Maß, sondern gemessen an dem eigenen Maßstab und der heutigen Stärke der ISO. Wir mobilisieren in der Regel für fast jede bundesweite Demonstration eine größere Zahl – egal ob wir glauben, dass diese Demonstration ein „Wendepunkt“ sein wird oder nicht. Die Vorstellung, dass wir mit unserer Beteiligung in Seattle zufrieden wären, oder dass wir die Bedeutung des Protests heruntergespielt hätten, ist schlichtweg falsch. Wer wäre bei diesen Ereignissen nicht gern dabeigewesen? Es ist ein wenig so, als hätte man bei den berühmten Kopfsteuerkrawallen auf dem Londoner Trafalgar Square nur wenige Leute dabeigehabt. [47]

Die ISO rechtfertigte ihr Versagen bei der Mobilisierung nach Seattle mit logistischen Gründen – insbesondere der Entfernung zwischen Seattle und ihrer nächstliegenden größeren Ortsgruppe in der San-Francisco-Bucht. Angesichts des Ausmaßes der Mobilisierung durch verschiedene Netzwerke von Aktivisten quer durch Nordamerika (und bis zum gewissen Grad sogar die Welt), ist diese Ausrede nicht sehr glaubwürdig. [48] Mitte November 1999 brachte die ISO 200 Mitglieder von der Ostküste und aus dem Mittleren Westen zu einer Demonstration gegen die School of the Americas in Fort Benning, Georgia [militärisches Ausbildungszentrum der USA für Armeeangehörige aus anderen amerikanischen Staaten, in dem zum Beispiel ehemalige und künftige Diktatoren geschult wurden/werden und die neuesten Foltertechniken trainiert werden]. Fort Benning ist 993,8 Meilen von New York und 831,2 Meilen von Chicago entfernt, in beiden Fälle eine weitere Entfernung als die 807,9 Meilen, die Seattle und San Francisco trennen.

Die Wahrheit ist, dass die Führung der ISO Seattle keine Priorität gab. Sie erwartete, dass protektionistische Gewerkschaftsführer den Ton angeben würden und zog es vor, ihre Anstrengungen auf eine – wie es sich herausstellte – viel kleinere Demonstration zu konzentrieren, bei der die ISO ein größeres Gewicht haben würde. Wie ein ISO-Mitglied es ausdrückte:

Das Rückgrat des Seattle-Protests, das die Ereignisse für Arbeiter unmittelbar relevant machte, war die organisierte Arbeiterbewegung, und diese Kraft schwafelte nur nach ihrer Wahlempfehlung für Vizepräsident Gore bei der Bundeswahl 2000. In dem Protest gegen die School of the Americas dagegen konnte die ISO mit ihrer Größe und Politik eindeutig entscheidenden Einfluss haben – und den hatte sie auch.

Derselbe Autor fährt fort mit einem Angriff auf die Idee, dass Seattle den Anfang eines „Krieges gegen den Kapitalismus“ kennzeichnen würde:

Diese Position erklärt nicht, warum dieselben Gewerkschaften, die Arbeiter nach Seattle mobilisierten, im alltäglichen Kampf gegen unterdrückerische Arbeitsverträge und Konzerne nur wenig unternehmen. Wenn der Krieg angefangen hat, was einen entscheidenden Ruck im Bewusstsein der Arbeiterklasse bedeuten würde, warum sehen wir dann nicht mehr Kampfeslust bei den Stahlarbeitern und Maschinenschlossern? Wo sind die Kampforganisationen der Gewerkschaftsbasis, die Ergebnisse und Hebammen eines solchen Krieges, die die Gewerkschaften zu solchen Kämpfen drängen könnten? [49]

Diese Argumente sind der Beweis für eine tief verwurzelte Sektenmentalität, die Demonstrationen auf Grund der Politik ihrer Führer beurteilt und Veränderungen im Bewusstsein mechanisch auf Veränderungen im ökonomischen Klassenkampf reduziert. Aber dennoch: Es war ein schlimmer Fehler, Seattle zu verpassen, aber nicht notwendigerweise ein vernichtender. Es dauert oft, bis Revolutionäre sich auf eine veränderte objektive Situation eingestellt haben. Die Schwierigkeiten der Bolschewiki in ihrer Reaktion auf die Revolution von 1905 ist ein Beispiel, wenn auch in viel größerem Maßstab. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung schrieb Lenin:

Das Verhalten einer politischen Partei zu ihren Fehlern ist eines der wichtigsten und sichersten Kriterien für den Ernst einer Partei und für die tatsächliche Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber ihrer Klasse und den werktätigen Massen. Einen Fehler offen zugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen – das ist das Merkmal einer ernsten Partei, das heißt Erfüllung ihrer Pflichten, das heißt Erziehung und Schulung der Klasse und dann auch der Masse. [50]

Hätte die Führung der ISO ihren Fehler erkannt und die innerhalb der Gruppe entwickelte Sektenmentalität bekämpft, wäre die Geschichte vielleicht anders ausgegangen. Leider schlug sie diesen Kurs nicht ein. Als sich das von Seattle eingeleitete bewegte Jahr entfaltete, schien sie hin- und hergerissen zu sein – manchmal bewegte sie sich auf die antikapitalistische Bewegung zu, aber dann berichtigte sie ihren ersten Impuls und zog sich in den sektiererischen Schützengraben zurück.

Zwei entscheidende Entwicklungen in den USA zeigten den Widerstand der ISO-Führung gegen Veränderung. Die erste war die Washingtoner A16-Demonstration gegen das IWF- und Weltbanktreffen. Zuerst drängte der Leitungsausschuss auf eine große Mobilisierung für A16. Doch dann reagierte er auf die Ankündigung der Aussetzung aller Vollstreckungen der Todesstrafe in Illinois, indem er die Kampagne gegen die Todesstrafe in den Mittelpunkt rückte.

Die ISO muss ihre Arbeit angesichts dieser neuen Bewegung bundesweit umstellen und der Arbeit um die Todesstrafe Vorrang geben. Das heißt notwendigerweise, die Mobilisierung für die Demonstration gegen IWF und Weltbank in Washington DC am 16. April etwas herunterzuschrauben. Das bedeutet keineswegs, dass wir diese Arbeit aufgeben – größere Ortsgruppen und Unigruppen, die Busse oder Autos organisiert haben, sollten weitermachen – aber es bedeutet, dass kleinere Ortsgruppen mit weniger Ressourcen sich entscheiden müssen, der Kampagne gegen die Todesstrafe Vorrang einzuräumen. [51]

Auf Grund dieser Entscheidung sahen Tony Cliff und ich uns veranlasst, den ersten in einer Reihe von Briefen an den Leitungsausschuss der ISO zu schreiben, durch die die Unterschiede zwischen ihr und der Führung der SWP zu Tage traten. [52] Unsere Einmischung beinhaltete auf keinen Fall die Leugnung der Bedeutung des Themas Todesstrafe oder der Notwendigkeit, dagegen zu kämpfen. Vielmehr waren wir besorgt, dass die ISO-Führung die strategische Bedeutung des Auftauchens einer antikapitalistischen Minderheit in den USA nicht erkannt hatte. Stattdessen der Kampagne gegen die Todesstrafe Priorität zu geben, schien uns eine sektiererische Bevorzugung einer Einpunktbewegung zu reflektieren, welche die ISO kontrollieren konnte – die Furcht, sich in eine viel breitere Bewegung zu werfen, die sich in eine allgemeine Opposition zum System an sich entwickelte, aber in der die ISO sich selbst hätte ändern müssen, um zu beweisen, dass ihre Organisation und ihre Politik relevant sind. Ihre Haltung erinnerte erschreckend an die Taktik der SWP (US) in der Antikriegsbewegung der 60er Jahre.

Schließlich mobilisierte die Führung der ISO doch ihre Mitglieder für A16 – vielleicht, um sich dem Vorwurf zu entziehen, sie hätte nicht nur Seattle, sondern auch noch Washington verpasst. [53] Aber sie bestritt, dass die Demonstrationen das Entstehen einer neuen antikapitalistischen Minderheit darstellen, und beschrieb sie lieber als symptomatisch für eine „reformistische“ oder „konzernfeindliche“ Stimmung. Wie Cliff und ich es ausdrückten, wird mit solchen „Formulierungen unterschätzt, dass das sich entwickelnde Bewusstsein“ innerhalb der Bewegungen gegen kapitalistische Globalisierung, „im Fluss ist“, welches, obwohl es keine konsequente revolutionäre Weltanschauung darstellt, das Ziel der bloßen Reform verschiedener Aspekte des Systems schon hinter sich gelassen hat. [54]

Die Ansichten der ISO-Führung über die Bewegung, die sie nicht als antikapitalistisch bezeichnen will, finden am besten im folgenden Abschnitt Ausdruck:

Innerhalb dieser lose vernetzten, im Entstehen begriffenen Bewegung gibt es eine Strömung subjektiver, sich selbst so bezeichnender Antikapitalisten. Die Radikalisierung dieser Minderheit, die hauptsächlich aus jungen Studenten besteht, die überwiegend weiß ist und größtenteils aus der Mittelschicht stammt, entspringt denselben Wurzeln wie die Radikalisierung viel breiterer Schichten, die aktiv werden. Die Radikalisierung all dieser Schichten ist eine Reaktion auf die Polarisierung der Klassenverhältnisse in den USA und weltweit. Wir halten das Entstehen dieser sich als antikapitalistische Minderheit sehenden Strömung für eine aufregende Entwicklung – aber nur eine Entwicklung unter vielen. Die Antikapitalisten sind nicht die Speerspitze der sich entwickelnden Bewegungen und sie sind mit Sicherheit nicht deren Ursache. Wenn wir so differenzieren, wollen wir auf keinen Fall die Bedeutung dieser Radikalisierung „herunterspielen“. Im Gegenteil, unsere Perspektive konzentriert sich darauf, wie die politische Stimmung zu identifizieren ist und wie wir uns zu den verschiedenen Bewegungen zu verhalten haben. [55]

Wieder einmal zeigt dieses Beispiel das Bedürfnis der ISO-Führung nach Unterscheidung – die darin enthaltene Ablehnung antikapitalistischer Aktivisten als weiße Studenten der Mittelklasse erinnert an die schlimmsten sektiererischen Verirrungen in den 60er Jahren, zum Beispiel die Weigerung der orthodox-trotzkistischen Anhänger Gerry Healys und Pierre Lamberts, sich an den Studenten- und Antikriegsbewegungen wegen deren „kleinbürgerlichen“ Natur zu beteiligen. Diese Haltung fand ihre Entsprechung in einer verfehlten Einschätzung der sich in den USA entwickelnden Radikalisierung. Wie wir schrieben:

Die Führung der ISO sieht die antikapitalistische Bewegung als eine unter vielen ohne besondere Bedeutung. Die Genossen übersehen die strategische Bedeutung des Entstehens einer Minderheit, die anfängt zu verallgemeinern und das System an sich statt eines einzelnen Aspektes als Zielscheibe zu nehmen. Indem sie sich systematisch mit dieser Minderheit auseinander setzen, könnten die Genossen einen qualitativen Durchbruch schaffen – Mitgliedergewinnung in einem ausreichenden Maße, um die anderen Organisationen zu überspringen und sich als vorherrschende Strömung in der amerikanischen radikalen Linken zu etablieren. [56]

In der Debatte, die sich zwischen der ISO und der übrigen IS-Strömung im Laufe des Jahres 2000 entwickelte, griff die amerikanische Führung auch die Analyse an, die hinter Cliffs Bemerkung stand, dass Europa in den 90er Jahren ungefähr so wäre, als würde man einen Film der 30er Jahre im Zeitlupentempo sehen. Diese in den frühen 90er Jahren entwickelte Analyse sollte das Vorhandensein der selben Kräfte betonen, die der Motor der großen Unruhen der 30er Jahre waren – ökonomische und politische Instabilität, Klassenpolarisierung, die Möglichkeit schneller Ausschläge nach links und weit nach rechts. Wir haben jedoch sehr sorfältig auch die Unterschiede zwischen den 30er und den 90er Jahren betont – vor allem, dass die Wirtschaftskrisen der 90er selbstverständlich (zumindest in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern) deutlich weniger schwer als die Große Depression der 30er waren, und dass die bürgerliche Demokratie viel fester etabliert war, als zwischen den Weltkriegen. [57]

Die Führung der ISO ignorierte diese Vorbehalte und machte aus unserer Analyse eine Karikatur, die sie als Vorhersage der ökonomischen Katastrophe darstellte. Diese Entstellung wurde auf die Spitze getrieben, als Joel Geier (der im Auftrag der ISO auf einem IST-Treffen am 8. Mai 2000 sprach) uns vorwarf, wir glaubten, dass der Welt „Jahrzehnte der größten Krise des Kapitalismus“ bevorstünden! Solche Absurditäten lenkten davon ab, dass die ISO-Führung keine zusammenhängende alternative Analyse zu bieten hatte. Sie verwies auf den amerikanischen Boom der 90er Jahre als entscheidendes Gegenbeispiel zur „30er Jahre in Zeitlupe“-Analyse, doch da ihre eigenen Darlegungen dessen schwachen Wurzeln und widersprüchliche Natur hervorhoben, war es schwer zu wissen, was genau sie sagen wollte. Sie behauptete, „das Beharren des ZKs auf Parallelen zu den 30er Jahren hat die SWP dazu gebracht, sich so zu verhalten, als würde die Wirtschaftskrise unmittelbar zuschlagen und eine Explosion des Klassenkampfes auslösen.“ [58] Aber die ersten ernsten Zeichen, dass der amerikanische Boom zu Ende ging, war Anlass für die ISO-Führung, in eine Untergangsperspektive einschließlich der Vorhersage von Wellblechstädten und anderen Formen der Verelendung zu verfallen. [59]

Die zweite Entwicklung, die diese Differenzen auf den Prüfstand stellte, war die Präsidentschaftskandidatur Naders. Nach erstem Zögern schwenkte die ISO-Führung scharf um, diese Kampagne mit aufzubauen. In der positivsten Beurteilung der antikapitalistischen Bewegung, die von einem führenden Mitglied der ISO geschrieben wurde, begrüßte Geier „das Entstehen einer neuen Linken und den plötzlichen Aufschwung einer Wahlkampagne gegen Konzernherrschaft“. [60] Vielleicht hatte die Beteiligung der ISO an den Großdemonstrationen zu den Parteitagen der Demokraten und Republikaner im Juli und August 2000 ihr ein Gefühl dafür gegeben, wie Nader den Basisbewegungen einen politischen Anziehungspunkt bot. Sein Wahlkampf warf zudem ein Schlaglicht auf die Debatte innerhalb der amerikanischen Linken, ob die Demokratische Partei – insbesondere unter der Führung von Clinton-Gore – als ein „kleineres Übel“ als die Republikaner anzusehen sei. Die Größe und der Enthusiasmus der Wahlveranstaltungen, die Nader im Herbst in den ganzen USA veranstaltete, bestätigte, dass die Entscheidung, seine Kampagne mit aufzubauen, richtig war.

Wieder einmal jedoch machte die ISO einen Schritt vorwärts und zwei zurück. Das Unterscheidungsbedürfnis siegte über die ursprüngliche Entscheidung, sich selbst an der Nader-Kampagne zu beteiligen. Die Führung der ISO erklärte: „Wir müssen anfangen, den Menschen, die in diesen Initiativen radikalisiert werden und die auch in vielen Fragen Nader kritisch gegenüberstehen, eine langfristige politische Alternative anzubieten.“ Jede Ortsgruppe und jeder Bezirk der ISO wurde angehalten, vor der Wahl am 7. November eine öffentliche Veranstaltung über „Die revolutionären Ideen von Karl Marx“ für „Kontakte aus der Nader-Kampagne und anderen Aktivitäten“ durchzuführen, also in der Zeit, da die Aktivitäten der Kampagne ihren Höhepunkt erreichen würden. [61] Zwei Mitglieder der ISO in New York machten schnell auf das hinter dieser Einstellung stehende Sektierertum aufmerksam. „Die einzigen Menschen, die Nader kritisierten, waren hoffnungslose Sektierer oder Unterstützer von Gore!“ [62] „Es ist fraglich, ob solche Leute tatsächlich in den Initiativen existieren und warum wir uns gerade an diese wenden sollten und nicht an die Leute, die Nader am begeistertsten unterstützen und deshalb seinen Kreuzzug gegen Konzernherrschaft auch nach den Wahlen fortsetzen wollen.“ [63]

Die Herangehensweise der ISO zeigte wenig Gespür für die Dynamik einer jungen und sich radikalisierenden Bewegung, deren Mitglieder in gemeinsamen Aktivitäten zusammengefasst sind. In einer solchen Bewegung etablieren sich Revolutionäre in erster Linie durch ihre effektive Teilnahme an diesen Aktivitäten. Politische Diskussion ist selbstverständlich wichtig, aber sie erwächst am ehesten organisch aus der Arbeit der Bewegung selbst, statt aus absichtlich von Revolutionären eingeführten abstrakten Themen. Die ISO dagegen sah die Nader-Kampagne als Beute, die sie überfallen und der sie Aktivisten für ihre eigenen Aktivitäten und Diskussionen entziehen könnte. Das wird im folgenden Bericht aus der San-Francisco-Bucht klar:

Da wir das ernst genommen hatten, was in den ISO-Notizen über Mitgliedergewinnung stand, griffen wir die Arbeit heraus, die uns in eine diskussionsfreudige politische Umgebung mit möglichst vielen Nader-Anhänger bringen würde ... sogar um die alltäglichen Aspekte der Wahlkampfarbeit herum konnten wir Raum für die Diskussion sozialistischer Ideen schaffen.

Als der Wahlkampf sich dem Ende näherte, wurde dies schwieriger. Der Riesenerfolg der Super Rally [der zentralen Wahlkampfveranstaltung; d. U.] brachte viele neue Leute zu der Kampagne. Das bedeutete mehr Leute, mit denen man diskutieren konnte und die mitarbeiteten, aber auch mehr Leute, die dem Wahlkampf „Form“ zu geben versuchten. Alles, was nicht unmittelbar „Geld, Sichtbarkeit oder Stimmen“ brachte, wurde kritisiert. Diskussionen im Büro wurden aktiv aufgelöst und die Leute ans Telefon oder auf die Straße geschickt. Eine Zeit lang war es dadurch schwerer, um das Büro herum zu organisieren. Aber weil wir auf der Super Rally deutlich sichtbar waren und wegen unserer konsequenten Arbeit wurden unsere Genossen so stark mit dem Wahlkampf identifiziert, dass man uns nicht herumschubsen konnte.

Inmitten all dieser Aktivitäten schafften wir es, vier Leute direkt aus dem Nader-Büro zu unserer Veranstaltung „Die revolutionären Ideen von Karl Marx“ zu bringen, die ein paar Straßen weiter stattfand. Wegen der harten Arbeit der Genossen, die nicht direkt am Wahlkampf beteiligt waren, war die Veranstaltung gut organisiert und gut besucht. Die Leute hatten überhaupt nicht das Gefühl, dass ihnen „gepredigt“ wurde, wie Bilal E. sagt, sondern waren begeistert – eine Frau so sehr, dass sie sich mitten in einem Referat zu einem Mitglied beugte und fragte, was sie tun müsse, um einzutreten. So viele Menschen wollten zur Folgeveranstaltung kommen, dass wir argumentieren mussten, dass einige im Nader-Büro zurückbleiben sollten, damit es geöffnet bleiben konnte. Das war vier Tage vor der Wahl, als der „Geld, Sichtbarkeit und Stimmen“-Druck am höchsten war. [64]

Dieser Bericht gibt den Eindruck einer guten Arbeit, geleistet mit den besten Absichten, innerhalb eines radikal fehlerhaften Gerüsts. In den 80er Jahren oder sogar den frühen 90ern wäre es ein Triumph für eine kleine, ums Überleben kämpfende revolutionäre Gruppe gewesen, wenn vier Menschen zu einer Marx-Veranstaltung gekommen wären. Aber der Mitgliederwerbung für die ISO den Vorrang über den Aufbau der Nader-Kampagne zu geben (insbesondere als die Kampagne auf dem Höhepunkt war), zeugt von einer grundsätzlich sektiererischen Haltung gegenüber einer Bewegung, die unabhängig von den Äußerungen und Handlungen revolutionärer Marxisten ihre eigene radikalisierende Entwicklung machte. Es war daher nicht überraschend, dass die ISO die Nader-Komitees wie eine heiße Kartoffel wieder fallen ließ, sobald die Wahl vorbei war, und sich lieber mit den liberalen Demokraten auseinander setzte, die gegen den gefälschten Wahlsieg George W. Bushs protestierten. Wie diese Bemerkungen eines New Yorker ISO-Mitgliedes (die von seinem Bezirksorganisator zustimmend zitiert wurden) zeigen, wurde die Wende damit begründet, dass die Nader-Anhänger kleinbürgerlich seien:

Sind Nader-Wähler wirklich weiter auf dem Weg, Arbeiterrevolutionäre zu sein, als die tausenden von „Redeem the Dream“-Aktivisten, kämpferischen Vertrauensleuten und anderen Organisatoren an der Basis, die Gore wählten? Es ist, als würdet ihr die Nader-Kampagne als ausgewachsene sozialdemokratische Partei sehen, bei der wir all unsere Kraft einsetzen. Aber die Nader-Kampagne hat gerade erst angefangen, Wurzeln in die Arbeiterklasse zu senken, die für reformistische Massenparteien selbstverständlich sind. Wir haben einen großen Teil zu diesen existierenden Wurzeln beigetragen, gerade wegen unserer Perspektive, dass es Millionen Gore-Anhänger unter den Schwarzen und in der Arbeiterklasse gibt, die genauso fortschrittlich sind wie die, die schon im Nader-Lager sind, und potenziell viel stärker. Die Perspektive, dass Nader-Anhänger uns viel näher stünden, schneidet uns deshalb nicht nur von der Mehrheit der Bevölkerung ab, sie entwaffnet uns innerhalb der Nader-Kampagne, wo doch die Schlüsselfrage die Erweiterung der Bewegung in die Arbeiterklasse hinein ist. [65]

Dieser Absatz ist ein gutes Beispiel für die sektiererische Logik, in der ISO-Mitglieder ausgebildet worden sind: Da die antikapitalistische Minderheit keine revolutionären Sozialisten sind, müssen sie Reformisten sein, und da sie aus der Mittelschicht kommen (außer den Arbeitern, die durch die ISO von der Nader-Kampagne angezogen wurden), sind sie politisch nicht so interessant wie die schwarzen und Arbeiterreformisten, die für Gore stimmten. Es fehlt jedes Gespür für die Bedeutung einer sich herausbildenden Minderheit, die, ungeachtet ihres Klassenursprungs, gegen das System als Ganzes zu verallgemeinern beginnt. Die ISO betrachtete die Welt zunehmend durch die eigene sektiererische Brille. In einer sehr merkwürdigen Rede auf dem Kongress der ISO im Dezember 2000 griff die Bundesorganisatorin der Gruppe, Sharon Smith, die Vorstellung an, dass die ISO durch systematische Arbeit mit dieser Minderheit die übrige Linke „überspringen“ könnte, und bestand darauf, dass Parteiaufbaumethoden, die für den Abschwung geschmiedet wurden, unabhängig von den wechselnden objektiven Umständen notwendig seien: „Ortsgruppen sind und werden immer der Maßstab für die Größe der Organisation sein“, sagte sie. [66]

Smith beging hier genau den Fehler, vor dem Trotzki gewarnt hatte: eine bestimmte Parteiaufbautaktik in eine Prinzipienfrage zu verwandeln. Die SWP und ihre Schwesterorganisationen (einschließlich der ISO) entwickelten während der 80er Jahre eine Routine auf der Grundlage großer, geografisch aufgebauter und sich wöchentlich hauptsächlich zur allgemeinen politischen Diskussion treffender Ortsgruppen. Dieses Konzept passte in eine Situation, in der das Niveau der Klassenkämpfe niedrig und es notwendig war, sich auf die Entwicklung des Verständnisses der marxistischen Tradition bei jedem einzelnen Mitglied zu konzentrieren, um in einer feindlichen politischen Umwelt zu überleben.

Diese Struktur wurde jedoch in den 90er Jahren zunehmend zu einem Hindernis im Parteiaufbau, als das allgemeine langsame Wiederaufflackern von Kämpfen und die viel schnellere politische Radikalisierung nach kleineren, auf Aktionen orientierten Ortsgruppen verlangte, die beginnen konnten, Wurzeln innerhalb der Arbeiterklasse zu schlagen. Das Versagen der ISO, dem Beispiel der Socialist Workers Parties in Großbritannien oder Griechenland bei der Durchführung der Wende zu folgen, mag helfen, ihren zunehmend sektiererischen Weg zu erklären. Das sektiererische organisatorische Sein begann sich gegenüber dem marxistischen politischen Bewusstsein durchzusetzen.

Der Kongress der ISO im Dezember 2000 schloss jedenfalls eine weitere qualitative Etappe in der sektiererischen Entartung der Gruppe ab. In einer fast hysterischen Atmosphäre musste sich die Minderheit in der ISO, welche die von der übrigen IS-Tendenz geteilte Analyse der antikapitalistischen Stimmung verteidigte, Verleumdungen, Schikanen und Einschüchterungen gefallen lassen. Nach dem Kongress griff der Leitungsausschuss zu Disziplinarmaßnahmen gegen die Minderheit und schloss sechs ihrer Mitglieder im Januar 2001 aus. Dies war eine merkwürdige Maßnahme, da die Führung der ISO stets protestiert hatte, dass „es keine prinzipiellen Differenzen“ zwischen ihr und der SWP gebe, und dass ihre Meinungsverschiedenheiten mit der übrigen Tendenz „zweitrangige Differenzen“ seien. [67] Hinter der Unterbindung der Debatte innerhalb der ISO stand jedoch eine gewisse sektiererische Logik. Die Führung hatte sich entschieden, die Veränderungen in der Welt draußen zu ignorieren; es war dann nur ein kleiner Schritt, jeden innerhalb der Gruppe zum Schweigen bringen zu wollen, der die unerwünschte Botschaft verkündet, dass die Führung Unrecht hat.

Die gleiche Logik brachte die ISO in Konflikt mit der übrigen IS-Tendenz. Im Februar 2001 spaltete sich eine kleine Fraktion von der griechischen Sozialistischen Arbeiterpartei (SEK) ab. Diese Abspaltung entsprang der Opposition einer konservativen Minderheit gegenüber der höchst erfolgreichen Rolle der SEK am S26 in Prag, zu dem sie einen einigermaßen großen Block mit wesentlicher gewerkschaftlicher Beteiligung mobilisierte. In einer im Allgemeinen negativen Einschätzung von S26 hatte die Führung der ISO die SEK als „besonders beeindruckend, mit einem gut organisierten Block“ beschrieben. [68] Doch die Führer der Fraktion behaupteten, sie hätten in Prag erste Kontakte zu Ahmed Shawki von der ISO aufgenommen und er habe bei der Vorbereitung ihrer Dokumente geholfen. In diesen wurde dem Zentralkomitee der SEK ein Ultimatum gestellt – dass es aufhören solle, die Analyse von der antikapitalistischen Stimmung zu vertreten, und der Fraktion Vertreter in der Führung gewähren solle – sonst fühlten sie sich nicht mehr an die Parteidisziplin gebunden. Als in der Vordiskussion zu dem Kongress ihr störendes Verhalten eine Gegenreaktion auslöste, trat die Fraktion mehr als einen Monat vor dem Kongress der SEK geschlossen aus, statt die betroffenen politischen Fragen zu diskutieren.

Die Rolle der ISO bei der Vorbereitung dieser Abspaltung wurde am 3. März 2001 offenbar, als Shawki bei einer öffentlichen Sitzung des Gründungskongresses der von der Fraktion gebildeten Gruppe, der Internationalen Arbeiterlinken, als Redner auftrat. Die Führungen von SWP und SEK haben daraufhin mit der ISO gebrochen und die übrige IS-Tendenz aufgerufen, dasselbe zu tun. Das Sektieriertum der ISO – das sie von der sich um sie herum entwickelnden lebendigen Bewegung abgeschnitten hat – brachte sie nun dazu zu versuchen, die Tendenz zu zerstören, in der sie einst zu den stolzesten Mitgliedern gehörte.

 

 

Fazit

Die sektiererische Entartung der ISO ist ohne Zweifel eine Tragödie. Trotzki beschrieb die Gefahr die besteht, „wenn in der vorhergegangenen Periode zu viele Elemente der Trägheit in den führenden Parteiorganen zusammenkamen, dass die Partei sich als unfähig erweisen wird, ihre Führerschaft in dem äußersten und kritischen Moment, auf den sie sich im Laufe der Jahrzehnte vorbereitet hat, auszuüben.“ Im Fall der ISO wurden ehrliche Revolutionäre, die in einigen Fällen seit Mitte der 70er Jahre oder noch früher aktiv sind, so verknöchert, dass sie nicht mehr in der Lage sind, auf die Wiederbelebung der Linken zu reagieren, auf die sie seit Jahrzehnten gewartet haben.

Dieses traurige Ereignis lädt zum Nachdenken über zwei allgemeine Fragen ein. Die erste betrifft die Frage, wie Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer internationalen revolutionären Strömung ausgetragen werden. Die SWP und ihre Schwesterorganisationen haben sich stets geweigert, die Fehler Trotzkis und seiner Anhänger zu wiederholen, eine internationale Organisation mit eigener Führung und Disziplin zu gründen, bevor sich eine ähnliche Massenradikalisierung in der Arbeiterklasse entwickelt hat, welche es den Bolschewiki ermöglichte, die Kommunistische Internationale zu einem Hauptanziehungspunkt innerhalb der weltweiten Arbeiterbewegung zu machen. Wir haben die IS-Tendenz als internationale revolutionäre Strömung aufgefasst, bestehend aus autonomen Organisationen, die durch eine gemeinsame politische Tradition miteinander verbunden sind.

Die Führung der ISO hat versucht, das Verhalten der SWP in der gegenwärtigen Debatte als Bruch mit dieser Einstellung darzustellen. Unter Verwendung verschiedener fantasiereicher Vergleiche mit der Dritten Internationale unter Lenin und der Vierten Internationale unter Trotzki behauptet sie, dass die SWP „sich zunehmend wie ein Vorarbeiter benimmt, der keine auch noch so geringe Kritik duldet.“ [69] Dies ist eine Karikatur der tatsächlichen Situation. Die Tendenz hat sich zum Teil gerade dank scharfer politischer Debatten unter ihren führenden Organisationen entwickelt. 1987–88 stritten sich die Führungen von SWP und OSE (Vorgänger der SEK) hartnäckig über die Haltung, die Revolutionäre in Bezug auf das Eingreifen der USA auf irakischer Seite gegen den Iran in der letzten Phase des ersten Golfkriegs einnehmen sollten. Diese Debatte war wesentlich dafür, dass die IST auf die viel größere Herausforderung des zweiten Golfkrieges im Jahre 1991 vorbereitet war und effektiv reagieren konnte. 1993–1994 stritten sich SWP und OSE erneut heftig über die notwendigen Schritte, unserer deutschen Schwestergruppe aus der Krise zu helfen, in die sie geraten war, weil sie es nicht schaffte, wirksam auf die sich seit der Wiedervereinigung in Deutschland entwickelnde gesellschaftliche und politische Polarisierung zu reagieren; die folgende Neuorientierung führte zur Entstehung von Linksruck als eine der stärksten Organisationen der Tendenz.

In beiden Fällen war eine scharfe politische Auseindersetzung nötig, um die Klärung zu erreichen, von der eine effektive Arbeit abhing. Weil beide Debatten auf einer politischen Grundlage geführt wurden, änderten sie nichts an der engen Arbeitsbeziehung, die weiterhin zwischen den Führungen der SEK und der SWP besteht. Die Entstehung der antikapitalistischen Bewegung stellte eine noch größere Wende dar, die eine Debatte erforderte, um die Aufgaben von Revolutionären zu klären. Indem der ISO-Leitungsausschuss sich über die Entscheidung der SWP-Führung beklagte, diese Auseinandersetzung zu führen, betrachtete diese scheinbar die Beziehungen zwischen verschiedenen Organisationen der selben internationalen Strömung als eine Art Club für gegenseitige Bewunderung unter Führungen, die übereingekommen sind, sich nicht zu kritisieren. Wenn wir dieses Modell ablehnen, beanspruchen wir für die SWP nicht das Recht, ihren Willen der übrigen Tendenz aufzuzwingen. Jede Organisation ist autonom und muss eigene politische Entscheidungen treffen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass politische Auseinandersetzungen für die Entwicklung der revolutionären Bewegung international wie im eigenen Land unabdingbar sind.

Jedenfalls war der Streit zwischen der ISO und der IS-Tendenz mehr als eine Meinungsverschiedenheit über politische Perspektiven, wie sie immer wieder aufkommen. Er war ein Symptom der Entartung der ISO, ihrer Verknöcherung zur Sekte. Ein weiteres Miteinander mit der ISO hätte aus der IS-Tendenz eine organisierte Heuchelei gemacht nach der Art des VSVI in den 70er Jahren, als hinter der Fassade der Einheit zwei Fraktionen – die Internationale Mehrheitstendenz (mit Sitz in Europa) und die Leninistische-trotzkistische Tendenz (ironischerweise von der amerikanischen SWP dominiert) – in jeder Sektion der Vierten Internationale gegeneinander Krieg führten. Eine solche Situation hätte die IST zerstört, indem es entweder zu noch ernsthafteren Spaltungen gekommen wäre, als es sie ohnehin gab, oder zu einer Innenwendung und Aufsplitterung in Fraktionen, bis sie aufgehört hätte, ein effektives politisches Forum für internationale politische Diskussionen und Zusammenarbeit zu sein.

Zweitens ist das Schicksal der ISO kein Grund zur Selbstzufriedenheit bei denen, die ihm diesmal entkommen sind. Wie ich zu zeigen versucht habe, gibt es eine ständige Versuchung für revolutionäre Organisationen, sich ins Sektieriertum zurückzuziehen, insbesondere wenn es zu einer „plötzlichen Wende in der Geschichte“ kommt, wie Lenin es nannte. Sogar die große Mehrheit der IST, die den grundsätzlichen Fehler der ISO vermieden hat und die antikapitalistische Bewegung erkannte und versucht, sich auf sie zu beziehen, steht bei der Umsetzung dieser Politik vor einer Riesenherausforderung. Die Degeneration der ISO in eine Sekte ist ein extremer Fall einer Neigung, die in allen unseren Organisationen existiert. Wir werden alle darum kämpfen müssen, diese Neigung zu überwinden, um uns in einen effektiven Teil der Bewegung zu verwandeln, die über uns hinauswächst.

Dieser Prozess hat jedoch schon angefangen. Die koordinierte Mobilisierung der IS-Tendenz für Prag und Nizza hatte ihre Auswirkung auf die europäische Linke. Unsere skandinavischen Schwesterorganisationen in Dänemark, Norwegen und Finnland (selbst erst seit kurzem in der Strömung) haben sich aktiv an der Gründung neuer nationaler Sektionen von Attac beteiligt und mobilisieren mit zu den Protesten gegen den EU-Gipfel in Götheborg. Genua wird eine weitere europaweite Mobilisierung der IS-Tendenz sehen.

Diese Aktivitäten sind nicht nur deshalb wichtig, weil sie einzelnen IST-Gruppen ermöglichen, hinsichtlich ihrer Größe als auch ihres Einflusses zu wachsen. Es wird immer deutlicher, dass eine internationale Neubildung der Linken stattfindet. Wie wir gesehen haben, verläuft die Reaktion der radikalen Linken auf die Entstehung der antikapitalistischen Bewegung quer zu den theoretischen und organisatorischen Bindungen. Die Art, wie die Sozialistischen Bündnisse in Großbritannien Revolutionäre aus bisher bitter verfehdeten trotzkistischen Strömungen neben linken Reformisten aus dem traditionellen Labour-Milieu zu sehr effektiven gemeinsamen Aktivitäten zusammengebracht haben, zeugt von der beginnenden Neuausrichtung. Dies gehört zu der allgemein großen Beweglichkeit, welche die antikapitalistische Bewegung kennzeichnet. Für diejenigen, die in der Lage sind, alte Vorurteile zu verwerfen, sich zu verändern und zu lernen, gibt es die Gelegenheit, eine neue Generation für den revolutionären Marxismus zu gewinnen.

Alex Callinicos
7. März 2001

 

 

Fußnoten:

1. D. Montgomery, For Many Protestors, Bush Isn’t the Main Issue, Washington Post, 20. Januar 2001.

2. Susan George, Que faire à présent?, Manuskript für das Weltsozialforum in Porto Alegre, 15. Januar 2001.

3. Financial Times, 27. Februar 2001.

4. Edward Said, Palestinians under Siege, in: London Review of Books, 14. Dezember 2000, S.10.

5. Siehe J. Wolfreys, Class Struggles in France, in: International Socialism 2.84, London 1999.

6. Guardian, 7. November 2000.

7. T. Harrison, Election 2000: Infamy and Hope, New Politics VIII:2, 2001, S.9.

8. H. Hawkins, The Nader Campaign and the Future of the Greens, ebd., S.19.

9. F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992, und P. Anderson, The Ends of History, in: A Zone of Engagement, 10. London 1992. Für eine völlig andere Herangehensweise an die Debatte siehe A. Callinicos, Theories and Narratives, Cambridge 1995, Kapitel I.

10. P. Anderson, Renewals, in: New Left Review (II) 1, London 2000, S.17.

11. Hierzu besonders B. Kagarlitsky, The Suicide of New Left Review, und G. Achcar, The „Historical Pessimism“ of Perry Anderson, in: International Socialism 2.88, London 2000.

12. Als Beispiel für diese letzte Tendenz sei hier die Vermutung von Walden Bello erwähnt: „Die Motivation der Republikaner, den IWF und die Weltbank zu kritisieren, liegt in ihrem Glauben an die Lösungen der freien Marktwirtschaft für Entwicklung und Wachstum begründet. Dies mag nicht mit dem übereinstimmen, was Progressive sagen, die den IWF und die Weltbank als Werkzeug der US-Hegemonie sehen. Aber die beiden Seiten können sich hier hinter einer Agenda zusammenfinden: dem radikalen Zusammenstreichen, wenn nicht der Aufhebung der Bretton-Woods-Zwillinge.“ in: „Is Bush Bad News for the World Bank“, Focus on the Global South, www.focusweb.org, Januar 2001. Eine kritische Untersuchung der antikapitalistischen Bewegung bietet C. Harman, Anti-Capitalism: Theory and Practice, in: International Socialism 2.88, London 2000 (auch über http://www.swp.org.uk/ISJ zu erhalten). Eine deutsche Version dieses Artikels kann man unter Antikapitalismus – Theorie und Praxis finden.

13. S. George, Que faire à présent?, a.a.O.

14. The Lugano Report on Preserving Capitalism in the Twenty-First Century, mit einem Anhang und Nachwort von Susan George, London 1999, S.82ff.

15. Siehe Callinicos, Theories and Narratives, Kapitel 4, und Sharon Smith, Mistaken Identity, in: International Socialism 2:62 (1994).

16. Business Week, 6. November 2000.

17. Financial Times, 30. Januar 2001.

18. Financial Times, 29. Januar 2001.

19. J. Lloyd, Attack on Planet Davos, Financial Times, 24. Februar 2001.

20. P. Bourdieu und L. Wacquant, La Nouvelle vulgate planétaire, in: Le Monde diplomatique, Online-Ausgabe (http://www.monde-diplomatique.fr), Mai 2000, S.4.

21. B. Kagarlitsky, Prague 2000: The People’s Battle, zu erhalten über http://www.greenleft.org.au.

22. G. Monbiot, Dissent is in the Air: Take to the Streets, Guardian, 7. Februar 2001.

23. Obwohl die überlebenden Kommunistischen Parteien im Allgemeinen die antikapitalistische Bewegung abgetan haben – die größten in Europa, die französische und griechische KP und die Rifondazione Communista in Italien glänzten durch Abwesenheit in Prag – waren einige kleinere stalinistische Organisationen, zum Beispiel International Action Center in den USA, sehr viel empfänglicher dafür.

24. Hierzu ausführlich John Rees, Anti-capitalism, Reformism and Socialism, in: International Socialism 2:90, London 2001.

25. Leo Trotzki, The Lessons of October (Die Lehren des Oktober), in: The Challenge of the Left Opposition (1923-25), New York 1975, S.205.

26. Tony Cliff, Lenin, Bd.I, London 1975, Kapitel 8 und 16, Zitat von S.171ff.

27. ebd., S.263, außerdem Kapitel 14.

28. Karl Marx an Friedrich Bolte, 23. November 1871, in: MEW Bd.33, S.328.

29. ders. an Johann Baptist von Schweitzer, 13. Oktober 1868, MEW Bd.32, S.569.

30. ebd., S.570.

31. Tim Wolforth, The Prophet’s Children, Atlantic Highlands NJ 1994, S.86.

32. ebd., S.91.

33. Maurice Isserman, If I Had a Hammer, New York 1987.

34. ebd., S.202.

35. Zit. n. T. Wells, The War Within, New York 1996, S.18.

36. Wolforth, a.a.O., S.156. Progressive Labour war eine linke Abspaltung der Kommunistischen Partei in den frühen 60ern, die sich in eine maoistische Richtung bewegte, schnell wuchs und starke Unterstützung innerhalb des SDS gewann. Ein Teil der Geschichte des Niedergangs der SWP (US) kann in A. Callinicos, Their Trotskyism and Ours nachverfolgt werden (in: International Socialism 2:22, London 1984).

37. Dieser Zyklus wird sehr gut in Tom Wells großer und erhellender Studie der Antikriegsbewegung beschrieben (obwohl er aus einer feindseligen Position gegenüber der revolutionären Linken schreibt). Siehe The War Within, a.a.O.

38. Siehe hierzu Tony Cliff, Trotskyism after Trotsky, London 1999, und A. Callinicos, Trotskyism, Milton Keynes 1990.

39. F. Rouleau, L’Ennemi, est-ce la „mondialisation“ ou le capitalisme?, Lutte Ouvrière, 3. Dezember 1999.

40. Un curieux front commun pour entraver la recherche scientifique, Lutte Ouvrière, 16. Februar 2001.

41. F. Chesnais, C. Serfati und C.-A. Udry, L’Avenir du „movement anti-mondialiste“, S.6. Siehe auch B. Kagarlitsky, The Twilight of Globalization, London 2000, Kapitel 1 und 2, wo ähnliche Argumente vorgetragen werden.

42. Die ISO entstand aus einer Spaltung der Internationalen Sozialisten (IS), eine Organisation, die ihrerseits aus der Shachtman-Bewegung kam. Max Shachtman, einer der historischen Führer des amerikanischen Trotzkismus, brach mit der Vierten Internationale 1940. Er war der Hauptverteidiger der Theorie, dass die UdSSR eine neue Form der Klassengesellschaft repräsentiere, „bürokratischer Kollektivismus“ genannt, und bewegte sich zunehmend nach rechts, soweit, dass er schließlich den von den USA unterstützten Angriff auf die kubanische Schweinebucht 1961 und den Vietnamkrieg unterstützte. (Siehe hierzu insbesondere P. Drucker, Max Shachtman and His Left, Atlantic Highlands, NJ, 1994). Die IS entstand durch Anhänger Shachtmans, die seiner Rechtswende nicht folgten. Aber Mitte der 1970er hatte die IS-Führung ihre eigene Version von Stellvertreterpolitik entwickelt, indem sie insbesondere die Politik der „Industrialisierung“, die unter der radikalen amerikanischen Linken zu dieser Zeit verbreitet war, vertrat. Dies ist eine Werde-schnell-reich-Taktik, die darauf abzielt, innerhalb der Arbeiterklasse aufzubauen, indem ehemalige Studenten in die Fabriken geschickt werden. Die Erfahrungen zeigen, dass die industrialisierten Exstudenten, die in den Fabriken überleben, zu den konservativeren Elementen in der Organisation werden, da sie versuchen, ihre wahre „proletarische“ Natur herauszustellen, indem sie sehr eng gefasste Gewerkschaftsthemen in den Mittelpunkt stellen. „Industrialisierung“ ist eine Stellvertreterpolitik, die Notwendigkeit zu überspringen versucht, direkt an Arbeiter heranzutreten und sie politisch zu gewinnen. Eine Gruppe von IS-Mitgliedern, die diesem zutiefst falschen Kurs mit der Unterstützung der britischen SWP widerstand, wurde ausgeschlossen und gründete die ISO. Ironischerweise trieb der Konservatismus der „industrialisierten“ IS schließlich den Hauptautor dieser Strategie, Joel Geier, in die Arme der ISO, wo er jetzt einer der offensten Unterstützer der gegenwärtigen Führung ist.

43. Eine Analyse des weltweiten Aufschwungs Ende der 1960er und Anfang der 1970er bietet Chris Harman, The Fire Last Time, London 1998 (überarbeitete Fassung).

44. Brief des ISO-Leitungsausschusses an das Zentralkomitee der SWP, 7. Mai 1999, nachgedruckt im parteiinternen Bulletin der SWP, Frühjahr 2000, S.3 und 4.

45. Zentralkomitee der SWP an den ISO-Leitungsausschuss, 2. Juli 1999, ebd., S.7.

46. Einen Überblick über diese Entwicklung gibt A. Callinicos, Reformism and Class Polarization in Europa, International Socialism 2:85, London 1999.

47. Antwort des ISO-Leitungsausschusses an die SWP, 20. März 2000, a.a.O. Dieses Eingeständnis wurde jedoch im Nachhinein von dem Leiter des Bezirks der San-Franzisco-Bucht zurückgezogen. Siehe Todd C., Did the ISO „Miss Seattle“? Of course not. („Verpasste“ die ISO Seattle? Natürlich nicht.), Vor-Konferenz-Diskussionsbulletin Nr.2, 27. November 2000.

48. Siehe J. Charlton, Talking Seattle, International Socialism 2:86, London 2000.

49. Mitteilung von Pranav J., Providence ISO, an den Leitungsausschuss der ISO, in: Internes Diskussionsbulletin der ISO, 20. März 2000, S.20.

50. W.I. Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in Werke Band 31 (Berlin 1983), S.42.

51. ISO-Notizen, 11. Februar 2000.

52. Hierzu besonders: Brief von Alex Callinicos und Tony Cliff an den ISO-Leitungsausschuss, 29. März 2000, in: Internes Bulletin der SWP, Frühjahr 2000, geschrieben kurz vor Cliffs Tod am 9. April.

53. In ihrer detaillierten Analyse von A16 konzentrierte die ISO-Führung sich jedoch darauf, die Schwächen der Demonstration anzugreifen – die Abwesenheit der organisierten Arbeiterbewegung und der Schwarzen und die protektionistische Kundgebung, die einige Gewerkschaftsführer zusammen mit dem rechten Demagogen Pat Buchanan abhielten: ISO-Notizen, 4. Mai 2000.

54. Brief von Alex Callinicos und Tony Cliff an den ISO-Leitungsausschuss, 29. März 2000, a.a.O., S.43.

55. ISO-Leitungsausschuss: Antwort auf den internationalen Bericht, 9. November 2000, in: Internationales Bulletin der SWP, Januar 2001, S.8.

56. SWP-Zentralkomitee, Kommentar zur ISO-Antwort auf den internationalen Bericht, ebd., S.13.

57. A. Callinicos, Crisis and Class Struggle in Europe Today, International Socialism 2:63, London 1994, und Reformism and Class Polarization in Europe, in: International Socialism 2:85, London 1999.

58. ISO-Leitungsausschuss, Antwort auf den internationalen Bericht, a.a.O., S.10.

59. M. Bowler und A. Callinicos, Bericht über die ISO-Tagung, 1.-3. Dezember in Chicago“, SWP Internationales Bulletin, Januar 2001. Zum Vergleich auch die Diskussion in C. Harman, Beyond the Boom, International Socialism 2:90, London 2001.

60. J. Geier, Nader 2000: Challenging the Parties of Corporate Amerika, International Socialist Review (USA), August/September 2000, S.17.

61. ISO-Notizen, 13. Oktober 2000.

62. Brian C., Grasping the Anti-Capitalist Mood, ISO-Vor-Konferenz-Diskussionsbulletin Nr.1, 15. November 2000, S.18.

63. Bilal E., Seattle was a fork in the road, ebd. S.21.

64. Brian B., Assessing San Francisco Nader Work, ISO-Vor-Konferenz-Diskussionsbulletin Nr.2, 27. November 2000, S.14.

65. Danny K., zit. in Meredith K., Combating the Magic Bullet Theory, Internationales Bulletin der SWP, Januar 2001, S.39. [„Redeem the Dream“ (Verwirklichung des amerikanischen Traums), Bewegung innerhalb der Demokratischen Partei, die sie zurück zu ihrer (imaginären) arbeiterfreundlichen Vergangenheit führen will; d. U.]

66. Bowler und Callinicos, Bericht über die ISO-Tagung, S.57.

67. ISO-Leitungsausschuss, Antwort auf den internationalen Bericht, S.12.

68. ISO-Notizen, 4. Oktober 2000.

69. ISO-Leitungsausschuss, Antwort auf den internationalen Bericht, S.13.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.9.2002