Phil Marshall

 

Blut an ihren Händen

(März 2001)


Socialist Review, London März 2001.
Übersetzung: R. Nünning.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan for REDS – Die Roten.


Die Wahl des Kriegsverbrechers Ariel Scharon zum Ministerpräsidenten von Israel hat die Welt schockiert. Phil Marshall erklärt, wie es dazu kam

Warum wählte Israel Ariel Scharon, und was sagt uns dies über den zionistischen Staat und seine Absichten? Das sind Schlüsselfragen, die wir uns nach den Wahlen in Israel stellen müssen.

Die britische Presse drückte Schock und Konfusion über das Wahlergebnis aus. Dem Independent zufolge war das Ergebnis „eine Katastrophe, fast so total, wie Katastrophen eben sind“. Erschreckt von der großen Zustimmung zu Scharon hoffte die Zeitung lediglich, dass seine Regierungszeit kurz werde. Für den Guardian war sein Sieg unbegreiflich: Wie hatte dieser verrufene Mann, ein Erzfeind des Friedens, Israels „demokratische Wahl“ werden können? Die Zeitung machte den vorherigen Premierminister Barak, Jassir Arafat und die gescheiterten Osloer Friedensgespräche verantwortlich. Sie konnte jedoch nicht das Hauptproblem lösen – dass fast zwei Drittel der Stimmen für einen Mann abgegeben wurden, der offen mit Diskriminierung und extremer Gewalt identifiziert wird. Sogar der palästinische Schriftsteller Edward Said kommentierte dieses Rätsel: „Es ist verblüffend merkwürdig“, sagt er, dass Israelis sich dem „unbekehrbaren alten Killer der Palästinenser zugewandt haben – ein Mann, der ihnen mehr statt weniger Gewalt bringen wird.“ Aber so merkwürdig ist das nicht – die zionistische Bewegung gelangte schon oft an solch einen Punkt.

Um eine Erklärung zu finden ist es notwendig, das zentrale Prinzip des Zionismus zu verstehen – dass er ein ethnischer Nationalismus ist, eine rassistische Ideologie, die einen Staat auf der Grundlage des Ausschlusses von Nichtjuden geschaffen hat. Innerhalb dieses Staates schwären alle Arten engstirniger Vorurteile, welche die Bedingungen schaffen, unter denen aggressive Rassisten wie Sharon weiterhin wichtige Rollen spielen.

Die zionistische Bewegung ist nicht einzigartig. Während der Kolonialzeit wurden viele Siedlerstaaten durch Europäer errichtet, die Land und andere lebenswichtige Ressourcen eroberten. In einer Hinsicht ist der Zionismus jedoch anders, denn seine Führer propagierten die Vertreibung der gesamten lokalen Bevölkerung. 1948 hatten sie ihren Erfolg mit der Vertreibung von einer Million Menschen – Araber wurden rausgedrängt, Juden kamen hinein. Israel wurde geschaffen auf der Grundlage von „Rasse“.

Sharon steht in der Tradition zionistischer Führer, welche die begeistertesten ethnischen Säuberer waren. Seine Likud-Koalition wurde 1973 durch Menachim Begin gegründet, der in den 1940ern eine führende Figur der Revisionistischen Bewegung war. Der Führer der Revisionisten war Zev Jabotinsky, der argumentierte, dass Palästinenser lediglich als Feinde wichtig seien, die ohne Erbarmen behandelt werden sollten. Er machte die arabische Kultur verächtlich: „Ich habe eine westliche Mentalität“, sagte er. „Der Osten ist mir vollständig fremd.“ Er beschrieb die Bevölkerung der Region als „ein Mob – kreischender Pöbel, der ständig im Streit liegt, bekleidet mit Lumpen in den Farben der Wilden.“

Für Jabotinsky waren Araber eine „primitive“, „arrogante“ Rasse. Versöhnungsversuche von Juden gegenüber den Arabern waren „verachtenswert und abstoßend“. Die Hauptaufgabe der Siedlergemeinschaft, argumentierte er, war, eine „eiserne Mauer“ zu errichten – um die Araber mit der Realität einer jüdischen Mehrheit und jüdischer Macht zu konfrontieren. Er organisierte paramilitärische Gruppen ausgestattet mit den Uniformen und Ritualen der europäischen Rechten. Für seine Feinde innerhalb der zionistischen Bewegung war er ein Faschist. Die Revisionisten gründeten eine Reihe bewaffneter Gruppen, die sich auf Angriffe auf Palästinenser spezialisierten. Eine dieser Gruppen, Irgun Zwai Leumi, wurde von Begin kommandiert. 1948 verübte Irgun das Massaker von Deir Yassin und tötete 254 arabische Dorfbewohner.

Als Begin Ministerpräsident wurde, wählte er Sharon für die Aufgabe, Israels Streitkräfte zu kontrollieren. 1982 befahl Begin die Invasion des Libanons, während er dem israelischen Kabinett anvertraute, dass es sein Ziel sei, die Palästinenser in den Libanon zu „transferieren“. Scharon entwickelte eine einfachere Strategie: Er gab seine Zustimmung zum Massenmord in den Flüchtlingslagern Beiruts.

Heute gehören zu den Verbündeten Scharons Parteien, die das aggressivste rassistische Element in der zionistischen Ideologie am Leben erhalten. Revahem Zeevi von der Nationalen Union befürwortet einen neuen „Transfer“ – ethnische Säuberung – der Palästinenser, die Ovadia Yosef, Führer der ultraorthodoxen religiösen Partei Schas als „Giftschlangen“ bezeichnet. Avigdor Lieberman, Führer der russischen Immigranten-Partei Yisrael Beitanu, ruft auf zur Zerstörung palästinensischer Dörfer, in denen die Einwohner sich gegen die israelischen Kräfte wehren. Während der Wahlkampagne sagte er einen Krieg mit arabischen Staaten voraus, in dem Israel Raketen auf Teheran abschießen und den Aswan Staudamm in Ägypten angreifen würde – eine Initiative, die das Leben von 60 Millionen Menschen bedrohen würde.

Warum haben israelische Juden für solch einen Haufen gestimmt? Eine Antwort ist, dass Sharon und seine Verbündeten nicht „Abweichler“ sind, sondern eine politische Strömung repräsentieren, die weit verbreitete Legitimität hat und welche bereits vor Scharon drei Ministerpräsidenten stellte: Begin, Schamir und Netanyahu. Ein zweiter Grund ist die wachsende israelische Intoleranz gegenüber dem palästinensischen Widerstand. Die Intifada, die im Oktober 2000 begann, hat viele Israelis aufgebracht, besonders weil zum ersten Mal Palästinenser beteiligt sind, die innerhalb der „Grünen Linie“ leben – der Grenzen von Israel, die 1948 gezogen worden waren.

 

 

Invasion im Libanon

Diese arabischen Gemeinden waren lange Zeit an den Rand gedrängt und blieben viele Jahre relativ passiv. Seit Oktober gerieten sie unter wiederholte Angriffe, da Palästinenser bestraft wurden, weil sie sich trauten, ihre Unterordnung in Frage zu stellen, und weil sie ihren Kampf mit dem im Westjordanland und im Gazastreifen verbanden. Eine Stimme für Scharon war eine Stimme, die die Feindschaft und Furcht vieler israelischer Juden gegenüber den „schweigenden“ Arabern ausdrückte, die ihre Sprache gefunden haben.

Es ist bedeutsam, dass viele arabische Wähler nicht zur Wahl gingen. Noch 1999 hatten 75 Prozent abgestimmt, und von den Wählern unterstützten 95 Prozent Barak. Der Führer der Arbeitspartei hatte den arabischen Parteien 28 spezielle Zusagen gemacht – von der Beendigung der staatlichen Beschlagnahmungen ihrer Ländereien bis zur Gleichstellung der arabischen Gemeinden mit den jüdischen Städten bei der staatlichen Finanzierung. Er hielt keins seiner Versprechen – stattdessen billigte er die Gewalt, die während der ersten Wochen der Intifada das Leben von 13 Palästinensern kostete. Bei den Wahlen im letzten Monat war die Beteiligung der Araber auf 18 Prozent gesunken. Ein Plakat des Komitees der Märtyrerfamilien erklärte: „Wir werden wählen gehen, wenn unsere Söhne wählen.“

Warum wiesen die Israelis den Friedensplan, für den der ehemalige Ministerpräsident Barak geworben hatte, zurück? Er bot den Palästinensern sehr wenig, aber das war zu viel für die meisten Israelis. Bei der Aussicht auf Rückzug von einigen Siedlungen und einer gemeinsamen Autorität über Teile von Jerusalem schwenkten die meisten Wähler zu Scharon mit seinem Versprechen, dass „Israel uns, uns, uns gehört“. Edward Said kommentiert, dass die Israelis, indem sie Scharon wählten, sich nach innen gewandt haben, den Rat ihrer Freunde, speziell unter den westlichen Regierungen, zurückwiesen. In gewissem Sinn jedoch haben sie keinen Grund, für irgendeinen Friedensvertrag zu stimmen. In den letzten 40 Jahren stand der israelische Staat auf der Zahlungsliste seiner westlichen Alliierten. Nichts unterbrach den Fluss der US-amerikanischen Hilfe und Ausrüstung – nicht die Invasion im Libanon und das Massaker von Beirut, nicht die Politik der „Eisernen Faust“, mit welcher der Aufstand von 1987 unterdrückt werden sollte, nicht das Massaker von Qana von 1994, nicht die brutale Antwort auf die jetzige Intifada.

Die Israelis wurden von Barak gedrängt, den Friedensplan, unterstützt von Bill Clinton, zu akzeptieren. Er verwies darauf, dass Clinton der am meisten proisraelische Präsident seit je gewesen sei und dass Bush, eine unbekannte Größe, nicht so entgegenkommend sein könnte. Aber mit der Sicherheit, dass US-Regierungen niemals in ihrer Unterstützung geschwankt haben, wiesen die Wähler Baraks Vorschläge zurück. Nach der ersten außenpolitischen Initiative von Bush, der Bombardierung Bagdads, konnten die meisten Israelis beruhigt sein. Durch den Angriff auf Bagdad hat Bush ein Zeichen gesetzt, dass die USA vermutlich eine noch autoritärere Rolle in der Nahostpolitik spielen wollen. Seine Botschaft ist, dass nicht kooperative arabische Herrscher – und andere in der Region, die die Pax Amerikana stören – mehr Bomben zu erwarten haben. Dementsprechend werden Washingtons Freunde in arabischen Hauptstädten und in Israel weiterhin Unterstützung erhalten.

Es gibt einige Hinweise, dass sich die israelische Gesellschaft polarisiert. Die Zahl israelischer Juden, die wählen gingen, war ebenfalls auf einem historischen Tiefstand, womit viele zeigten, dass sie keinen der Kandiaten unterstützen wollten. Es gibt außerdem Anzeichen, dass einige junge Leute mit ihrer militärischen Aufgabe unzufrieden werden – eine wichtige Entwicklung ist, dass eine Gruppe von Soldatinnen mit der starken Unterstützung ihrer Familien sich weigerte, im Westjordanland und Gazastreifen zu dienen. Diese Unruhe wird jedoch nicht in der organisierten Politik reflektiert. Die Arbeitspartei ist in der Krise, nicht nur, weil ihr Kandidat in den Wahlen vernichtend geschlagen wurde, sondern weil Barak ernsthaft überlegte, Scharons Regierung beizutreten in einer symbolischen Einheit der beiden Flügel des Zionismus. Links von der Arbeitspartei gibt es Desillusionierung und Furcht. Noch 1982 mobilisierte Peace Now hunderttausende gegen die Invasion im Libanon. Viele beschrieben Scharons Offensive als unmoralisch, allerdings war ihr Hauptanliegen die zunehmende Zahl israelischer Opfer. Während der jetzigen Intifada, in der die große Mehrheit der Opfer Palästinenser sind, konnte die Bewegung lediglich eine Handvoll Demonstranten sammeln.

 

 

Solidarität mit der Intifada

Die meisten Palästinenser glauben, dass Scharon sich kaum von anderen israelischen Führern unterscheidet. Sie verweisen darauf, dass die palästinensischen Toten der neuesten Intifada das Werk Baraks sind. Viele fühlen sich auch zunehmend wütend angesichts der Bereitschaft ihrer eigenen Führer, mit welcher israelischen Regierung auch immer zu verhandeln, unabhängig von ihrem Repressionsregister. Ein Aktivistenveteran in Nablus erzählte Socialist Review: „Ich bin darauf eingestellt zu sehen, wie Arafat und Scharon sich auf der Wiese vor dem Weißen Haus umarmen. Abu Amar (Arafat) wird mit jedem verhandeln, egal wie viel palästinensisches Blut an seinen Händen klebt.“

Es gibt ein ähnliches Gefühl in vielen arabischen Staaten, besonders in Ägypten, wo die Intifada eine große Solidaritätsbewegung hervorrief. Einige Wochen lang im Oktober fanden in hunderten ägyptischer Städte und Dörfer Demonstrationen statt. Überall waren sie von jungen Leuten organisiert – in vielen Fällen waren die Gymnasien tagelang durch wiederholte Streiks und Demonstrationen stillgelegt. In Kairo waren zehntausende Studenten an Demonstrationen beteiligt, die sich sehr bald gegen das ägyptische Regime wegen seiner Kompromisse mit Israel und dem globalen Kapitalismus wandten. Zum ersten Mal seit 1940 wurden diese nicht von Nationalisten oder Islamisten, sondern von der Linken angeführt.

Die Wahl von Scharon erinnert Ägypter daran, wie einige ihrer Herrscher mit Israel Abkommen schlossen. Der ägyptische Präsident Sadat reiste 1979 nach Jerusalem, um Begin zu umarmen und die Beziehungen zu „normalisieren“, obwohl er von dessen mörderischem Register wusste. Der gegenwärtige Präsident Mubarak hat bereits erklärt, dass er mit dem neuen Ministerpräsidenten ins Geschäft kommen wolle, während der ägyptische Außenminister darauf besteht, dass Scharon eine „neue Politik“ einleiten und auf „gegenseitigem Verständnis“ aufbauen solle. Die ganze blutgetränkte Karriere von Scharon erzählt eine andere Geschichte. Er ist ein Provokateur, der von seinen Vorgängern auf der Rechten gelernt hat, wie neue Konflikte entzündet werden können. Jabotinsky löste 1929 Aufstände und Massenmorde aus, indem er eine Demonstration zur Klagemauer führte. Im September letzten Jahres benutzte Scharon dieselbe Technik – vier Monate und 500 Tote später war er Ministerpräsident.

Scharon und seine Unterstützer werden die Gewalt über den Nahen Osten verbreiten. Fortgesetzte Angriffe auf Palästinenser und fortgesetzter Widerstand werden erneut Proteste in der arabischen Welt hervorrufen. Sogar Regime wie das in Ägypten werden unter Druck geraten, Stellung zu beziehen. Der populärste Slogan auf den Straßen von Kairo im Oktober enthielt eine bedrohliche Warnung für das Regime von Mubarak und für die Masse der Israelis: „Wo ist die Armee? Wir wollen Krieg.“

 


Zuletzt aktualisiert am 8 February 2010