Tony Cliff

 

Lenin 1

 

3. Hin zum Aufbau der Partei

Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Rußland aus den Angeln heben! [1]

In März 1898 fand ein „Kongreß“ der Sozialdemokraten in Minsk statt. Er war eine winzige Angelegenheit mit nur neun delegierten aus Petersburg, Moskau, Kiew, von der Zeitschrift Rabotschaja Gaseta und von der jüdischen sozialistischen Organisation, dem Bund. Er versäumte, ein Programm oder eine Zeitung anzunehmen. Seine einzige Errungenschaft war die Ausgabe eines Manifestes, das von Peter Struve (einem „Ökonom“, der später ein Führer der Liberalen und dann ein Monarchist wurde), die Verkündung der Vorstellung einer landesweiten Partei und die Wahl eines Zentralkomitees mit drei Mitgliedern. Acht der neun Delegierten und zwei der drei Mitglieder des Zentralkomitees wurden einige Tage nach der Beendigung der Konferenz verhaftet. [1*]

Zu jener Zeit war Lenin in Sibirien. Das Scheitern des 1898er Kongresses überzeugte ihn davon, daß der Aufbau einer landesweiten Partei, um die russische Sozialdemokratie aus seiner Krise zu führen, ernsthafter und systematischer Vorbereitung bedürfte. Monate des Denkens während seiner letzten Periode des sibirischen Exils erzeugten einen Plan in seinem Kopf für eine landesweite Zeitung und eine Kette von Agenten, um sie über die Grenze zu schmuggeln und in den Städten und Fabriken zu verteilen. Die Zeitung würde als Mittel dazu dienen, die lokalen Kreise in eine landesweite Organisation zusammenzuschmelzen. Sie würde in den Bereichen der Theorie sowie der praktischen Aktivität klären und vereinigen.

Krupskaja erinnerte sich an dieser Periode: „Wladimir Iljitsch begann an Schlaflosigkeit zu leiden und magerte zusehends ab. In den schlaflosen Nächten bewog er seinen Plan in allen Einzelheiten, besprach ihn mit Krshishanowski, mit mir, korrespondierte darüber mit Martow und Potressow und verständigte sich mit ihnen über die Abreise ins Ausland.“ [3]

 

 

Die Notwendigkeit, den Kampf zu verallgemeinern

Es war Angst vor der Gefahr zur Bewegung, die durch den Aufstieg des russischen „Ökonomismus“ und des deutschen Revisionismus in der zweiten Hälfte von 1899 erregt wurde, die Lenin dazu motivierte, den Bogen wieder in die ganz andere Richtung zu spannen, weg vom spontanen tagtäglichen zersplitterten ökonomischen Kämpfen hin zur Organisation einer landesweiten politischen Partei. In einem Artikel mit dem Titel „Unsere unmittelbaren Aufgaben“, der gegen Ende 1899 geschrieben wurde, schrieb er:

Wenn die Arbeiter einer einzelnen Fabrik, eines einzelnen Berufs den Kampf gegen ihren Unternehmer oder gegen ihre Unternehmer aufnehmen, ist das Klassenkampf? Nein, das sind die erst schwache Ansätze dazu. Der Kampf der Arbeiter wird erst dann zum Klassenkampf, wenn alle fortschrittlichen Vertreter der gesamten Arbeiterklasse des ganzen Landes sich bewußt werden, eine einheitliche Arbeiterklasse zu sein, und den Kampf nicht gegen einzelne Unternehmer, sondern gegen die ganze Klasse der Kapitalisten und gegen die diese Klasse unterstützende Regierung aufnehmen ... Die Aufgabe der Sozialdemokratie besteht darin, durch Organisierung der Arbeiter, durch Propaganda und Agitation unter ihnen ihren spontanen Kampf gegen die Unterdrücker in einen Kampf der ganzen Klasse, in den Kampf einer bestimmten politischen Partei für bestimmte politische und sozialistische Ideale zu verwandeln. Durch lokale Arbeit allein kann eine solche Aufgabe nicht gelöst werden. [4]

Die enge, ökonomistische Vorstellung der Organisation müsse deshalb überwunden werden.

Unser Hauptmangel, für dessen Beseitigung wir alle unsere Kräfte einsetzen müssen, ist der enge, der „handwerklerische“ Charakter er lokalen Arbeit. Infolge dieser Handwerklerei bleiben die zahlreichen Fälle, in denen die Arbeiterbewegung in Rußland aktiv hervortritt, rein lokale Ereignisse und verlieren viel von ihrer Bedeutung als Vorbild für die ganze russische Sozialdemokratie, als Stadium der ganzen russischen Arbeiterbewegung. [5]

Die Schlußfolgerungen sind deutlich:

Die Saat der sozialdemokratischen Ideen ist schon überall in Rußland ausgestreut; Arbeiterflugblätter – diese erste Form der sozialdemokratischen Literatur – sind bereits allen russischen Arbeitern, von Petersburg bis Krasnojarsk und vom Kaukasus bis zum Ural, bekannt. Was uns jetzt fehlt, ist eben die Zusammenfassung dieser gesamten lokalen Arbeit zur Arbeit einer einzigen Partei ... Wir haben genug von dieser Handwerklerei! Wir sind reif genug, um zur gemeinsamen Arbeit, zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Parteiprogramms, zur gemeinsamen Erörterung der Taktik und Organisation unserer Partei überzugehen. [6]

Um die Vereinigung der Sozialisten zu erreichen, bestehe die zentrale Ausgabe darin, eine Zeitschrift für ganz Rußland zu gründen.

Wir müssen uns als nächstes Ziel stellen, ein regelmäßig erscheinendes und mit allen lokalen Gruppen eng verbundenes Parteiorgan zu schaffen. Wir sind der Ansicht, daß auf die Organisierung dieser Sache die ganze Tätigkeit der Sozialdemokraten in der ganzen nächsten Zeit gerichtet sein muß. Ohne ein solches Organ bleibt die lokale Arbeit enge „Handwerklerei“. Die Gründung der Partei bleibt, wenn nicht eine richtige Vertretung dieser Partei in einer bestimmten Zeitung organisiert wird, zu einem bedeutenden Teil ein leeres Wort. Der ökonomische Kampf, der nicht durch ein Zentralorgan zusammengefaßt wird, kann nicht zum Klassenkampf der gesamten russischen Proletariats werden. Die Führung des politischen Kampfes ist unmöglich, wenn nicht die ganze Partei zu allen Fragen der Politik Stellung nimmt und den Kampf in seinen einzelnen Erscheinungsformen lenkt. die Organisierung der revolutionären Kräfte, ihre Disziplinierung und die Weiterentwicklung der revolutionären Technik sind unmöglich ohne Erörterung aller dieser Fragen in einem Zentralorgan, ohne kollektive Ausarbeitung bestimmter Arbeitsformen und -regeln, ohne die – durch Vermittlung des Zentralorgans herzustellende – Verantwortlichkeit jedes Parteimitglieds vor der ganzen Partei. [7]

In einem anderen Artikel mit dem Titel „Ein dringende Frage“, argumentierte Lenin, daß die Vereinigung der Marxisten in eine landesweite Partei es ermöglichen würde, eine Arbeitsteilung in der Bewegung zu entwickeln und dadurch die Effizienz erhöhen.

Es ist notwendig, daß sich die einzelnen Parteimitglieder bzw. die einzelnen Mitgliedergruppen auf einzelne Seiten der Parteiarbeit spezialisieren, die einen auf dem Nachdruck von Literatur, die andern auf ihre Heranschaffung aus dem Ausland, die dritten auf ihren Transport innerhalb Rußlands, die vierten auf ihre Verbreitung in den Städten, die fünften auf Einrichtung konspirativer Wohnungen, die sechsten auf Sammlung von Geld, die siebenten auf Organisierung der Zustellung von Korrespondenzen und leer Mitteilungen über die Bewegung, die achten auf Aufrechterhaltung der Verbindungen usw. und dgl. mehr. Eine solche Spezialisierung erfordert, wir wissen das, bedeutend größere Standhaftigkeit, bedeutend mehr Fähigkeit, sich auf becheidne, unscheinbare Kleinarbeit zu konzentrieren, bedeutend mehr wahren Heroismus als die gewöhnliche Zirkelarbeit. [8]

Lenins Plan sah die Gründung von zwei Zeitungen: einer zweimonatlichen theoretischen Zeitschrift (der künftige Sarja) und einer weiter verbreiteten zweiwöchentlichen Zeitung (Iskra), die die organisatorische und ideologische Konsolidierung unternehmen würde.

 

 

Wie Iskra fast gelöscht wurde

Während er in Sibirien war, Korrespondierte Lenin mit zwei anderen Exilierten, Martow und Potressow, die grundsätzlich mit ihm über den Plan für eine landesweite Zeitung und Organisation einverstanden waren. Sie führten eine sehr ausführliche Korrespondenz über die künftige Zeitung durch: wer dafür schreiben sollte, wann sie gedrückt werden sollte; wie sie in die Städte geschmuggelt werden könnte; was ihre Position über mehrere Fragen sein sollte. Die drei waren sehr eng, etwa im gleichen Alter (Potressow ein Jahr älter, Martow drei Jahre jünger als Lenin), ihre Exilzeit sollte mehr oder weniger zu gleichen Zeit enden und sie hatte alle vor, ins Ausland zu gehen, um ihren Plan zu verfolgen, die Zeitung zu gründen – sie waren tatsächlich so eng, saß Lenin sie „den Dreierbund“ nannte.

Alle drei sahen auch zu Plechanow als ihren Meister auf. Lenins Treffen mit dem „Vater des russischen Marxismus“ im August 1900 war jedoch ein katastrophaler Schock. Es lohnt sich sehr die Episode zu erzählen, da sie ein interessantes Licht auf seine emotionale Natur wirft, das er in den folgenden Jahrzehnten unterdrücken sollte. Sie ist auch wichtig als Vorwarnung vor dem künftigen Bruch zwischen Lenin und den alten Meistern, der Generation der Pioniere des russischen Marxismus, Plechanow, Axelrod und Sassulitsch.

Das Treffen wird in einem langen vertraulichen Bericht (er füllt etwa 17 Seiten in den Werken). Er war für die Augen von Krupskaja, Martow und einer geringen Zahl von engen Anhängern gedacht und hatte den Titel „Wie die ‚Funke‘ beinahe erloschen wäre“ (eine Anspielung auf dem Namen der Zeitung Iskra, die „Funke“ bedeutet).

Als sie sich trafen, war Plechanow

mißtrauisch, argwöhnisch und rechthaberisch nec plus ultra [A]. Ich war bemüht, vorsichtig zu sein, vermied die „wunden“ Punkte, aber dieses ständige Auf-der-Hut-Sein mußte sich natürlich äußerst ungünstig auf die Stimmung auswirken ... „Reibungen“ gab es auch in den Fragen der Taktik der Zeitschrift. G.W. [Plechanow] bekundete fortwährend absolute Intoleranz, Unfähigkeit und mangelnden Willen, auf fremde Argumente einzugehen, und dabei Unaufrichtigkeit, jawohl Unaufrichtigkeit. [9]

Plechanow hatte auch in einer gefühllosen und unrichtigen Weise gegenüber Struve während der Entstehung seines „Ökonomismus“ gehandelt. Das zuzugeben, war er nicht bereit. Lenin sagt:

Wir erklärten, daß wir Struve gegenüber soweit wie möglich nachsichtig sein müßten, weil wir selbst an seiner Entwicklung nicht ohne Schuld seien, weil wir, darunter auch G.W., nicht Widerstand geleistet haben, als das notwendig gewesen wäre (1895, 1897). G.W. wollte eine Schuld seinerseits, auch die geringste, absolut nicht anerkennen und tat alles mit sichtlich untauglichen Argumenten ab, die die Frage beiseite schoben, aber nicht klärten. In einer kameradschaftlichen Unterredung zwischen künftigen Redaktionskollegen wirkte diese ... Diplomatie äußerst unangenehm: wozu sich selbst betrügen und erklären, ihm, G.W., sei 1895 „befohlen“ (??) worden, „nicht zu schießen“ (auf Struve), er aber sei gewohnt zu tun, was man ihm befehle (so sieht er aus!). Wozu sich selbst betrügen und versichern, daß er, G.W., 1897 (als Struve im Nowoje Slowo schrieb, es sei sein Ziel, ein der grundlegenden Thesen des Marxismus zu widerlegen) sich nicht dagegen gewandt habe, weil er eine Polemik zwischen Mitarbeitern ein und derselben Zeitschrift absolut nicht verstehen könne (und auch nie verstehen werde)? Diese Unaufrichtigkeit ärgerte uns furchtbar ... [10]

Während Lenin argumentierte, daß die vorgeschlagene Zeitung der unerschütterliche Verfechter des revolutionären Marxismus sein sollte, war er andererseits dafür, daß sie für Polemiken mit Liberalen, „Ökonomisten“ und Revisionisten offen sein sollte. Er bereitete den Entwurf einer redaktionellen Ankündigung, worin

von den Aufgaben und dem Programm unserer Publikationen die rede war; diese war (vom Standpunkt [Plechanows]) in „opportunistischem“ Geiste geschrieben: eine Polemik zwischen Mitarbeitern wurde für zulässig erklärt, der Ton war bescheiden, er wurde der Vorbehalt einer möglichen Friedlichen Beilegung des Streites mit den „Ökonomisten“ gemacht usw. Betont wurden in der Ankündigung auch unsere Zugehörigkeit zur Partei und unser Wunsch, an ihrer Vereinigung zu arbeiten. [11]

Er befürwortete eine Einladung an Struve und Tugan-Baranowski, daß sie für die Zeitschriften schreiben sollten. Aber Plechanow stellte sich dem Zutritt von gegensätzlichen Ideen entgegen und zeigte eine Feindseligkeit gegen „Verbündete“, die „ans Unanständige grenze (er verdächtigte sie der Spitzelei, warf ihnen Geschäftemacherei, Gaunerei vor, erklärte er würde solche ‚Verräter‘, ohne zu zögern, ‚erschießen‘ usw.)“. [12]

Einige Tage später trafen sich Plechanow, Axelrod uns Sassulitsch mit Lenin und Potressow im Versuch, eine Vereinbarung zwischen den beiden Generationen zu verhandeln. Plechanows „Wunsch, unumschränkt zu herrschen, kam offen zum Ausdruck“, aber er fing „diplomatisch“ an. Er erklärte:

es wäre besser, wenn er nur Mitarbeiter sei, einfacher Mitarbeiter, da es sonst nur Reibungen geben würde, daß er die Dinge offenbar anders betrachte als wir, daß er unseren Standpunkt, den Parteistandpunkt, verstehen und achte, ihn aber nicht teilen könne. Wir sollen also die Redakteure, er aber Mitarbeiter werden. Als wir das hörten, waren wir völlig verblüfft, direkt wie vor den Kopf geschlagen und erhoben Einwände.

Als Lenin und seine Mitarbeiter darauf bestanden, daß Plechanow Mitglied der Redaktion sein sollte, fragte Plechanow, wie das Abstimmen mit einer geraden Anzahl von Redakteuren (Plechanow, Axelrod und Sassulitsch von den Veteranen, und Lenin, Martow und Potressow von der jüngeren Generation) funktionieren sollte. Vera Sassulitsch schlug dann vor, daß Plechanow zwei Stimmen haben sollte, während alle anderen je eine Stimme haben sollten.

Darauf reißt G.W. die Zügel der Leitung an sich und beginnt im Tone eines Chefredakteurs die Arbeitsgebiete und die Artikel für die Zeitschrift zu verteilen, wobei er dem einen und dem anderen der Anwesenden verschiedene Arbeitsgebiete überträgt – in einem Tone, der keinen Widerspruch zuläßt. Wir alle sitzen wie begossene Pudel da, stimmen teilnahmslos allem zu und sind immer noch nicht imstande, das Vorgefallene zu verdauen. Wir fühlen, daß wir die Dummen sind ... [13]

Meine „Vernarrtheit“ mit Plechanow war ... wie weggeblasen, und ich war unglaublich verletzt und verbittert. Nie, niemals in meinem Leben hatte ich für einen Menschen soviel aufrichtige Hochachtung und Verehrung, vénération, empfunden, keinem Menschen war ich so „ehrfürchtig“ gegenübergetreten – und nie ist mir ein so brutaler „Fußtritt“ versetzt worden. Und wirklich war es so, daß wir einen Fußtritt erhalten hatten ... [14]

Mit tiefer Bitterkeit beschreibt Lenin seine und Potressows Reaktion auf Plechanows autoritäres Verhalten:

Unsere Empörung war grenzenlos: das Ideal war zerschlagen, und wir traten es voller Genugtuung mit Füßen, wie einen gestürzten Götzen; die härtesten Anklagen nahmen kein Ende. So geht es nicht! entscheiden wir. Unter solchen Umständen wollen, werden und können wir nicht zusammenarbeiten. Ade, Zeitschrift! Wir geben alles auf und fahren nach Rußland, dort werden wir die Sache von neuem organisieren und uns auf die Zeitung beschränken. Wir wollen keine Schachfiguren in den Händen dieses Mannes sein; er läßt kameradschaftliche Beziehungen weder zu, noch versteht er sie. Wir können uns nicht dazu entschließen, die Redaktion selbst zu übernehmen, außerdem wäre das jetzt einfach widerwärtig, es würde geradezu den Anschein erwecken, als jagten wir nur nach Redakteurposten, als wären wir Streber, Karrieristen, als spräche auch aus uns die gleiche Eitelkeit, nur von geringerem Kaliber ... Es ist schwer, unseren Zustand an jenem Abend hinreichend genau zu schildern: in einer so komplizierten, schweren und trüben Geistesverfassung befanden wir uns! ... Und alles das, weil wir früher in Plechanow vernarrt waren: wäre diese Vernarrtheit nicht gewesen, hätten wir uns mit kälterem Blut, mit mehr Gleichmut zu ihm verhalten, hätten wir ihn mit etwas mehr Abstand betrachtet – so hätten wir uns zu ihm anders benommen und keinen solchen Zusammenbruch, im wahren Sinne dieses Wortes, erlebt ... Es war die härteste Lehre, die das Leben erteilen kann, eine verletzend-harte, eine verletzend-grobe Lehre. Junge Genossen „umwerben“ den älteren Genossen aus großer Liebe zu ihm, dieser aber bringt plötzlich in diese Liebe eine Atmosphäre der Intrige hinein ... Und die verliebte Jugend erhält vom Gegenstand ihrer Liebe die bittere Zurechtweisung: Es ist notwendig, allen Menschen „ohne Sentimentalität“ gegenüberzutreten, es ist notwendig, stets einen Stein wurfbereit in der Tasche zu halten. Unzählig viele solch bitterer Worte sprachen wir an jenem Abend. [15]

Dieser Vorfall veranschaulicht die Verachtung, die Lenin während seines gesamten Lebens gegenüber jeder Hackordnung in der Bewegung und einer herrischen Haltung ihrer Führer, gegenüber jeder unehrlichen Verschleierung der eigenen Fehler der Führer in der Vergangenheit behalten sollte. Er zeigt ihm, als er zum ersten Mal seine eigenen Muskeln spielen läßt, um eigenständiger Führer zu werden. Er lehrte ihn, nie die persönlichen und politischen Seiten seiner künftigen Bündnisse und Auseinandersetzungen zu mischen – er lernte die emotionale Seite seiner Natur disziplinieren.

Wir beschlossen, von dem Vorgefallen niemandem, außer den Personen, die uns am nächsten stehen, etwas zu sagen ... Äußerlich sollte es so Aussehen, als wäre nichts passiert ..., nur innen war irgendeine Saite gesprungen, und an die stelle eines ausgezeichneten persönlichen war ein sachliches, kühles Verhältnis getreten, bei dem jeder Schritt genau berechnet wurde: ein Verhältnis nach dem Formel si vis pacem, para bellum [B]. [16]

Diese Episode, die Lenin nie wieder in seinen Schriften erwähnte, nahm nicht nur den künftigen Streit zwischen Individuen – Lenin gegen Plechanow (und seine engen Freund Axelrod und Sassulitsch) – vorweg, sondern war auch ein Ausdruck der wirklichen, grundsätzlichen Schwäche des Vaters des russischen Marxismus, deren Hauptgrund wahrscheinlich seine Jahre der Isolation von jeder wirklichen kämpferischen Bewegung war. Wie Krupskaja es beschreibt:

Plechanow hat ein tragisches Schicksal. Auf dem Gebiet der Theorie sind seine Verdienste der Arbeiterbewegung gegenüber außerordentlich groß. Aber die Jahre der Emigration gingen nicht spurlos an ihm vorüber – sie haben ihn der russischen Wirklichkeit entfremdet. Die breite Massenbewegung des Proletariats entstand in der Zeit, als er schon ins Ausland war. Er kam wohl mit den Vertretern der verschiedenen Parteien, mit Schriftstellern und Studenten, ja sogar mit einzelnen Arbeitern in Berührung, aber die russische Arbeitermasse hatte er nicht gesehen, er hatte nicht mit ihr gearbeitet, hatte sie nicht erlebt. Manchmal kam eine Mitteilung aus Rußland, die über die neue Formen der Bewegung Aufschluß gab, die die Perspektiven der Bewegung erraten ließ. Wladimir Iljitsch, Martow und auch Vera Iwanowna lasen solche Briefe immer wieder: Wladimir Iljitsch pflegte dann lange im Zimmer auf und ab zu gehen und konnte abends keinen Schlaf finden. Als wir nach Genf übersiedelten, versuchte ich, Plechanow diese Mitteilungen und Briefe zu zeigen und es wunderte mich, wie er darauf reagierte. Es machte den Eindruck, als verlöre er den Boden unter den Füßen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Mißtrauen, und er kam auf diese Briefe und Mitteilungen mit keinem Wort mehr zurück

... Anfangs verletzte mich das sogar ein wenig, aber später erklärte ich es mir so: Er war schon lange aus Rußland weg und besaß nicht jenen Gradmesser, den man durch die Erfahrung gewinnt und der es einem ermöglicht, das spezifische Gewicht jeder Mitteilung zu bestimmen und so manches zwischen den Zeilen zu lesen.

Häufig kamen Arbeiter zu Iskra gereist. Jeder von ihnen wollte dann natürlich Plechanow sehen. Plechanow war aber viel schwerer zu erreichen als wir oder Martow; bekam aber ein Arbeiter Plechanow zu sehen, dann ging er mit gemischten Gefühlen von ihm weg.. Er war von dem glänzenden Intellekt Plechanows, von seinen Kenntnissen, seinem Witz geblendet, aber nach dem Scheiden von Plechanow empfand er gewissermaßen nur den riesigen Abstand zwischen diesem glänzenden Theoretiker und sich selbst. was ihn jedoch in seinem Innersten bewegte, was er gern hätte erzählen wollen, worüber er sich gern beraten hätte – das hatte er doch nicht aussprechen können.

Und wenn der Arbeiter gar mit Plechanow nicht einverstanden war und versuchte, seine eigene Meinung darzulegen, so wurde Plechanow gereizt: „Eure Eltern reichten noch nicht mit der Nase an den Tisch, als ich bereits ...“

Mag das in den ersten Jahre der Emigration noch anders gewesen sein, um 1900 herum hatte Plechanow jedenfalls bereits die unmittelbare Fühlung mit Rußland verloren. Im Jahre 1905 ging er nicht nach Rußland. [17]

Trotzki faßte Plechanows Zustand passend zusammen:

Für Plechanow begann ... bereits die Zeit seines Niederganges. Ihn untergrub gerade das, was Lenin stark machte: das Nahen der Revolution. die gesamte Tätigkeit Plechanows trug einen ideologisch vorbereitenden Charakter. Er war Propagandist und Polemiker des Marxismus, aber nicht revolutionärer Politiker des Proletariats. Je unmittelbarer die Revolution herannahte, um so sichtlicher verlor Plechanow den Boden unter den Füßen. Er mußte es selbst fühlen, und das war der Grund seiner Gereiztheit gegen die Jungen. [18]

Im Gegensatz zu Plechanow kante und verstand Lenin das Leben und den Kampf der russischen Arbeiter.

 

 

Außerordentliche Zielstrebigkeit

Die scharfe Auseinandersetzung mit Plechanow war eine sehr frühe Probe der Willenskraft und der Zielstrebigkeit Lenins.

Es hat wahrscheinlich nie einen Revolutionär gegeben, der zielstrebiger, entschlossener und hartnäckiger als Lenin war. Es ist bedeutend, daß die häufigst wiederholten Wörter in seinen Schriften wahrscheinlich „unerbittlich“ und „unversöhnlich“ sind. Vor allem hatte er eine unbeugsame Willenskraft. Wie Lunatscharsky in seinen Revolutionären Silhouetten schrieb: „daß der vorherrschende Zug in seinem charakter war sein Wille ist, das fast sein ganzes Wesen ausmacht, ein äußerst fester, äußerst mächtiger Wille, imstande, sich auf die dringendsten Aufgaben zu konzentrieren, der sich nie über den Umkreis hinaus verliert, den sein starker Intellekt vorzeichnet, und der jedem einzelnen Problem seinen Platz als Glied einer riesigen, weltumspannenden politischen Kette zuweist.“ [19] In der russischen Sprache steht bedeutsamerweise dasselbe Wort für Freiheit und für Willen.

Lenins Lebensweise war ein Modell der Disziplin, der Ordnung [Ordentlichkeit] und der geduldigen Selbstbeherrschung. Gorki beschrieb ihn als „persönlich anspruchslos, einen Abstinenzler, einen Nichtraucher, beschäftigt von Morgen bis Abend mit komplizierter, schwieriger Arbeit, ganz unfähig dazu, um sich richtig zu kümmern“. [20] In seinen Briefen beschrieb Lenin nie seine Umgebung – ob er im Gefängnis, oder in Sibirien, Genf, Paris oder London war, war er völlig in seiner Arbeit vertieft. Die persönlichsten waren eine kurze Beschreibung seiner alltäglichen Tätigkeit. als seine Familie sich darüber beschwerte, daß er nicht aus Sibirien schrieb, schrieb Krupskaja: „Wolodja versteht sich doch gar nicht darauf, über sein äußeres Leben zu berichten.“ [21]

In seinen feindseligen in 1927 geschriebenen Memoiren gab Potressow zu: „Und trotzdem ... bewerteten ... alle von uns, die am engsten zur Arbeit waren, ... Lenin nicht nur für sein Wissen, seinen Verstand und seine Arbeitsfähigkeit, sondern auch für seine außerordentliche Hingabe zur Sache, seine unaufhörliche Bereitschaft, sich selbst völlig zu geben, die unangenehmste Funktionen aufzunehmen und sie ohne Versäumnis mit der äußersten Gewissenhaftigkeit zu erfüllen.“ [22]

Laut Trotzki sagte Vera Sassulitsch einmal Lenin: „George (Plechanow) ist ein Windhund: er zerrt, zerrt und läßt ab, Sie aber sind eine Bulldogge: Sie haben einen tödlichen Griff.“ Als sie später Trotzki diesen Dialog mitteilte, fügte sie hinzu: „Ihm (Lenin) hat das sehr gefallen. ‚Ein tödlicher Griff‘, hat er mit Behagen wiederholt.“ [23]

Folgender Austausch zwischen Axelrod (einem der Begründer des russischen Marxismus und später einem Führer der Menschewiki) und einem Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büro ist ziemlich aufschlußreich:

Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros: Meinen Sie, daß all diese Spaltungen und Streiten und Skandale die Arbeit eines Mannes sind? Aber wie kann ein Mann so wirksam und so gefährlich sein?

Axelrod: Weil es keinen anderen Mann gibt, der sich vierundzwanzig Stunden am Tag mit der Revolution beschäftigt, der keine andere Gedanken hat außer Gedanken über die Revolution, und der auch während des Schlafes von nichts außer der Revolution träumt. Versuchen Sie einfach, mit so einem Kerl zurechtzukommen. [24]

Und folgendes sagte Lenin seiner engen Freundin, der deutschen Revolutionärin Clara Zetkin:

Die Revolution fordert Konzentration, Steigerung der Kräfte, von den Massen, von Individuen. Sie kann nicht orgiastische Umstände dulden, die für die dekadenten Helden und Heldinnen von D’Annunzio normal sind. Zügellosigkeit im sexuellen Leben ist bürgerlich, ist eine Erscheinung des Zerfalls. Das Proletariat ist eine aufsteigende Klasse. Es braucht den Rausch als Narkose oder Anregung. Den Rausch ebensowenig durch sexuelle Übertreibung als durch Alkohol. Es darf nicht und wird nicht die Schande, den Dreck, die Barbarei des Kapitalismus vergessen. Es bekommt stärksten Drang zum Kampf von einer Klassenlage, vom kommunistischen Ideal. Es braucht Klarheit, Klarheit und wieder Klarheit. Und daher wiederhole ich, keine Schwächung, keine Verschwendung, keine Zerstörung der Kräfte. Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin ist keine Sklaverei, auch nicht in der Liebe. [25]

 

 

Fußnote

1*. Die organisatorische Vorstellung diese ersten Kongresses war föderalistisch und lose. Ein Paragraph legte fest, daß das Zentralkomitee keine Frage entscheiden könnte, die bis zum nächsten Kongreß vertagt werden könnte, und daß nur die dringendsten fragen vom Zentralkomitee auf der eigenen Autorität gelöst werden könnte. auch in diesem Fall müßte die Entscheidung des ZK einstimmig sein. [2]

 

Anmerkungen

1. Lenin, Was tun?, in Lenin, Werke, Bd.5, S.483.

2. Kommunistitscheskaja partija sowetskogo sozusa w resoljutsiach i reschenijach sesdos, konferentsij i plenumow Tsk, 7. Ausgabe, Moskau 1953, Bd.1, S.14.

3. Krupskaja, a.a.O., S.50.

4. Lenin, Werke, Bd.4, S.209-10.

5. ebenda, S.210.

6. ebenda, S.210-1.

7. ebenda, S.212-3.

8. ebenda, S.216-7.

9. ebenda, S.328-31.

10. ebenda, S.331.

11. ebenda, S.332.

12. ebenda, S.331.

13. ebenda, S.334-5.

14. ebenda, S.337.

15. ebenda, S.338-9.

16. ebenda, S.345 [?].

17. Krupskaja, a.a.O., S.63-5.

18. Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/M. 1974, S.137.

19. A.W. Lunatscharski, Profile der Revolution, Frankfurt a.M. 1968, S.32.

20. M. Gorky, Lenin, Edinburgh 1967, S.42.

21. Brief an Lenins Mutter, 1. Oktober 1900, in Lenin, Werke, Bd.37, S.524.

22. A.N. Potressow, Posmertnji sbornik projswedenij, Paris 1937, S.299.

23. Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/M. 1974, S.138.

24. S. Krshishanowskaja, Neskolko schtrikow is schischni Lenina, Bd.2, Moskau 1925, S.49.

25. C. Zetkin, Reminiscences of Lenin, New York 1934, S.50-1.

 

Anmerkungen des Übersetzers

A. in höchstem Maße

B. Wenn du den Frieden willst, rüste zum Kriege.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.6.2001