Tony Cliff

 

Lenin 1

 

6. Der Kampf gegen die Liberalen

Schimpft man den Liberalen, so sagt er: Gott sei Dank, daß man mich nicht geschlagen hat. Schlägt man ihn, so dankt er Gott, daß man ihn nicht erschlagen hat. Erschlägt man ihn, so wird er Gott dafür danken, daß man seine unsterbliche Seele von der vergänglichen irdischen Hülle befreit hat. [1]

Am 8.-9. Februar 1904 brach ein Krieg zwischen Rußland und Japan aus. Ein Grund dafür war, um es dem der Regierung zu ermöglichen, die Kriegshysterie gegen revolutionäre Regungen auszunutzen. Der Ministerpräsident Plehwe sagte tatsächlich: „Wir brauchen einen kleinen siegreichen Krieg, um die Flut der Revolution einzudämmen.“ [2]

Die Liberalen waren sehr bereit, das zaristische Spiel mitzuspielen. Ihre unmittelbare Reaktion war Patriotismus. In Oswoboschdenje, der Zeitung, die die Liberalen im Ausland veröffentlichten, schlug Struve, jetzt ein treuer Anhänger der Liberalen, als Parole vor: „Es lebe die Armee!“ Als die Japaner ihre überlegene Kampffähigkeit sowohl auf dem Land als auch auf dem See zeigte, schwächte den Patriotismus der Liberalen etwas ab und sie wurden mild oppositionell. Diese Einstellung verschärfte sich nach dem Sieg der Japaner im Schlacht bei Liaoyang im Juli, als es offenbar wurde, daß die Russen den Krieg nicht gewinnen würden und daß die Regierung offensichtlich in einer Sackgasse war. Jetzt zeigten die tapferen Führer des niederen Adels und der Mittelklassen, aus welchem Holz sie geschnitten wurden. Oswoboschdenje schrieb: „Die Besatzung der Mandschurei und den Ablauf zum Meer waren für Rußland ökonomisch unsinnig.“ [3] Ihre Haltung zum Krieg wurde defätistisch. Die Niederlage würde den Zaren schwächen und die Autokratie dem Kompromiß zugänglich. „die Japaner“, sagte ein russischer Liberaler, „werden nicht dem Kreml betreten, aber die Russen werden es machen.“ [4]

Als sie Vertrauen gewannen, begannen die Liberalen eine Kampagne, die die lokalen Organe der Selbstverwaltung, die Semstwos, als ihre Plattform benutzte. Da lüfteten sie ihre Beschwerden und planten eine Nationalkonferenz der Delegierten der Semstwos. Die Konferenz fand in November statt und darauf folgten Banketten der liberalen Landbesitzer, Industriellen, Professoren, Rechtsanwälte, Ärzte, Ökonomen usw. Langatmige Reden wurden gehalten, Pläne für Verfassungsreformen wurden diskutiert, Proteste wurden gelüftet. Es ist eine interessante Frage, ob das Ziel darin bestehe, den Zarismus zu stürzen oder oder eine Vereinbarung mit ihm zu treffen.

Die Menschewiki waren über diese Banketten begeistert. Ihre Politik bestand darin, die Arbeiter aufzufordern, die Liberalen zu unterstützen, indem sie ihnen Mut machten, während sie jede extreme Aktion vermieden, falls die Liberalen zurückschrecken würden.

Daher schickte November 1904 der Redakteur der Iskra einen Brief an alle Parteiorganisationen:

In der Person der liberalen Semstwos und Dumas müssen wir uns mit den Feinden unseres Feindes beschäftigen, die jedoch nicht bereit oder fähig dazu sind, so weit im Kampf gegen ihn zu gehen, wie die Interessen des Proletariats verlangen. Aber indem sie sich offiziellgegen den Absolutismus stellen und ihn mit Forderungen konfrontieren, die sich auf seiner Ausrottung zielen, dadurch alleine zeigen sie sich als unsere Verbündeten ... innerhalb der Schranken des Kampfes gegen den Absolutismus und besonders in seiner gegenwärtigen Phase wird unsere Haltung zur liberalen Bourgeoisie von der Aufgabe definiert, sie mit mehr Mut zu färben und sie dazu zu treiben, sich an denjenigen Forderungen zu beteiligen, die vom durch die Sozialdemokratie geführte Proletariat gestellt werden. [5]

Wir würden in einen verhängnisvollen Fehler verfallen, wollten wir uns zum Ziele setzen, schon jetzt durch energische Einschüchterungsmaßnahmen die Semstwos oder andere Organe der bürgerlichen Opposition dazu zu zwingen, daß sie unter dem Einfluß der Panik das formelle Versprechen geben, unsere Forderungen der Regierung zu unterbreiten. Eine solche Taktik würde die Sozialdemokratie kompromittieren, da sie unsere ganze politische Kampagne in einen Hebel für die Reaktion verwandeln würde ...

Gegenüber den heutigen Semstwos reduziert sich unsere Aufgabe darauf, ihnen die politischen Forderungen des revolutionären Proletariats vorzulegen, die zu unterstützen sie verpflichtet sind, damit sie wenigstens ein gewisses Recht haben, im Namen des Volkes aufzutreten und auf eine energische Unterstützung seitens der Arbeitermassen zu rechnen. [6]

Als Fortsetzung dieser Erklärung schlug Axelrod, einer der wichtigsten Führer der Menschewiki, Taktik für die Kampagne vor: Man sollte sich bemühen,

die Massen in unmittelbare Berührung mit den Semstwoversammlungen zu bringen und eine Kundgebung direkt vor dem Gebäude zu konzentrieren, in welchem die Semstwioabgeordneten tagen. Ein Teil der Demonstranten dringt in den Sitzungssaal ein, um im geeigneten Augenblick, durch den Mund des hiermit speziell beauftragten Redners, die Versammlung um die Genehmigung zu bitten, ihr eine Eingabe der Arbeiter vorzulesen. Falls das abgelehnt wird, legt der Redner mit lauter Stimme Protest dagegen ein, daß die Versammlung, die im Namen des Volkes spricht, nicht wünscht, die Stimme der wahren Vertreter dieses selben Volkes zu hören.

Die Vollzugskommission wird im voraus Maßnahmen treffen müssen, damit das Erscheinen von einigen Tausenden Arbeitern vor dem Gebäude, in welchem die Semstwoabgeordneten tagen, und von einigen Dutzenden oder Hunderten im Gebäude selbst bei den Semstwoleuten keinen panischen Schrecken hervorruft, unter dessen Eindruck sie fähig wären, sich unter den schimpflichen Schutz von Polizisten und Kosaken zu flüchten und so die friedliche Kundgebung in eine häßliche Prügelei und barbarische Metzelei zu verwandeln und ihren ganzen Sinn zu verzerren. [7]

Der Sprecher des Menschewismus, Martynow, legte die Argumentation hinter dieser Haltung in ähnlichen Worten genau dar:

Die kommende Revolution wird eine Revolution der Bourgeoisie sein; und das bedeutet, daß ... sie nur im größeren oder kleineren Maße die Herrschaft der gesamten bzw. eines Teils der bürgerlichen Klassen sichern wird ... Wenn das der Fall ist, ist es deutlich, daß die kommende Revolution keineswegs politische Formen gegen den Willen der gesamten Bourgeoisie annehmen kann [darf], da letztere die Meisterin von Morgen wird. Wenn das der Fall ist, dann einfach dem Weg der Erschreckung der Mehrheit der bürgerlichen Elemente zu folgen, könnte nur zu einem Ergebnis führen – der Restauration des Absolutismus in seiner ursprünglichen Form.

Das Ziel des Revolutionären liege deshalb darin, „daß der demokratischere ‚niedere‘ Teil der Gesellschaft den ‚höheren‘ Teil dazu zwingt, zuzustimmen, die bürgerliche Revolution zu ihrem logischen Schluß zu führen“. [8]

Die menschewistische Zeitung Iskra betrachte zu jenem Zeitpunkt die russische Gesellschaft und die Aufgaben der Arbeiter wie folgt:

Als wir auf die Arena des Kampfes in Rußland schauen, was betrachten wir? Nur zwei Kräfte: die zaristische Selbstherrschaft [Autokratie] und die liberale Bourgeoisie, letztere organisiert und von gewaltigem spezifischem Gewicht. Die werktätigen Massen sind gespalten und können nichts; als unabhängige Kraft existieren wir nicht, und deshalb besteht unsere Aufgabe in der Unterstützung der zweiten Kraft – der liberalen Bourgeoisie; wir müssen sie ermutigen und keineswegs sie erschrecken, indem wir mit den unabhängigen Forderungen des Proletariats aufwarten. [9]

Plechanow widerspiegelte dieselbe Vorstellung, als er 1905 schrieb:

Die Sympathie der „Gesellschaft“ ist für uns sehr wichtig und wir können sie – oder genauer gesagt, wir hatten viele Chancen, sie zu – gewinnen, höhnen einen Deut unseres Programms zu ändern. Aber selbstverständlich braucht man Takt, um die Möglichkeit zur Wirklichkeit zu machen, und das ist etwas, das wir nicht immer haben.

Dann würden die Interessen der Liberalen sie tatsächlich dazu ‚zwingen‘, „gemeinsam mit den Sozialisten gegen die Regierung zu handeln“, weil sie aufhören würden, in revolutionären Veröffentlichungen die Versicherung zu begegnen, daß der Sturz des Absolutismus das Signal für eine soziale Revolution in Rußland sein würde. [10]

Kaum ein Artikel kam vom Stift Plechanows, der nicht auf die Bolschewiki wegen ihrer Taktlosigkeit einschlug. In der Tat schrieb er eine gesamte Reihe von Artikeln mit dem kollektiven Titel: „Briefe über Takt und Taktlosigkeit“. [11]

Ganz im Gegensatz dazu prangerte Lenin unerbittlich die russische liberale Bourgeoisie als Konterrevolutionäre Kraft an. Über Martynows Taktik der Kampagne für die Semstwo-Versammlung schrieb er verächtlich November 1904:

Man muß schon sagen: eine schöne Definition der Aufgaben einer Arbeiterpartei! In einer Zeit, da sich vor unseren Augen ganz deutlich ein mögliches und wahrscheinliches Bündnis der gemäßigten Semstwoleute mit der Regierung zum Kampf gegen das revolutionäre Proletariat abzeichnet ..., sollen wir unsere Aufgabe „reduzieren nicht auf die Verzehnfachung unserer Energie im Kampf gegen die Regierung, sondern auf die Ausarbeitung kasuistischer Bedingungen für ein abkommen mit den Liberalen über gegenseitige Unterstützung. [12]

Können wir eine eindrucksvolle Massendemonstration der Arbeiter im Saale der Semstwoversammlung veranstalten, so werden wir sie natürlich veranstalten (obgleich es, wenn die Kräfte für eine Massendemonstration ausreichen, viel besser wäre, diese Kräfte nicht „vor dem Gebäude“ der Semstwoversammlung zu „konzentrieren“, sondern vor den Amtsräumen der Polizisten, Gendarmen oder Zensoren). Sich hierbei jedoch von Erwägungen über den panischen Schrecken der Semstwoleute leiten zu lassen, mit ihnen darüber zu verhandeln – das ist der Gipfel der Unvernunft, der Gipfel der Komik. [13]

Hier sind nicht „Verhandlungen“ nötig, sondern eine faktische Vorbereitung der Kräfte, keine Einwirkung auf die Semstwoleute, sondern eben eine Einwirkung auf die Regierung und deren Agenten. [14]

Lenin war nicht zimpferlich in seiner freimütigen Analyse der Gründe, warum die Liberalen sich als reaktionär beweisen würden.

Der Antagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie ist bei uns viel tiefer als 1789, 1848 und 1871, die Bourgeoisie wird daher die proletarische Revolution mehr fürchten und sich eher der Reaktion in die Arme werfen. [15]

... die Bourgeoisie als Ganzes ist zum entschiedenen Kampf gegen die Selbstherrschaft unfähig: sie fürchtet, in diesem Kampf ihr Eigentum zu verlieren, das sie an die bestehende Gesellschaft kettet; sie fürchtet ein allzu revolutionäres Auftreten der Arbeiter, die niemals bei der demokratischen Revolution allein stehenbleiben, sondern die sozialistische Umwälzung anstreben werden; sie fürchtet den völligen Bruch mit dem Beamtentum, mit der Bürokratie, deren Interessen mit denen der besitzenden Klassen durch tausenderlei Fäden verknüpft sind. Deshalb zeichnet sich der Kampf der Bourgeoisie um die Freiheit durch Ängstlichkeit, Inkonsequenz und Halbheit aus. [16]

Die konstituierende Versammlung wird gerade Kraft genug haben, den Zaren zur Gewährung einer Verfassung zu zwingen, aber eine größere Kraft wird und darf sie (vom Standpunkt der Interessen der Bourgeoisie) nicht besitzen. sie soll nur der Monarchie die Waage halten, sie aber nicht stürzen, sie soll die materiellen Machtinstrumente (Armee usw.) in den Händen der Monarchie belassen. [17]

Die Erfahrung der 1905er Revoolution zeigte noch deutlicher den Bankrott der liberalen Bourgeoisie, besonders über die Frage, die für die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung, die Agrarfrage. Die Liberalen waren gegen die Enteignung der Großgrundbesitzer. Ihre Partei, die Kadetten, unterstützte die Verteilung der Kron- und Klosterländereien unter die Bauern, waren aber mit der Zwangsenteignung der Güter der Großgrundbesitzer erst unter der Bedingung einverstanden, daß gerechte Preise den Großgrundbesitzern bezahlt werden sollten. [18]

Die Kadetten waren tatsächlich zum großen teil Vertreter der Großgrundbesitzerklasse. Lenin zitierte beweise dafür: Die Kadetten seien eine Partei der liberalen Bourgeoisie, der liberalen Großgrundbesitzer und der bürgerlichen Intelligenz. Falls es irgendwelche Zweifel über Großgrundbesitzerfärbung der Kadetten gebe, könne man auf zwei Tatsychen andeuten: (1) die Zusammensetzung der Fraktion der Kadetten in der ersten Duma, und (2) den Entwurf des Agrarprogramms der Kadetten. [19] Im ersten Punkt waren die Tatsachen, wie folgt:

... von 153 Kadetten in der I. Duma waren 92 Adlige. Von ihnen besaßen 3 Personen zwischen 5.000 und 10.000 Desjatinen [1*] Land; 8 Personen zwischen 2.000 und 5.000 Desjatinen; 8 Personen zwischen 1.000 und 2.000 Desjatinen; 30 Personen zwischen 500 und 1.000 Desjatinen. So waren ungefähr ein Drittel der kadettischen Deputierten Großgrundbesitzer. [20]

Über das Agrarprogramm der Kadetten sagte Lenin:

[Es] ist dem Wesen der Sache nach ein Plan des kapitalistischen Gutsbesitzers. Der Loskauf des Bodens, die Verwandlung des Bauern in einen Knecht, die Zusammensetzung der örtlichen Bodenkommissionen zu gleichen Teilen aus Gutsbesitzern und Bauern mit einem von der Regierung bestellten Vorsitzenden, alles das zeigt ganz klar, daß die Politik der Kadetten in der Agrarfrage eine Politik der Erhaltung des gutsherrlichen Grundbesitzes ist auf dem Wege seiner Säuberung von gewissen Zügen der Leibeigenschaft, auf dem Wege der Ruinierung des Bauern durch die Ablösung und seine Knechtung durch die Beamten. [21]

Stolypin [2*] und die Kadetten waren nicht einverstanden über die Größe der Zugeständnisse und über die Art (grob oder feiner) der Durchführung der Reform. Aber beide Seiten unterstützte die Reform, d.h. sie unterstützten die Erhaltung des Übergewichts der Gutsbesitzer durch Zugeständnisse an den Bauern. [22]

Einige Jahre später im März 1908 argumentierte Lenin in einem Artikel mit dem Titel „Über das ‚Wesen‘ der russischen Revolution“ [?], daß die Erfahrung das Konterrevolutionäre wesen der Haltung der Liberalen in der Bauernfrage gezeigt habe:

Vor der ersten Duma, Anfang 1906, schrieb Herr Struve [der Kadettenführer]: „Der Bauer in der Duma wird Kadett sein.“ ... Die Monarchistenzeitung versicherte, das Bäuerlein werde die Sache schon „voranhelfen“, d.h., eine starke Bauernvertretung würde für die Selbstherrschaft günstig sein. Meinungen ähnlicher Art waren damals ... weit verbreitet ... Aber schon die erste Duma zerstörte unwiderruflich diese Illusionen der Monarchisten und die Illusionen der Liberalen. Der ganz ungebildete, unentwickelte, politisch unerfahrene und parteimäßig nicht organisierte Mushik erwies, daß er unendlich viel weiter links stand als die Kadetten. [23]

Er schlußfolgerte:

... die ganze politische Bedeutung der ersten Periode der russischen Revolution könnte in den Worten zusammengefaßt werden: Der Liberalismus hat sein konterrevolutionäres Wesen, seine Unfähigkeit, die Bauernrevolution zu leiten, bereits endgültig bewiesen; die Bauernschaft hat noch nicht vollständig begriffen, daß nur auf revolutionär-republikanischem Wege, unter Führung des sozialistischen Proletariats, ein wirklicher Sieg errungen werden kann. [24]

 

 

Der Liberalismus bekennt sich zur wahren Farbe

Während der 1905er Revolution war der von den Liberalen gesteuerten Kurs ein ungleichmäßiger. Sie schritten fort und zogen zurück, ihr revolutionärer Eifer kühlte ab, als die Revolution nach vorne schritt und Millionen von Arbeitern und Bauern in den politischen und gesellschaftlichen Kampf hineinzog.

Am Anfang der Revolution schrieb Struve: „Jeder aufrichtige und denkende Liberale in Rußland fordert Revolution.“ [25] Seine Partei der Kadetten, wie eigentlich die Mehrheit der Unternehmer, sympathisierte auch mit dem revolutionären Generalstreik, den die Arbeiter als Waffe gegen den Zarismus benutzten [anwandten]. Chrustalew-Nosar, damals Vorsitzender des Petersburger Sowjets, schrieb:

Während des Oktoberstreiks war die Lage so, daß nicht genug damit, daß die Unternehmer keine Hindernisse in den Weg der Arbeiterversammlungen in den Fabriken zu stellen, sie 50 Prozent der Löhne bezahlten für die bestreikte Zeit; in einigen Fabriken wurden auch volle Löhne ausgezahlt. Beim Putilow-Werk und anderswo bezahlten die Leitung volle Löhne den Delegierten für die Tage, die sie bei Versammlungen des Sowjets halfen. Die Leitung des Putilow-Werks war so entgegenkommend, daß sie ihren Dampfer zur Verfügung der Sowjetdelegierten stellte, als sie in die Stadt fuhren. [26]

Der Redakteur der Prawo, des Hauptorgans derjenigen, die bald danach die Partei der Kadetten gründeten, erklärte: Der erste Streik wird für immer eine glorreiche Seite in der Geschichte der Befreiungsbewegung bleiben, ein Denkmal zu den großen Verdiensten der Arbeiterklasse im Kampf um die politische und soziale Befreiung des Volkes.“ [27] In ähnlicher Weise erklärte ein Beschluß beim Gründungsparteitag der Kadetten:

Die Forderungen der Streikenden, wie sie von sich selbst formuliert worden sind, beschränken sich hauptsächlich auf die unmittelbare Einführung der Grundfreiheiten, die freie Wahl der Vertreter des Volkes zu einer Konstituierenden Versammlung auf der Basis der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmabgabe; und eine allgemeine politische Amnestie. Es gibt nicht den geringsten Zweifel daran, daß diese Forderungen mit denen der Partei der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten) identisch sind. Angesichts dieser Identität der Ziele betrachtet der Gründungsparteitag der Kadetten es als ihre Pflicht, ihre vollständige Solidarität mit der Streikbewegung zu verkünden. An ihrer eigenen Stelle und mit der Hilfe von Methoden, die dieser Partei zur Verfügung stehen, streben ihre Mitglieder danach, dieselben Ziele zu erringen. Wie die anderen Gruppen, die sich am Kampf beteiligen, lehnen wir nachdrücklich die Vorstellung ab, unser Ziel vermittels Verhandlungen mit der Regierung zu erringen. [28]

Aber diese Sympathie für die revolutionären Arbeiter löste sich bald in die Luft. Bald wurde es deutlich, daß man keine Trennung machen konnte zwischen den antizaristischen Forderungen der Arbeiter und ihrem Kampf darum, ihre Lebensbedingungen im Gegensatz zu den Interessen der Unternehmer zu verbessern. Die Arbeiter, die sich am Generalstreik gegen den Zaren Oktober 1905 beteiligten, gewannen so viel Selbstbewußtsein über ihre eigene Macht, daß einen Monat später der fortgeschrittenste Teil von ihnen, die Arbeiter von St. Petersburg, in den Ausstand traten und den Achtstundentag forderten. Das bedrohte deutlich die Unternehmer in ihren Taschen und sie reagierten sofort. Die streikenden Arbeiter wurden rücksichtslos ausgesperrt. In November wurden in St. Petersburg 72 Fabriken mit 110.000 Arbeitern dicht gemacht, in Moskau 23 Fabriken mit 58.634 Arbeitern; in anderen Städten war das Bild ähnlich. [29] (Da sie schlecht organisiert waren, wurden die Arbeiter in diesem Zusammenstoß mit den Kapitalisten, ihren ehemaligen Verbündeten gegen den Zaren, niedergeschlagen.)

Alle bürgerlichen Politiker zeigten jetzt ihre Feindseligkeit gegen die Arbeiter und ihre Angst vor Streiks. Wo früher der Streik gelobt wurde, nannte der Führer der Kadetten Miljukow ihn „eine Straftat, eine Straftat gegen die Revolution“. [30]

Struve, der Anfang 1905 die Revolution angefeuert hatte, schrieb jetzt: „Die üble Anarchie der russischen Revolution zeigt sich am deutlichsten in der Tatsache, daß sie eher das Land wie auch sich selbst desorganisiert als organisiert.“ [31] Die Bourgeoisie bewies sich so als viel ängstlicher gegenüber den revolutionären Arbeitern als gegenüber dem konterrevolutionären Zarismus.

Weil die Kadetten sich dem revolutionären Kampf entgegenstellten, kam ihr Versuch, die brennende Frage der Zeit – die Frage des Grund und Bodens – zu lösen, zu nichts. März 1905 schrieb Struve:

Die russische Opposition, da sie nicht nur demokratisch, sondern auch gemäßigt-konstitutionell ist, muß zum gegenwärtigen Zeitpunkt als ihren Anfangspunkt die Tatsache nehmen, daß die Agrarrevolution schon auf dem Land angefangen hat. Wenn so, besteht die einzige intelligente Taktik aus allen Blickpunkten darin, die Revolution von ihrem Anfang zu ergreifen und durch die Anerkennung des gerechten Wesens der Revolution sie in den Kanal der gesetzmäßigen gesellschaftlichen Reform zu lenken. [32]

Das beim Gründungsparteitag der Partei der Kadetten angenommene Programm schloß eine Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung ein (Paragraph 13) und die Monarchie wurde überhaupt nicht erwähnt. Aber der Parteitag im Januar 1906 änderte den Paragraphen 13 und ersetzte ihn durch eine Forderung nach einer „konstitutionellen und parlamentarischen Monarchie“. Die Kadetten bewiesen, wie Lenin vorhergesagt hatte, daß sie nicht aus demselben Stoff stammten wie Robespierre und die Jakobiner bzw. Cromwell und seine Ironsides.

 

 

Schlußfolgerung

Lenins Haß gegen die Liberalen war in seine wahre Seele durch die Erfahrung seiner Jugend verbrannt worden. Krupskaja erzählt:

... Wladimir Iljitsch erzählte mit einmal, wie sich die „Gesellschaft“ zu der Verhaftung seines älteren Bruders verhalten hatte. Alle Bekannten waren damals von der Familie Uljanow abgerückt. Sogar der alte Lehrer, der bis dahin jeden Abend zum Schachspielen gekommen war, stellte seine Besuche ein. Es gab damals von Simbirsk aus noch keine Eisenbahn, und Wladimir Iljitschs Mutter mußte daher im Wagen nach Sysran fahren, um nach Petersburg zu gelangen, wo ihr Sohn inhaftiert war. Wladimir Iljitschs sollte eine Reisegefährten für sie suchen gehen, aber er hatte niemanden ausfindig machen können, der mit der Mutter eines Verhafteten reisen wollte.

Diese allgemeine Feigheit hat damals auf Wladimir Iljitsch, wie er erzählte, einen sehr starken Eindruck gemacht.

Ohne Zweifel hat dieses Jugenderlebnis Wladimir Iljitschs Verhältnis zur „Gesellschaft“, zu den Liberalen, stark beeinflußt. Er hat früh erfahren, wie wenig liberales Geschwätz wert ist. [33]

Noch hatte Lenin vergessen, wie der große Revolutionäre Tschernyschewski zu seiner Zeit von den Liberalen angewidert wurde. Tschernyschewski sprach von den Liberalen der 1860er Jahre als „Schwätzer, Praller und Dummköpfe“. [34] Er betrachtete deutlich ihre Furcht vor der Revolution, ihre Rückgratlosigkeit und ihre Unterwürfigkeit vor dem Zarismus.

 

 

Fußnoten

1*. 1 Desjatin ist etwa 1,1 Hektar.

2*. Der Hauptanspruch des zaristischen Ministerpräsidenten Stolypin auf Ruhm war das Gesetz von November 1906, das Hauptprodukt der siegreichen Konterrevolution. Das Gesetz gewährte einer kleinen Minderheit der Bauern in einer Kommune auch gegen den Willen der Mehrheit das Recht, vom Gemeindeland einen Teil abzutrennen, der in den unabhängigen besitz übergehen sollte. Stolypin beschrieb seine Politik als „das Verlassen auf die Stärken“, d.h. er verließ sich darauf, daß die reichen Bauern sich mit den Großgrundbesitzern und der Autokratie [Selbstherrschaft] zusammenschließen würden. „Das natürliche Gegengewicht zur kommunalen [gemeinschaftlichen?] Prinzip“, sagte er, „ist das individuelle Eigentum. Der Kleinbesitzer ist der Kern, auf dem alle stabile Ordnung im Staat beruht.“ Das Ziel der Stolypinschen Agrargesetzgebung bestand darin, die Kulaken zu einer neuen Quelle der gesellschaftlichen Unterstützung für die Autokratie [Selbstherrschaft] auf dem Land zu verwandeln, während er die Landgüter schützte und die Dorfgemeinden vernichtet.

 

 

Anmerkungen

1. Lenin, Werke, Bd.11, S.385.

2. D.J. Dallin, The Rise of Russia in Asia, London 1950, S.79.

3. ebenda, S.81.

4. zit. in B. Pares, A History of Russia, London 1937, S.428.

5. Dan, a.a.O., S.297.

6. Lenin, Werke, Bd.7, S.508 u. S.514.

7. ebenda, S.516-7.

8. A. Martynow, Dwe Diktaturi, Genf 1904, S.57-8.

9. zit. in G. Sinowjew, Istorija Rossisskoj Kommunisteskoj Partij (Bolschewikow), Moskau-Leningrad 1923, S.158.

10. Plekhanov, Selected Philosophical Works, S.116.

11. Plechanow, Sotschinija, Bd.15.

12. Lenin, Werke, Bd.7, S.514.

13. ebenda, S.518.

14. ebenda.

15. ebenda, Bd.8, S.249.

16. ebenda, S.513-4.

17. ebenda, S.492-3.

18. s. die Sammlung von Artikeln über die Landfrage, P.D. Dolgorukow u. I.I. Petrunkewitsch (Hrsg.), Agrarnij wopros, Moskau 1905, und besonders den Artikel von M.Ja. Gerstenshtein, „Nationalisierung des Grund und Bodens“.

19. Lenin, Werke, Bd.12, S.183.

20. ebenda, S.525.

21. ebenda, S.183.

22. ebenda, S.251.

23. ebenda, Bd.15, S.9.

24. ebenda, S.10.

25. Pokrovsky, a.a.O., Bd.2, S.148.

26. ebenda, S.181.

27. ebenda.

28. ebenda, S.246.

29. S.E. Sef, Burshuasija w 1905 godu, Moskau-Leningrad 1926, S.82.

30. P.N. Miljukow, God borbi, Publitsistitscheskaja Chronika 1905-1906, St. Petersburg 1907, S.171.

31. zit. in Sef, a.a.O., S.109.

32. ebenda, S.101.

33. Krupskaja, a.a.O., S.16.

34. Tschernyschewski, WO?

 


Zuletzt aktualisiert am 18.6.2001