Tony Cliff

 

Lenin 1

 

10. Das Argument für eine revolutionäre provisorische Regierung

 

Bolschewiki und Menschewiki über das Wesen der aus der Revolution entstandenen Regierung

Die Menschewiki, die der liberalen Bourgeoisie hinterherhinkten, betrachteten das Ziel der Revolution als einen Sieg der Bourgeoisie an der Spitze einer revolutionären Regierung. Ihr Konferenz von April-Mai 1905, der sich in Genf traf, nahm einen Beschluß an, „Über die Eroberung der Macht und die Teilnahme an der provisorischen Regierung“, der erklärte, daß, da die Revolution eine bürgerliche sei, ihr Ergebnis eine Provisorische Regierung sein würde, die dazu gezwungen würde,

nicht bloß die Entwicklung der Revolution zu fördern, sondern auch diejenigen ihrer Faktoren zu bekämpfen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems bedrohen.

Wenn das so ist, muß die Sozialdemokratie versuchen, eine Position während der ganzen Revolution zu bewahren, die ihr am besten ermöglichen wird, die Revolution zu fördern, die sie im Kampf gegen die inkonsequenten und egoistischen Politiken der bürgerlichen Parteien nicht lähmen wird, und die sie daran hindern wird, sich in die bürgerliche Demokratie aufzulösen. Deshalb muß die Sozialdemokratie nicht darauf zielen, die Macht zu ergreifen bzw. in einer provisorischen Regierung zu teilen, sondern muß sie die Partei der extremen revolutionären Opposition bleiben.

Dieser Logik zu ihrem Schluß folgend, erklärte eine Konferenz der Menschewiki im Kaukasus:

Die Konferenz glaubt, daß die Bildung einer provisorischen Regierung durch die Sozialdemokraten bzw. ihr Eintritt in einer solchen Regierung dazu führen würde, daß einerseits das Proletariat in der Sozialdemokratischen Partei enttäuscht werden und sie verlassen würde, weil die Sozialdemokraten trotz der Ergreifung der Macht nicht die zwingenden Bedürfnisse der Arbeiterklasse einschließlich der Gründung des Sozialismus befriedigen könnte ..., und andererseits dazu führen, daß die Bourgeoisie vor der Revolution zurückschrecken würde, und daher ihre Breite vermindern würde. [1]

Dagegen argumentierte Lenin, daß man nicht eine Revolution machen kann, wenn man nicht darauf zielt, die Staatsmacht zu ergreifen.

Um das minimale Programm der Sozialdemokratie zu verwirklichen, sei eine revolutionäre Diktatur notwendig. In seiner Broschüre Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung (geschrieben in März-April 1905) argumentierte Lenin:

... der Verzicht auf die Idee der revolutionär-demokratischen Diktatur in der Zeit des Sturzes der Selbstherrschaft ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Durchführung unseres Minimalprogramms. In der Tat, man erinnere sich nur all der ökonomischen und politischen Umgestaltungen, die in diesem Programm formuliert sind, an die Forderung der Republik, der Volksbewaffnung, der Trennung der Kirche vom Staat, der vollen demokratischen Freiheiten, der entschiedenen ökonomischen Reformen. Ist es denn nicht klar, daß die Durchführung dieser Umgestaltungen auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung ohne die revolutionär-demokratische Diktatur der unteren Klassen nicht denkbar ist? [2]

Er entwickelte dieselbe Vorstellung in seinem Buch Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution (Juni-Juli 1905) weiter:

die Kraft, die fähig ist, einen „entscheidenden Sieg über den Zarismus“ zu erringen, kann nur das Volk sein, d.h. das Proletariat und die Bauernschaft ... Ein „entscheidender Sieg der Revolution über den Zarismus“ ist die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.

Das sei das Ziel der Revolution. Er fuhr fort:

Und ein solcher Sieg wird eben eine Diktatur sein, d.h., er wird sich unvermeidlich auf militärische Gewalt, auf die Bewaffnung der Massen, auf den Aufstand stützen müssen, nicht aber auf diese oder jene, auf „legalem“, „friedlichem Wege“ geschaffene Einrichtungen. Das kann nur eine Diktatur sein, denn die Verwirklichung der für das Proletariat und die Bauernschaft unverzüglich und unabweislich notwendigen Umgestaltungen wird den erbitterten Widerstand sowohl der Gutsbesitzer als auch der Großbourgeoisie und des Zarismus hervorrufen. Ohne Diktatur ist es unmöglich, diesen Widerstand zu brechen, die Konterrevolutionäre Anschläge abzuwehren. [3]

Auf das oben zitierte Argument der Genfer Konferenz antwortete Lenin:

Man denke bloß: In die provisorische Regierung nicht eintreten, weil das die Bourgeoisie veranlassen würde, von der Revolution abzuschwenken, wodurch der Schwung der Revolution geschwächt würde! Da haben wir ja in Reinkultur, in vollständiger und konsequenter Form, die neuiskristische Philosophie vor uns, wonach wir, weil die Revolution eine bürgerliche ist, der bürgerlichen Banalität unsere Reverenz erweisen und ihr den Vorrang lassen müssen. Denn lassen wir uns, wenn auch nur teilweise, auch nur einen Augenblick lang, von der Erwägung leiten, daß unsere Teilnahme die Bourgeoisie veranlassen könnte, abzuschwenken, so treten wir die führende Rolle in der Revolution ganz und gar an die bürgerlichen Klassen ab. Wir stellen damit das Proletariat vollkommen unter die Vormundschaft der Bourgeoisie (und behalten uns die volle „Freiheit der Kritik“ vor!!), wir zwingen das Proletariat, gemäßigt und zahm zu sein, damit die Bourgeoisie nicht abschwenke. [4]

 

 

Bolschewiki und Menschewiki in Übereinstimmung über das bürgerliche Wesen der Revolution

Die Bolschewiki und die Menschewiki stimmten nicht überein über das Wesen der Regierung, die aus der Revolution kommen würde und sollte. Die Bolschewiki riefen zu einer demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft auf, während die Menschewiki auf einer bürgerlichen Regierung hofften. Aber über einen Punkt stimmten die beiden Flügel der russischen Sozialdemokratie überein: daß die kommende Revolution eine bürgerliche Revolution sein würde. Dadurch meinte sie eine Revolution als Ergebnis des Konflikts zwischen einerseits den Produktivkräften des Kapitalismus und andererseits der Selbstherrschaft [Autokratie], den Großgrundbesitzern und anderen Überbleibseln des Feudalismus.

Daß das die Ansicht der Menschewiki war, braucht keine Wiederholung. Aber daß zu diesem Zeitpunkt Lenin derselben Meinung war und daß er mehrere Jahre danach dieser Meinung war, muß dann beweisen, besonders angesichts des tatsächlichen Sieges der Oktoberrevolution, die weit über die Schranken einer bürgerlichen Revolution hinaus ging.

Also Lenin schrieb folgendermaßen über die zukünftige russische Revolution in seinem Buch Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution:

Sie wird im besten Fall imstande sein, eine radikale Neuverteilung des Grundeigentums zugunsten der Bauernschaft vorzunehmen, einen konsequenten und vollen Demokratismus bis zur Errichtung der Republik durchzuführen, alle asiatischen Wesenszüge und Knechtschaftsverhältnisse im Leben nicht nur des Dorfes, sondern auch der Fabrik auszumerzen, für eine ernsthafte Verbesserung der Lage der Arbeiter, für die Hebung ihrer Lebenshaltung den Grund zu legen und schließlich, last but not least [als letztes, aber nicht Geringstes], den revolutionären Brand nach Europa zu tragen. Ein solcher Sieg wird aus unserer bürgerlichen Revolution noch keineswegs eine sozialistische machen; die demokratische Umwälzung wird über den Rahmen der bürgerlichen gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse nicht unmittelbar hinausgehen. [5]

Und wieder: „... diese demokratische Revolution wird ... die Herrschaft der Bourgeoisie nicht schwächen, sondern stärken ...“ [6]

Angesichts der Rückständigkeit Rußlands und der Kleinheit seiner Arbeiterklasse lehnte er ab

... die unsinnigen, halbanarchistischen Ideen von der Verwirklichung des Maximalprogramms, von der Eroberung der Macht zum Zweck der sozialistischen Umwälzung ... Der Grad der ökonomischen Entwicklung Rußlands (die objektive Bedingung) und der Grad des Klassenbewußtseins und der Organisiertheit der breiten Massen des Proletariats (die subjektive Bedingung, die mit der objektiven unlöslich verbunden ist) machen eine sofortige vollständige Befreiung der Arbeiterklasse unmöglich. Nur ganz unwissende Leute können den bürgerlichen Charakter der vor sich gehenden demokratischen Umwälzung ignorieren ... Wer auf einem anderen Weg als dem des politischen Demokratismus zum Sozialismus kommen will, der gelangt unvermeidlich zu Schlußfolgerungen, die sowohl im ökonomischen als auch im politischen Sinne absurd und reaktionär sind. [7]

Ferner: „... wir Marxisten müssen ... wissen, daß es keinen anderen Weg zur wirklichen Freiheit des Proletariats und der Bauernschaft gibt noch geben kann als den Weg der bürgerlichen Freiheit und des bürgerlichen Fortschritts.“ [8]

Im selben Buch macht Lenin deutlich, daß das Programm der Revolution sich auf Reform innerhalb des Rahmens des Kapitalismus beschränken sollte:

... ein Aktionsprogramm ..., das den objektiven Bedingungen des gegebenen historischen Augenblicks und den Aufgaben der proletarischen Demokratie entspricht. Dieses Programm ist das ganze Minimalprogramm unserer Partei, das Programm der nächsten politischen und ökonomischen Umgestaltungen, die ... auf dem Boden der jetzigen gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse vollauf durchführbar ... sind. [9]

Lenin änderte diese Meinung nicht bis nach der Revolution Februar 1917. In der Broschüre Der Krieg und die russische Sozialdemokratie (September 1914) z.B. schrieb er immer noch, daß die russische Revolution sich beschränken müsse auf „die drei Grundbedingungen einer konsequenten demokratischen Umwälzung ...: demokratische Republik (bei voller Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Nationen), Konfiskation der Gutsbesitzerländereien und Achtstundentag“. [10]

Es ist außerdem aus allen Schriften Lenins bis 1917 klar, daß er erwartete, daß eine ganze Periode zwischen der kommenden bürgerlichen Revolution und der proletarischen, sozialistischen Revolution vergehen würde. Seine Behandlung des Agrarproblems, wie wir in Kapitel 11 sehen werden, veranschaulicht dieses Problem. Die Nationalisierung des Grund und Bodens, er bestand darauf, sei keine sozialistische, sondern ein kapitalistische Forderung, obwohl ein, die, indem sie den Weg für die kapitalistische Entwicklung freimachen würde, zur raschen Erhöhung der Anzahl der Proletarier und zur Verschärfung des Klassenkampfs führen würde. Sie würde den „amerikanischen Weg der kapitalistischen Entwicklung“ ermöglichen – d.h. Entwicklung ungehindert von Überbleibseln des Feudalismus. Die Abschaffung des Privateigentums am Grund und Boden sei das Maximum, das man machen könnte, um alle Hindernisse zur freien Investition des Kapitals im Grund und Boden und zum freien Fluß des Kapitals von einer Branche der Produktion zur anderen in der bürgerlichen Gesellschaft zu beseitigen. „Die Nationalisierung macht es möglich, alle Schranken des Grundbesitzes zum äußersten Grad niederzureißen und den ganzen Grund und Boden für das den Bedürfnissen des Kapitalismus geeignete neue System der Wirtschaft zu ‚klären‘.“ [11]

Offensichtlich, wenn Lenin vorgesehen hätte, daß die bürgerliche Revolution sich in die sozialistische Revolution entwickeln würde, hätte es für ihn keinen Grund gegeben, solche Argumenten wie diese für die Nationalisierung des Grund und Bodens zu betonen.

 

 

Trotzki

Trotzki war, wie Lenin, davon überzeugt, daß die liberale Bourgeoisie keine revolutionäre Aufgabe konsequent durchführen könnte, und vor allem, daß die Agrarrevolution, ein wesentliches Element der bürgerlichen Revolution, nur durch ein Bündnis der Arbeiterklasse und der Bauernschaft durchgeführt werden könnte. „Das Agrarproblem in Rußland ist dem Kapitalismus eine schwere Belastung: es ist eine Hilfe zur revolutionären Partei und zugleich ihre größte Herausforderung: es seit der Stolperstein für den Liberalismus und ein Memento mori [Andenken an den Tod] für die Konterrevolution.“ [12] Aber er unterschied sich grundsätzlich von Lenin in seiner Ansicht über die Natur der kommenden russischen Revolution.

In allen Revolution seit der deutschen Reformation hatten die Bauern eine Fraktion der Bourgeoisie oder die andere unterstützt, aber in Rußland wurden die Stärke der Arbeiterklasse und der Konservatismus der Bourgeoisie die Bauernschaft dazu zwingen, das revolutionäre Proletariat zu unterstützen. Obwohl in der Revolution gegen den Zaren und die Großgrundbesitzer ein Bündnis zwischen den Arbeitern und der Mehrheit der Bauern geschlossen würde, würde die daraus ergebende Regierung keine Koalition von zwei unabhängigen Kräften sein, sondern würde vom Proletariat geführt werden. Ganz eindeutig argumentierte Trotzki, daß die Revolution deshalb sich nicht auf die Durchführung von bürgerlich-demokratischen Aufgaben beschränken könnte, sondern sofort beginnen müßte, proletarisch-sozialistische Maßnahmen durchzuführen:

Das Proletariat wächst und erstarkt mit dem Wachstum des Kapitalismus. In diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus gleichbedeutend mit der Entwicklung des Proletariats zur Diktatur hin. Aber Tag und Stunde, an denen die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergeht, hängen nicht unmittelbar vom Stand der Produktivkräfte ab, sondern von Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Lage und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative und Kampfbereitschaft ... Die Vorstellung, daß die proletarische Diktatur irgendwie automatisch von den technischen Kräften und Mitteln eines Landes abhinge, ist das Vorurteil eines bis ins Extrem vereinfachten „ökonomischen“ Materialismus. Mit dem Marxismus hat eine solche Auffassung nichts gemein. Unserer Ansicht nach wird die russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände der Arbeiter übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muß sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihre staatsmännische Genie voll zu entfalten. [13]

Im Falle eines entscheidenden Sieges der Revolution geht die Macht in die Hand der Klasse über, die eine führende Rolle im Kampf gespielt hat – mit anderen Worten: in die Hand des Proletariats. [14]

Das Proletariat. das sich an der Macht befindet, wird vor die Bauernschaft als die sie befreiende Klasse treten. [15]

Aber ist es nicht möglich, daß die Bauernschaft selbst das Proletariat beiseite schiebt und seinen Platz einnimmt? Das ist unmöglich. Alle historische Erfahrung protestiert gegen eine solche Annahme. Die Erfahrung zeigt, daß die Bauernschaft völlig unfähig ist, eine selbständige politische Rolle zu spielen. Die Geschichte des Kapitalismus – das ist die Geschichte der Unterwerfung des Landes unter die Stadt. [16]

Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Gleichgültig, unter welcher politischen Fahne das Proletariat zur Macht gekommen ist – es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen. Als größte Utopie muß man den Gedanken ansehen, das Proletariat könne – nachdem es sich durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Höhe der staatlichen Herrschaft aufgeschwungen hat –, selbst wenn es dies wollte, seine Mission auf die Schaffung republikanisch-demokratischer Bedingungen für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie beschränken ... Die Schranke zwischen dem „minimalen“- und dem „maximalen“ Programm verschwindet, sobald das Proletariat die Macht erlangt. [17]

Es gibt ein anderes wichtiges Element in Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, nämlich den internationalen Charakter der kommenden russischen Revolution. Er glaubte, daß sie im nationalen Rahmen anfangen würde, könnte aber nur durch den Sieg der Revolution in den fortgeschritteneren Ländern vervollständigt werden:

Aber wie weit kann die sozialistische Politik der Arbeiterklasse unter den wirtschaftlichen Bedingungen Rußlands gehen? Eins können wir mit Sicherheit sagen: daß sie viel früher auf politische Hindernisse stoßen als über die technische Rückständigkeit des Landes stolpern wird. Ohne die direkte staatliche Unterstützung durch das europäische Proletariat kann die russische Arbeiterklasse sich nicht an der Macht halten und ihre zeitweilige Herrschaft in eine dauerhafte sozialistische Diktatur umwandeln. Daran kan man nicht einen Augenblick lang gezweifelt werden. Aber andererseits kann auch nicht daran gezweifelt werden, daß eine sozialistische Revolution im Westen uns erlaubt, die zeitweilige Herrschaft der Arbeiterklasse unmittelbar und direkt in eine sozialistische Diktatur zu verwandeln. [18] [1*]

Es gibt keine Zweifel, daß Trotzkis Perspektive über die russische Revolution sich 1917 als absolut richtig bewies. Er bewies sich als richtig nicht bloß in bezug auf die Menschewiki, sondern auch in bezug auf Lenins Perspektiven 1905-16 für eine demokratische Diktatur der Arbeiter und der Bauern. Aber trotz seiner klaren Vision der künftigen Entwicklungen beging Trotzki eine schreckliche Fehleinschätzung der konkreten Perspektiven für die Entwicklung des Bolschewismus im Gegensatz zum Menschewismus. Von einem abstrakten Standpunkt begingen die Bolschewiki, die behaupteten, die russische Revolution sei eine bürgerliche, ein nicht kleineres Irrtum als die Menschewiki. Beide müßten zwangsläufig, Trotzkis Meinung nach, zu Hindernisse auf dem Weg zur Revolution werden. So schrieb er 1909 in einem Artikel mit dem Titel „Unsere Differenzen“, der in Rosa Luxemburgs polnischer marxistischer Zeitschrift Przeglad social-demokratyczny veröffentlicht wurde:

Während die Menschewiki, die von der abstrakten Vorstellung ausgehen, daß „unsere Revolution eine bürgerliche Revolution ist“, bei der Idee ankommen, daß das Proletariat seine ganze Taktik zum Verhalten der liberalen Bourgeoisie anpassen muß, um die Übertragung des Staatsmacht an jede Bourgeoisie zu versichern, gehen die Bolschewiki von einer ebenso abstrakten Vorstellung – „die demokratische Diktatur, nicht die sozialistische Diktatur“ – und kommen bei der Idee von einem Proletariat im Besitz der Staatsmacht, das eine bürgerlich-demokratische Einschränkung auf sich auferlegt. Es stimmt, daß der Unterschied zwischen ihnen in dieser Frage sehr beträchtlich ist; während die konterrevolutionären Aspekte des Menschewismus schon ganz offensichtlich geworden sind, werden die des Bolschewismus wahrscheinlich erst zu einer ernsthaften Bedrohung im Falle des Sieges werden. [20]

Aber Trotzki schätzte Lenin falsch ein, dessen 1905er Perspektive, wie oben beschrieben, nicht bloß die Einschränkung der kommenden Revolution auf die bürgerlich-demokratischen Aufgaben einschloß, sondern auch ihre innere Dynamik der unabhängigen Aktion der Arbeiterklasse. Und als es 1917 zur Probe kam, überwand der Bolschewismus nach einem inneren Kampf seine bürgerlich-demokratische Kruste. Lenin entdeckte, daß eine revolutionäre Armee mit einem beschränkten Programm die Beschränkungen des Programms überwinden kann, solange sie echt revolutionär, unabhängig und im Kampf hegemonisch ist. On s’engage, et puis ... on voit.

In Lenins Position über die Perspektiven der russischen Revolution gab es einen Widerspruch zwischen den bürgerlich-demokratischen Aufgaben der Revolution und seiner proletarischen Führung. Das erste Element unterscheidet nicht zwischen dem Bolschewismus und dem Menschewismus, während das letztere macht es in einer grundsätzlichen Weise.

Die Bolschewiki wiesen dem Proletariat die Rolle des Führers in der demokratischen Revolution zu. Die Menschewiki beschränkten seine Rolle auf die Aufgaben einer „äußersten Opposition“. Die Bolschewiki definierten den Klassencharakter und die Klassenbedeutung der Revolution positiv, indem sie sagten: Eine siegreiche Revolution, das seit eine „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“. Die Menschewiki deuteten den Begriff der bürgerlichen Revolution stets so falsch, daß sie sich im Ergebnis mit einer untergeordneten und von der Bourgeoisie abhängigen Rolle des Proletariats in der Revolution abfanden. [21]

... die Sozialdemokraten ... rechnen voll und ausschließlich auf die Aktivität, das Klassenbewußtsein und die Organisiertheit des Proletariats, auf seinen Einfluß unter der Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten. [22]

Vom proletarischen Standpunkt geht die Hegemonie in einem Krieg zu dem, der am tatkräftigsten kämpft, der nie eine Chance verpaßt, einen Schlag gegen den Feind zu versetzen, der immer die Tat zum Wort anpaßt, der deshalb der ideologische Führer der demokratischen Kräfte ist, der halbherzige Politik aller Art kritisiert. [23]

Von der Unabhängigkeit und Hegemonie des Proletariats in der bürgerlichen Revolution ist es nur ein Schritt zu Lenins These, daß im Prozeß der Revolution daß Proletariat vielleicht die bürgerlich-demokratischen Einschränkungen überschreiten könnte: „Von der demokratischen Revolution werden wir sofort und genau entsprechend dem Maß unserer Kraft, der Kraft des klassenbewußten und organisierten Proletariats, damit anfangen, zur sozialistischen Revolution überzugehen. Wir stehen für ununterbrochene Revolution. Wir werden nicht halbwegs halten.“ [24]

Kurz gesagt, stellt zwei Antworten auf die Frage auf: Was passiert nach dem Sieg der Revolution? Die erste, die hauptsächlich in Zwei Taktiken und in seinen Schriften zwischen 1905 und 1907 zu finden ist, lautet, daß es eine Periode der kapitalistischen Entwicklung geben wird. Die zweite läßt sich folgendes zusammenfassen: Übernehmen wir die Macht und dann werden wir sehen.

Trotzki schätzte Lenins Position falsch ein, weil er sie nicht dialektisch begriff. Man muß die dynamischen Kräfte berücksichtigen, worauf Lenin sich verließ und die er gestaltete: der Kampf des Proletariats gegen den Zarismus und seine Komplizen, die liberale Bourgeoisie; der Kampf des Proletariats als Speerspitze der Bauernschaft; Die führende Rolle des Proletariats in einem bewaffneten Aufstand; die marxistische Partei, die um die Eroberung der Macht kämpft, usw. Im diesem Algebra der Revolution würde sich der reale Wert des unbekannten bzw. zweifelhaften Elements – wie weit die Revolution über das Mindestprogramm hinaus gehen würde – zum großen Teil durch die Dynamik des Kampfes selbst entscheiden lassen.

Vor allem führte Trotzkis geniale Fähigkeit zur anschaulichen abstrakten Verallgemeinerung ihn irre. Es gelang ihm nicht die Vorzüge des Bolschewismus nicht bloß vom Aspekt der verschiedenen Programme zu beurteilen, sondern auch vom Aspekt der hinter den Programmen gesammelten, organisierten und ausgebildeten Menschen. So findet man, daß in seinem gesamten Buch über die Geschichte der 1905er Revolution er die Bolschewiki bzw. Lenin nicht ein einziges mal erwähnt. Viel später gab er zu:

Während der Emigration zu keiner der beiden Fraktionen gehörig, unterschätzte der Autor indessen die kardinale Tatsache, daß bei den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bolschewiki und Menschewiki faktisch auf der einen Seite eine Gruppe unbeugsamer Revolutionäre, und auf der anderen Seite eine Gruppierung von mehr und mehr durch Opportunismus und Prinzipienlosigkeit zersetzten Elemente marschierte. [25]

Man muß sich auch daran erinnern, daß, was das Mißverständnis zwischen Trotzki und Lenin vergrößerte, Lenin selbst wahrscheinlich erst 1919 Perspektiven und Ergebnisse lies. Die erste Ausgabe von 1906 wurde von der Polizei beschlagnahmt. Es stimmt, daß er sich auf das Werk ein paar Mal bezog, aber die Tatsache, daß er es nie zitierte – und es war in seinen Polemiken seine Gewohnheit, zu zitieren und wieder zu zitieren – führt man zur Annahme, daß er es erst in der zweiten Ausgabe lies.

Zum Schluß können wir sagen, daß Lenins abstrakte, algebraische Formel der demokratischen Diktatur ins leben übertragen wurde in der Sprache der Arithmetik übertragen wurde und daß die gezogenen Schlußfolgerungen das Ergebnis der Gesamtsumme der Tätigkeit der Bolschewistischen Partei war, als sie die Arbeiterklasse führte.

 

 

Fußnote

1*. Dieser Aspekt von Trotzkis Theorie war eine Entwicklung von Marx’ Analyse der deutschen Revolution von 1848. Auch vor jener Revolution hatte das Kommunistische Manifest vorhergesagt, daß wegen der „fortgeschrittneren Bedingungen“ und des „entwickelten Proletariats“ Deutschlands „die deutsche bürgerliche Revolution ... nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein“ würde. Und nach der Niederschlagung der 1848er Revolution erklärte Marx, daß angesichts der Unfähigkeit der Bourgeoisie, die Revolution gegen den Feudalismus durchzuführen, die Arbeiterklasse für das Wachstum der bürgerlichen Revolution in die proletarische und der nationalen Revolution in die internationale kämpfen müßte. In einer Ansprache der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten (März 1850) sagte Marx: „„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch ... zum Abschlüsse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.“ Marx endete seine Ansprache mit der Phrase: „Ihr (der Arbeiter) Schlachtruf muß sein: die Revolution in Permanenz.“ [19]

 

 

Anmerkungen

1. Dan, a.a.O., S.332.

2. Lenin, Werke, Bd.8, S.279.

3. ebenda, Bd.9, S.43-4.

4. ebenda, S.84.

5. ebenda, S.44.

6. ebenda, S.9.

7. ebenda, S.14-5.

8. ebenda, S.102.

9. ebenda, S.13.

10. ebenda, Bd.21, S.19.

11. Lenin, Works, Bd.13, S.328.

12. Trotsky, 1905, S.35.

13. L. Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven, S.32-3.

14. ebenda, S.39.

15. ebenda, S.41.

16. ebenda, S.42-3.

17. ebenda, S.74

18. ebenda, S.77.

19. Marx u. Engels, Ausgewählte Werke, Bd.I, S.451; ebenda, Bd.II, S.130; ebenda, S.138.

20. Trotsky, 1905, S.316-7.

21. Lenin, Werke, Bd.13, S.103.

22. ebenda, Bd.8, S.12.

23. Lenin, Works, Bd.9, S.314.

24. ebenda.

25. L. Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven, S.92.

 


Zuletzt aktualisiert am 19.6.2001