Tony Cliff

 

Lenin 1

 

17. Die endgültige Spaltung mit den Menschewiki

 

Die Menschewiki schwenken nach rechts

Nach der Revolution, während deren sie sehr weit nach links waren, schwenkten die Menschewiki stark nach rechts. Bei der Stockholmer Einheitskongreß vom 10.-25. April 1906 war der linke Flügel, beeinflußt von Trotzki und Parvus, kaum zu bemerken. Wie Lenin es darstellte:

[Es] sprang ins Auge, daß unter den Menschewiki völlig jene Strömung fehlte, die im Natschalo klar heutzutage getreten war und die man in der Partei gewöhnlich mit den Genossen Parvus und Trotzki in Verbindung bringt. Zwar ist es möglich, daß es unter den Menschewiki „Parvusisten“ und „Trotzkisten“ gab – man hat mir beispielsweise versichert, es wären bis zu 8 Mann gewesen ... [1]

Lunatscharski erklärte die Kehrtwendung der Menschewiki so:

Die Menschewiki sind Impressionisten, Stimmungsmenschen, Augenblicksmenschen. Die Welle steigt an, es kommt der Oktober–November 1905 – und siehe da, das Natschalo läßt sich fortreißen, es tritt sogar bolschewistischer auf als die Bolschewiki. Es macht gleich den Sprung von der demokratischen Diktatur zur sozialistischen Diktatur. Die Flut ist verebbt und die Stimmung gesunken, die Kadetten sind gestiegen – die Menschewiki passen sich schleunigst der gesunkenen Stimmung an, sie rennen munter hinter den Kadetten her und tun die Oktober-Dezemberformen des Kampfes mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. [2]

Während 1905 waren Leute wie Plechanow und Martow Einzelgänger gewesen, die argumentierten, daß die Sozialdemokraten mehr „Takt“ den Liberalen gegenüber zeigen sollten. Jetzt während der Periode der Reaktion war die Haupttaktik des Menschewismus ein Bündnis mit den Kadetten. Ein Sprecher des Menschewismus, Rachmetow, stellte folgendes Argument für dieses Bündnis vor:

Es ist den Kadetten weitaus leichter möglich, auszuweichen und sich zu drehen und zu wenden, wenn man ihnen mit kompakter Abneigung entgegentritt, als wenn man mit dem Wunsch nach politischer Koalition zu ihnen kommt ... Mit dem Druck der öffentlichen Meinung auf die Kadetten (Resolutionen, Wähleraufträge, Petitionen und Forderungen, die der Duma zugeleitet werden, Organisierung von Protestversammlungen, Verhandlungen zwischen der Arbeitergruppe und den Kadetten) kann man viel mehr erreichen als mit unüberlegtem und darum zwecklosem Randalieren, um es kraß auszudrücken. [Lenins Hervorhebungen] [3]

In einem Artikel mit dem Titel „Der Kampf gegen die kadettisierenden Sozialdemokraten und die Partei Disziplin“, die im November 1906 geschrieben wurde, reagierte Lenin folgendermaßen: „Daß die Menschewiki Blocks mit den Kadetten zulassen, hat sie endgültig als opportunistischen Flügel der Arbeiterpartei ausgewiesen.“ [4]

Die standhafteste rechte Tendenz im Menschewismus war die des Liquidatorentums, das ihn in einer ähnlichen Weise beeinflußte, wie der Otzowismus und der Ultimatismus die Bolschewiki beeinflußten. Wo Bogdanow einen Fetisch aus der Illegalität machte und jeden Versuch verabscheute, legale Arbeit zu machen, versuchten die Liquidatoren, die Bewegung auf legale, offene Aktivitäten zu beschränken: Dumawahlen, parlamentarische Arbeit in der Duma, legale Gewerkschaften und legale Zeitungen, und unterstützten die Beschneidung [Kürzung] bzw. Liquidierung [Auflösung] der illegalen politischen Organisation und Tätigkeit. so erklärte A.N. Potressow, Redakteur der Nascha Sarja und neuer Sprecher der Liquidatoren, unverblümt Februar 1910: „Die Partei als integrierte und organisierte Hierarchie von Einrichtungen existiert nicht.“ In einem Kommentar über diese Ansicht erklärte eine andere Zeitschrift der Liquidatoren, Wosroshdenije, in ihrer Ausgabe vom 30. März 1910:

Es gibt nichts zu liquidieren, und – fügen wir [d.h. die Redaktion der Woroshdenije] von uns hinzu – der Traum, diese Hierarchie in ihrer alten, illegalen Form wiederherzustellen, ist einfach eine schädliche, reaktionäre Utopie, ist ein Zeichen dafür, daß den Vertretern der eins am realsten denkenden Partei jedes politische Fingerspitzengefühl verlorengegangen ist. [5]

In ähnlicher Weise schrieb der Menschewik B. Bogdanow: „Das Bestreben, mit der alten Illegalität zu brechen und das Gebiet wirklich offener gesellschaftlicher und politischer Tätigkeit zu betreten – das eben ist das neue, was auch die jüngste Etappe unserer Arbeiterbewegung charakterisiert.“ [6]

Martow ging einige Schritte in Richtung des Liquidatorentums mit seiner Forderung der Gleichberechtigung zwischen den legalen und den illegalen Parteiorganisationen. Seiner Meinung nach sollte die illegale Organisation hauptsächlich als Stütze für die legale Partei dienen.

eine mehr oder weniger fest definierte und einigermaßen zentralisierte konspirative Organisation ist jetzt sinnvoll (sehr sinnvoll) nur insofern, daß sie sich am Aufbau einer sozialdemokratischen Partei beteiligt, die notwendigerweise weniger definiert und ihre Hauptstützpunkte in offenen Arbeiterorganisationen hat. [7]

Lenin bemerkte über diese Vorstellung, daß sie

in Wirklichkeit zur Unterordnung der Partei unter die Liquidatoren führt, denn ein Legalist, der sich der illegalen Partei gegenüberstellt und sich mit ihr gleichberechtigt ansieht, ist nichts anderes als ein Liquidator. Die „Gleichberechtigung“ des von der Polizei gehetzten illegalen Sozialdemokraten mit dem Legalisten, der gesichert ist durch seine Legalität und seine Losgelöstheit von der Partei, ist in Wirklichkeit eine „Gleichberechtigung“ des Arbeiters mit dem Kapitalisten. [8]

... die illegalen Organisationen müssen entscheiden, ob die Legalisten in der Tat zur Partei stehen, d.h. [wir] lehnen speziell die „Theorie der Gleichberechtigung“ ab! [9]

Für Martow sollte der Untergrund bloß ein Minimalapparat sein, den man in Reserve hielt für Anwendung, wenn es zu einem erzwungenen Rückfall in die vollständige Illegalität kommen sollte. Für Lenin andererseits waren die legalen Aktivitäten bloß eine minimale Angelegenheit, deren Zweck darin bestand, den Operationsbereich der Partei im Untergrund auszubreiten. Die politischen Folgen, wenn man den Rücken zum Untergrund wenden sollte, würden zwangsläufig weitreichend sein. Es war selbstverständlich unmöglich, den Sturz des Zarismus in Veröffentlichungen zu befürworten, die vom Zensor gebilligt werden sollten. Deshalb hieß die Beschränkung der Partei auf legalen Aktionsformen, daß man das republikanische Prinzip so gut wie aufgeben müßte. Das war der erste Schritt in Richtung der Befürwortung der allmählichen Umwandlung des Zarenregimes zur konstitutionellen Monarchie, ein Wunsch, der von den Kadetten gehegt wurde.

Als er die Linksradikalen bekämpfte, war Lenin vorsichtig, die Gefahr zu betonen, daß man ins Liquidatorentum fallen, das Programm auf die Bedürfnisse der Legalität beschränken könnte:

... gerade die Verbindung der illegalen mit der legalen Arbeit erfordert von uns erst recht den Kampf gegen jede „Herabwürdigung der Rolle und Bedeutung“ der illegalen Partei. Gerade die Notwendigkeit, den Parteistandpunkt bei minder gewichtigen Anlässen, in beschneiderem Umfang, in Einzelfragen, in legalem Rahmen zu verteidigen, erfordert, besonders darauf zu achten, daß diese Aufgaben und Losungen nicht beschnitten werden, daß die Änderung der Form des Kampfes nicht dessen Inhalt beseitigt, nicht dessen Unversöhnlichkeit abschwächt, nicht die historische Perspektive und das historische Ziel des Proletariats entstellt ... [10]

In einem Bericht zur ausgedehnten Redaktion des Proletari (Juni 1909) rief er zum Kampf auf zwei Fronten auf – gegen die Linksradikalen und gegen die rechten Liquidatoren. Er befürwortete

... Kampf gegen das Liquidatorentum in seinen beiden Nuancen – das Liquidatorentum von rechts und das Liquidatorentum von links. die Liquidatoren von rechts sagen, daß eine illegale SDAPR nicht nötig sei, daß das Schwergewicht der sozialdemokratischen Tätigkeit ausschließlich oder nahezu ausschließlich auf die legalen Möglichkeiten gelegt werden müsse. Die Liquidatoren von links kehren die Sache um: Legale Möglichkeiten in der Tätigkeit der Partei gibt es für sie nicht. Illegalität um jeden Preis ist für sie alles. Die einen wie die anderen sind Liquidatoren der SDAPR, und annähernd in gleichem Maße, den ohne planmäßige, zielbewußte Verknüpfung der legalen und der illegalen Arbeit ist bei der jetzigen, uns von der Geschichte aufgezwungenen Lage der Dinge an eine „Erhaltung und Festigung der SDAPR“ nicht zu denken. [11]

Während Lenin bereit war, die Otzowisten aus der bolschewistischen Fraktion auszuschließen, war Martow, der im Grunde genommen ein Versöhnler war, dazu unfähig, einen unerbittlichen Kampf gegen die Liquidatoren zu führen, obwohl er gegen sie war.

 

 

Der Arbeiterkongreß

Eine Weise, die Partei zu liquidieren, bestand darin, sie durch eine breite Arbeiterpartei und deinen Arbeiterkongreß zu ersetzen. Larin, das Enfant terrible des Menschewismus befürwortete das in einer Broschüre mit dem Titel Eine breite Arbeiterpartei und der Arbeiterkongreß (Moskau 1906). „Die breite Arbeiterpartei soll, nach Larins Idee, ungefähr 900.000 von den insgesamt 9 Millionen russischen Proletariern erfassen. Das ‚Aushängeschild‘ muß heruntergenommen werden, d.h., sozialdemokratisch darf diese Partei nicht sein. Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre sollen sich verschmelzen. Die neue Partei soll eigentlich eine ‚parteilose Partei‘ sein. Die Sozialdemokraten ebenso wie die Sozialrevolutionäre sollen die Rolle von Propagandavereinen innerhalb der breiten Partei spielen.“ [12]

Vergleichbar sagte P.B. Axelrod, die graue Eminenz des Menschewismus:

Der Arbeiterkongreß wird den liquidatorischen Prozeß vollenden, der während der letzten paar Jahre stattgefunden hat, die Liquidation des alten Parteiregimes, das auf der überholten [veralteten] Basis des feudalen Staates und des hierarchischen soziopolitischen Regimes aufwuchs, und wird gleichzeitig den Anfang einer völlig neuen Epoche im historischen Leben der russischen Sozialdemokraten markieren, die Epoche der Entwicklung auf genau desselben Basis wie die sozialdemokratischen Parteien im Westen. [13]

Ein anderer Menschewik, N. Roshkow, schlug die Gründung einer offenen, friedlichen Arbeiterorganisation vor – eine „politische Vereinigung zur Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse“. [14]

Hier wird keinerlei Gewalt gepredigt, kein Wort, kein Gedanke an der Notwendigkeit eines gewaltsamen Umsturzes, da auch in der Wirklichkeit diese Notwendigkeit entfallen kann. sollte irgend jemand, verblendet durch reaktionäre Torheit, auf den Gedanken verfallen, die Mitglieder einer solchen „Vereinigung“, zu beschuldigen, sie erstrebten einen gewaltsamen Umsturz, so würde die ganze Schwere einer derartigen unsinnigen, unbegründeten, juristisch nichtigen Anschuldigung auf das Haupt des Anklägers zurückfallen! [15]

Lenin schrieb sehr umfangreich und heftig gegen die Vorstellung eines Arbeiterkongresses. Erstens argumentierte er, daß die Realpolitik der Liquidatoren in bezug auf den Arbeiterkongreß unrealistisch sei. So schrieb er Anfang Dezember 1911:

Es ist klar, daß die „Obrigkeit“ eine solche Vereinigung ... nicht genehmigen und daß sie ihr nicht gestattet wird, ‚wirklich in Tätigkeit zu treten“. Nur mit Blindheit geschlagene Liberale vermögen das nicht zu sehen ... Legale Gewerkschaften organisieren – wenn man dabei begreift, daß sie heute weder zu umfassenden noch zu „politischen“ noch zu dauerhaften Organisationen werden können – ist eine nützliche Sache. Liberales Zeug über eine politische Arbeitervereinigung propagieren, die keinen Gedanken an Gewaltanwendung hegt, ist Unfug und eine schädliche Sache. [16]

März 1912 wiederholte er das Argument:

Es ist selbstverständlich, daß unter den politischen Verhältnissen in Rußland, wo selbst die Partei der Liberalen – die Kadettenpartei – nicht legalisiert ist, die Bildung einer offenen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nichts als ein frommer Wunsch bleiben mußte. Die Liquidatoren schüttelten die illegale Partei von sich ab, blieben aber die Gründung einer legalen schuldig. [17]

Etwas später fragte er: Wo ist der Kongreß?

Wir sagen den Liquidatoren schon über ein Jahr lang: Genug der Worte, gründet doch eure „legale politische Vereinigungen“ wie die „Vereinigung zur Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse“ u.dgl.m. Genug der Phrasen, macht euch an die Arbeit.

Aber sie können nicht an die Arbeit machen, denn im heutigen Rußland kann man keine liberale Utopie verwirklichen. [18]

Gegen die Vorstellung eines legalen Arbeiterkongresses schlug Lenin die Vorherrschaft der illegalen Partei vor:

1. ... in der gegenwärtigen Epoche ist die illegale Partei als Summe von Parteizellen, die von einem Netz legaler und halblegaler Arbeitervereinigungen umgeben sind, der einzig richtige Typ des Organisationsaufbaus.

2. Unbedingt erforderlich ist die Anpassung der Organisationsformen des illegalen Aufbaus an die örtlichen Bedingungen. Vielfältige Formen zur Tarnung der illegalen Zellen und ein möglichst elastisches Vorgehen bei der Anpassung der Arbeitsformen an die örtlichen Bedingungen und Lebensverhältnisse sind das Unterpfand für die Lebensfähigkeit einer illegalen Organisation.

3. Das wichtigste unmittelbare Aufgabe auf dem Gebiet des Organisationsaufbaus besteht gegenwärtig darin, in allen Fabriken und Werken nur auf Parteibasis gebildete illegale Betriebskomitees zu schaffen, die sich aus den aktivsten Arbeitern zusammensetzen. Der gewaltige Aufschwung der Arbeiterbewegung schafft die Bedingungen, unter denen es an den weitaus meisten Orten möglich wird, wieder Betriebsparteikomitees zu schaffen und die bestehenden Komitees auszubauen.

4. ... jetzt durchaus ist die Notwendigkeit herangereift, aus den verstreuten örtlichen Gruppen in jedem Zentrum eine leitende Organisation zu schaffen. [19]

Selbstverständlich sollten revolutionäre Sozialisten für „Koalitionsfreiheit“ kämpfen, aber diese sollte ein wesentlicher Teil des Kampfes um den Sturz des Zarismus sein. Nicht auf die unmittelbare Verbindung zwischen der Teilreform und dem revolutionären Sturz des Zarismus, heiße, die Arbeiter zu betrügen, in den Liberalismus einzufallen.

Höchst wichtig ist der Hinweis, daß die Arbeiter die Presse-, Vereins-, Versammlungs- und Streikfreiheit unbedingt brauchen, aber gerade zu ihrer Verwirklichung muß man ihren unlösbaren Zusammenhang mit den allgemeinen Grundpfeilern der politischen Freiheit, mit der radikalen Änderung des ganzen politischen Systems begreifen. Nicht die liberale Utopie der Koalitionsfreiheit unter dem Regime des 3. Juni, sondern Kampf im Namen der Freiheit im allgemeinen und der Koalitionsfreiheit im besonderen gegen dieses Regime auf der ganzen Linie, gegen die Grundlagen dieses Regimes. [20]

Die Arbeiter fordern die Koalitionsfreiheit im Ernst und kämpfen deshalb für die Freiheit des ganzen Volkes, für den Sturz der Monarchie, für die Republik. [21]

Bedingungen während der Periode der Reaktion machte die Vorstellung, sich völlig auf legaler Arbeit zu konzentrieren, sehr anziehend [attraktiv]. Hunderte von Intellektuellen verlegten ihre Aktivitäten nach verschiedenen legalen Organisationen – Genossenschaften, Gewerkschaften, Bildungsvereinen, Beratungskomitees für die Dumafraktion usw.

Die Liquidatoren standen in vorderste Linie während der trostlosesten Jahre. „Sie litten weniger unter polizeilicher Verfolgung“, schreibt Olminski. „Sie hatten viele der Schriftsteller, einen großen Teil der Dozenten und im großen und ganzen die Mehrheit der Intellektuellen. Sie beherrschten die Szene und sie frohlockten sich darüber.“ Die Versuche der bolschewistischen Fraktion, deren Reihen sich mit jeder Stunde lichteten, seinen illegalen Apparat aufrechtzuerhalten, zerschlugen sich ständig gegen die feindseligen Umstände. Der Bolschewismus schien endgültig verloren. „Alle gegenwärtige Entwicklung“, schrieb Martow, „macht die Bildung irgendwelcher Art von dauerhafter Partei-Sekte zu einer pathetischen reaktionären Utopie.“ [22]

Lenin identifizierte Liquidatoren als Intellektuelle, die vom Untergrund weggelaufen waren:

Bei einzelnen konnte die Flucht aus der Illegalität von Müdigkeit und Depression herrühren. Solche Leute kann man nur bedauern; ihnen muß man helfen, sobald ihre Depression vorübergeht und sich bei ihnen eine Abwendung vom Spießertum, von den Liberalen und von der liberalen Arbeiterpolitik und eine Zuwendung zur proletarischen Illegalität bemerkbar macht. Wen aber die Müden und Deprimierten die Tribüne der Journalistik besteigen und ihre Flucht nicht für einen Ausdruck der Müdigkeit, der Schwäche, intellektueller Charakterlosigkeit erklären, sondern als ihr Verdienst hinstellen und dabei die Schuld auf die ‚aktionsunfähige“ oder „unnütze“ oder „abgestorbene“ usw. Illegalität schieben, dann werden diese Flüchtigen zu widerlichen Renegaten, abtrünnigen. Dann werden diese Flüchtigen zu den schlechtesten Ratgebern und insofern zu gefährlichen Feinden der Arbeiterbewegung. [23]

Ganz und gar nicht waren alle Menschewiki Liquidatoren. Im großen und ganzen jedoch haben die Menschewiki sie mindesten geduldet. Während Martow und Dann sie nicht unterstützten, verteidigten sie die Liquidatoren gegen die Angriffe der Bolschewiki in ihrer Zeitschrift Golos sotsial-demokrata, die in Paris veröffentlicht wurde. Gleichzeitig arbeiteten sie aktiv in der von den Liquidatoren veröffentlichten legalen Presse mit.

 

 

Die Frage der „Expropriationen“

Mit dem Rückgang der Revolution wurde die Frage, wo und wie man Gelder für die Partei bekommen sollte, immer dringender. Auch während 1905 war der bolschewistische Apparat sehr bescheiden. In ihrer Memoiren erzählt Krupskaja, daß wegen des Arbeitsdrucks ein anderer Sekretär, Michail Sergejewitsch Weinstein, und auch eine Sekretärassistentin, Vera Rudoffowna Menshinskaja, eingestellt wurden.

Michail Sergejewitsch war mehr für die militärische Organisation zuständig und war immer mit der Anträge von Nikititsch (L.B. Krassin) beschäftigt. Mir oblagen die Treffs, die Verbindungen mit den Komitees und mit den anderen Genossen. Man kann sich jetzt schwer vorstellen, auf welche primitive Weise das damalige Sekretariat des ZK arbeitete. An den Sitzungen des ZK nahmen wir, wenn ich mich richtig erinnere, gewöhnlich nicht teil. Niemand war für uns „zuständig“, Protokolle wurden nicht geführt, die chiffrierten Adressen bewahrten wir in Streichholzschachteln, in Bucheinbänden usw. auf. Wir mußten alles im Gedächtnis behalten. Eine Unmenge Menschen kam zu uns, wir mußten mit ihnen alles besprechen und sie mit allem Nötigen versehen: Literatur, Pässen, Instruktionen, Ratschlägen. Jetzt kann man sich gar nicht vorstellen, wie wir damals fertig wurden und wie wir, von niemandem kontrolliert, alles bestimmten und wie in „himmlischer Freiheit“ lebten. [24]

Und diese Drei-Mann-Sekretariat diente eine Partei, die 1907 46.143 Mitglieder hatte!

Den Angestellten der Partei wurde eine magere Beihilfe bezahlt. „Diejenigen Parteimitglieder, die ihre gesamte Zeit der Parteiarbeit widmeten bekamen eine sehr kleine Belohnung, manchmal so niedrig wie 3, 5 oder 10 Rubel monatlich und nie über 30 Rubel monatlich.“ [25] Zum Vergleich betrug der durchschnittliche Lohn während der Jahre 1903-05 28 Rubel.

Egal wie bescheiden der Parteiapparat war und egal wie niedrig der Lohn war, der den Angestellten der Partei bezahlt wurde, war Geld immer ein Problem. Während der Revolution wurde dieses Problem zum großen Teil durch die Spenden von reichen Anhängern [Sympathisanten] gelöst. Z.B. in der Moskauer bolschewistischen Organisation, die im Frühjahr 1905 etwa 1.000 Mitglieder hatte,

Die Buchführung des Komitees für Juni 1905 zeigt, daß es ein Gesamteinkommen von 9.891 Rubel hatte: wobei 1.013 Rubel übertragen worden waren ... Das Einkommen schließt mehrere sehr große Summen ein, 4.000 Rubel von einem „Freund“ und ein Beitrag von 3.000 Rubel „für Waffen“. Es ist bekannt, daß die Bolschewiki sehr viele reiche Sympathisanten hatte, einschließlich A.M. Gorki und dem Sohn eines Fabrikanten ... Die anderen individuellen Beiträge betrugen nur 1.378 Rubel. [26]

Im Oktober steigerten sich die großen Beiträge von reichen Sympathisanten: es gab zwei für 4.000 Rubel bzw. 8.400 Rubel von „Freunden“. [27]

Martow berichtete dieselbe Situation unter den Menschewiki. Während der revolutionären Periode

Die Etats der Parteiorganisationen waren enorm gestiegen ... Mitgliedsbeiträge spielten dabei nur eine sehr kleine rolle. Der Bericht des Kassierers des Parteikomitees in Baku zeigt, daß für Februar 1905 von Einnahmen in der Höhe von 1.382,8 Rubel nur 38,9 Rubel oder 3 Prozent aus Arbeiterbeiträgen entstanden. In einem Bereich der Parteigruppe in Riga für August kamen nur 143,4 Rubel aus 558,7 Rubeln oder 22 Prozent aus Arbeiterbeiträge. In einem Bericht des Sewastopoler Komitees kamen 14 Prozent aus Mitgliedsbeiträge; in den Berichten der Mariupoler Gruppe 33 Prozent usw. Wir finden, daß der höchste Prozentsatz aus Mitgliedsbeiträgen von der Gruppe der russischen Sozialdemokratie in Iwanowo-Wosnesensk kam, wo Mitgliedsbeiträge 53 der Gesamteinnahmen betrug. [28]

Eine der wichtigsten „Engel“ war A.M. Kalmykowa (Tantchen genannt), die die ursprünglichen Gelder gab, die für die Veröffentlichung der Iskra notwendig waren. Sie war eine reiche Buchhändlerin und Verlegerin, eine führende Verteilerin [Vertreiberin] von billigen populären Büchern und fortschrittlicher Literatur und eine enge Freundin von Krupskaja. Ein anderer war der große Textilmagnat, Morosow, der regelmäßig 2.000 Rubel monatlich den Bolschewiki durch den Ingenieur Krassin beitrug. (Morosow beging nach der Niederschlagung der 1905er Revolution Selbstmord.) Sein Neffe, N.P. Schmidt, auf den wir uns später beziehen werden, war auch ein größerer Spender.

Mit dem Angriff der Reaktion ließen fast alle reichen Sympathisanten die Partei im Stich. Lenins feines Gespür beim Geldanzapfen versäumte immer häufiger. Krupskaja, die nicht nur als Sekretärin der Bolschewiki fungierte, sondern auch als zentrale Kassiererin, beschwerte sich immer wieder über Geldmangel. Für Linien galt salus revolutionis suprema lex. Wenn notwendig, müssen Revolutionäre weiter in Richtung ihres Zieles krabbeln, auch durch den Schlamm. Er wurde nicht durch Pingeligkeit beim Gelderwerb beeindruckt. Der Fall der Schmidtschen Erbschaft liefert ein Beispiel seiner Haltung.

Ein Neffe Morosows, der dreiundzwanzigjährige Nikolai Pawlowitsch Schmidt, Besitzer einer Möbelfabrik im Stadtteil Presnja in Moskau, war völlig zu den Arbeitern übergegangen und Bolschewik geworden. Er gab die Mittel zur Herausgabe der Nowaja Shisn und zur Bewaffnung der Arbeiterschaft, der er nahestand und deren bester Freund er wurde.

Die Polizei nannte die Fabrik Schmidts das „Teufelsnest“. Im Moskauer Aufstand spielte diese Fabrik eine wichtige rolle. Nikolai Pawlowitsch wurde verhaftet, im Gefängnis furchtbar mißhandelt, dann zu seiner Fabrik geführt, um ihm zu zeigen, was man aus ihr gemacht hatte, und man zeigte ihm die getöteten Arbeiter: schließlich wurde er im Gefängnis ermordet. Vor seinem Tode war es ihm gelungen, die Außenwelt zu verständigen, daß er sein Vermögen den Bolschewiki vermache.

Die jüngere Schwester Schmidts, Jelisaweta Pawlowna Schmidt, der nach dem Tod des Bruders ein Teil des Vermögens zufiel, beschloß, es den Bolschewiki zu übergeben. Sie war jedoch noch nicht volljährig und mußte deshalb eine fiktive Ehe schließen, um nach ihrem Willen über ihr Geld verfügen zu können. Jelisaweta Pawlowna verheiratete sich also dem Genossen Ignatjew, der in der Kampforganisation arbeitete, aber seine Legalität bewahrt hatte. als seine Frau konnte sie mit Erlaubnis ihres Mannes über ihr Erbe frei verfügen. Es war nur eine fiktive Ehe, in Wirklichkeit war Jelisaweta Pawlowna die Frau eines anderen Bolschewiks, Viktor Taratutas. Durch ihre fiktive Ehe wurde die sofortige Auszahlung des Geldes möglich, das dann den Bolschewiki übergeben wurde. [29]

Trotzdem waren die Finanzen der Bolschewiki immer noch in großen Schwierigkeiten. Lenin entschied, „Expropriationen“ („Exen“) – bewaffneten Raub von Banken und anderen Einrichtungen – zu benutzen, um Gelder für die Partei einzutreiben. nach einer Reihe von „Exen“ erhoben die Menschewiki lautstarken Protest. Trotzki kritisierte Lenin scharf in der deutschen sozialdemokratischen Presse. Auch vielen Bolschewiki gefiel das unternehmen nicht. Beim Stockholmer Parteitag (1906) unterstützte eine Mehrheit von 64 Stimmen gegen 4 mit 20 Enthaltungen einen menschewistischen Beschluß, der „Exen“ verbot. Das bedeutete, daß bolschewistische Delegierte mit den Menschewiki gestimmt hatten.

In seinem ausführlichen Bericht über den Stockholmer Parteitag vermied Lenin jede Erwähnung des Beschlusses über bewaffneten Aktionen mit der Begründung, daß er während der Diskussion nicht anwesend gewesen sei. „Außerdem ist es nicht selbstverständlich eine prinzipielle Frage.“ [30] Es ist kaum wahrscheinlich, daß Lenins Abwesenheit zufällig war; er wollte einfach nicht, daß seine Hände gebunden würden.

Beim Londoner Parteitag Mai 1907, wo Lenin in fast allen anderen Fragen seine Position durchsetzte, wurde einen Beschluß gegen „Exen“ mit überwältigender Mehrheit angenommen. Eine Mehrheit der Bolschewiki stimmte mit den Menschewiki; „auf die Rufe: ‚Und Lenin? und Lenin?‘ hatte dieser geheimnisvoll gelächelt“ [31] und nutzte seine Position als Diskussionsleiter aus, um keine Stimme abzugeben.

In seinem Bericht über diesen Parteitag, zu dem er ein Delegierter war, versuchte Stalin, eine plausible Erklärung für diesen Beschluß in dieser lahmen Weise zu geben:

Von den Beschlüssen der Menschewiki wurde nur der über Guerilla-Aktionen angenommen, und das durch reinen Zufall: über diesen Punkt nahmen die Bolschewiki nicht den Kampf auf oder vielmehr wollten sie die Frage nicht zu einem Schluß kämpfen einfach aus dem Wunsch, „den menschewistischen genossen mindestens eine Gelegenheit zum Feiern zu geben“. [32]

In Wirklichkeit „nahmen die Bolschewiki den Kampf nicht auf“ nur deswegen, weil über diese Frage nicht nur die Menschewiki gegen sie waren, sondern auch die Polen und der Bund, wie auch viele Mitglieder der bolschewistischen Fraktion selbst.

Am 23. Juni, sechs Wochen nach dem Londoner Parteitag, und trotz seinem Beschluß führten Agenten von Lenin die kühnste Expropriation überhaupt durch – die der Tifliser Schatzkammer. Dieser Überfall erntete 341.000 Rubel, die ordnungsgemäß in die bolschewistische Kasse im Ausland übertragen wurde. Da aber der Erlös aus Banknoten von sehr hohen Beträgen bestand, war es nicht leicht, sie in ausländischen Banken auszutauschen, die vor derartigen Versuchen gewarnt worden waren. Mehrere wichtige Bolschewiki, einschließlich dem künftigen Kommissar für Außenangelegenheiten Litwinow, wurden in Westeuropa verhaftet, als sie versuchten, die Scheine zu wechseln.

Sowohl Trotzki als auch Martow prangerten die Bolschewiki stark beim Londoner Parteitag an und eine kurze Zeit später trugen sie ihre Anprangerung in die Spalten der sozialdemokratischen Presse Westeuropas hinein.

Wahrscheinlich war es Stalins Rolle als vorsichtiger, aber kühner Organisator der „Exen“, einschließlich der in Tiflis, die Lenin auf ihm aufmerksam machte. Unter den Genossen, die sich an den „Exen“ beteiligten, waren eineiige der feinsten Bolschewiki. Man denkt nur an Kamo (Semjon Arschakowitsch Ter-Petrosjan), der die Überfälle in Tiflis und einigen anderen Orten durchführte. Er erlaubte sich und den Mitgliedern seiner Bande genau 50 Kopeken pro Kopf pro Tag für den Unterhalt. Unter seinen Heldentaten waren eine Reihe von „Exen“, eine kühne flucht aus dem Tifliser Gefängnis und Waffenschmuggel in Rußland hinein. Er täuschte so erfolgreich den Wahnsinn in einem deutschen Gefängnis, daß trotz aller Art Folter er seine Gefängniswärter überzeugte und nach Tiflis ausgeliefert wurde. Er entkam, wurde wieder gefangen, wurde zum Tode verurteilt, aber seine Strafe wurde in lebenslänglichen Haft umgewandelt.

 

 

Spaltung, Spaltung, Spaltung

Nach dem Einigungsparteitag in Stockholm spitzte der Streit über die Dumawahlen in Petersburg zu. Als die Zeit für die Ernennung der Abgeordneten für Petersburg kam, erzwangen die Leninisten, die die Stadt fest in ihrem Griff hatten, ihre Kandidaten durch. 31 menschewistische Delegierte verfolgten jedoch die Anweisungen des unter menschewistischer Kontrolle stehenden Zentralkomitees, verließen die Stadtkonferenz und führten eine getrennte Provinzkonferenz durch, die sich für ein Bündnis mit den Kadetten entschied.

Lenin gab sofort eine Broschüre aus, die die Abspalter der Komplizenschaft mit den Kadetten „zum Verkauf von Arbeiterstimmen“ beschuldigte und weiter, daß „die Menschewiki mit den Kadetten gefeilscht haben, um mit Hilfe der Kadetten gegen den Willen der Arbeiter einen der ihren in die Duma zu schmuggeln“. Das war nicht nur eine Beschuldigung gegen die Abspalter, sondern auch gegen das Zentralkomitee der Partei. Es war wirklich ein offener Verstoß gegen die Parteidisziplin seitens Lenins. Er fand sich vor einem Parteigericht wegen eines Auftretens, das „für Parteimitglieder unzulässig ist“. [33] Er durfte drei Richter ernennen, während das Zentralkomitee weitere drei ernannte und die lettischen und polnischen Organisationen sowie der jüdische Bund je einen ernannten.

Die Verhandlungen sind nicht jetzt von großen Interesse, da sie durch einen Parteitag unterbrochen wurden, der die menschewistische Mehrheit stürzte und Lenin in die Kontrolle setzte. Aber Lenins Verhalten während der Verhandlungen ist sehr interessant, da es die unerbittliche Weise zeigt, wie er einen Fraktionskampf gegen den rechten Flügel der Partei führte.

Bei der Eröffnung der Verhandlungen gab Lenin gelassen zu, daß er eine “Formulierung“ benutzt habe, die unzulässig für Mitglieder einer einigen Partei“ sei [34], aber er entschuldigte sich keineswegs dafür. In Wirklichkeit verzögerte er nie im Kampf gegen die Liquidatoren und ihre Verbündeten in der Bewegung, die schärfsten Waffen zu benutzen, die er aufgreifen konnte. Die Mäßigkeit ist kein Merkmal des Bolschewismus.

 

 

Lenin schlägt eine Wiederannäherung [ein Rapprochement] mit Plechanow vor

Obwohl er absolut unerbittlich war, war er nie jemandem gegenüber nachtragend. Sobald er eine Bewegung seitens irgendeines seiner Gegner in Richtung einer Wiederannäherung bewegte er sich um sie zu begegnen. Ein typisches Beispiel betraf Plechanow.

Während 1908-09 sah Lenin eine Möglichkeit, die Partei neu aufzubauen, indem er bereit war, die Linksradikalen aufzuopfern und die Elemente unter den Menschewiki anzuziehen, die gegen das Liquidatorentum waren, d.h. diejenigen, die die Vorstellung des Aufbaus von Organisationen im Untergrund nicht aufgeben hatten. Der Führer dieser Gruppe war Plechanow.

Dezember 1908 verließ Plechanow die Redaktion der Golos Sotsialdemokrata, der Zeitung der Liquidatoren. Zur selben Zeit kündigte er seine Mitarbeit in der Redaktion des fünfbändigen Werkes Die soziale Bewegung in Rußland, die jetzt von Martow, Maslow und Potressow redigiert wurde. Er schrieb einen wütenden Angriff aus dieses Symposion in Dnewnik (Nr.9, 1909), worin er besonders einen Artikel von Potressow kritisierte, der das Argument für die Liquidatoren folgendermaßen stellte:

Kann denn im Sommer 1909 eine liquidatorische Strömung nicht als Phantom krankhafter Einbildung, sondern als wahre Realität bestehen, die das liquidiert, was sich schon nicht liquidieren läßt, was in Wirklichkeit als organisiertes Ganzes schon gar nicht mehr besteht. [35]

Plechanow antwortete:

Es unterliegt jedoch keinem Zweifel, daß ein Mensch, für den unsere Partei nicht existiert, ebensowenig für unsere Partei existiert. (Hervorhebung von Plechanow) Nunmehr werden alle ihre Mitglieder sagen müssen, daß Herr Potressow nicht ihr Genosse ist, und einige unter ihnen werden vielleicht aufhören, mich dessen zu beschuldigen, daß ich ihn schon längst nicht mehr für einen solchen gehalten habe. [36]

„Potressow hat die Fähigkeit ganz und gar verloren, das gesellschaftliche Leben ... mit den Augen eines Revolutionäres zu betrachten.“ Das Liquidatorentum, sagt Plechanow, führt in den „Sumpf des schändlichsten Opportunismus“. „Der junge Wein wird bei ihnen (den Liquidatoren) zu einem sauren Zeug, das gerade noch zur Zubereitung kleinbürgerlicher Essig taugt.“ Das Liquidatorentum „erleichtert das eindringen kleinbürgerlicher Tendenzen in die proletarischen Schichten“. „Ich habe des öfteren den Versuch unternommen, einflußreichen Genossen Menschewiki zu beweisen, daß sie einen großen Fehler begehen, wenn sie zuweilen bereit sind, Mit Herren, die mehr oder weniger stark nach Opportunismus riechen, gemeinsame Sache machen.“ „Das Liquidatorentum führt geradewegs in den unpassierbaren Sumpf des Opportunismus und der Sozialdemokratie feindlicher kleinbürgerlicher Bestrebungen.“ [37]

Nach dieser Erklärung schlug Lenin eine Versöhnung mit Plechanow vor. November 1909 forderte er

... die Annäherung der Parteitreuen aller Fraktionen und Teile der Partei ..., vor allem die Annäherung zwischen den Bolschewiki und den parteitreuen Menschewiki, Menschewiki vom Typ der Wiborger in St. Petersburg und die Plechanowleute im Ausland ... wir rufen alle Menschewiki, die offen gegen das Liquidatorentum zu kämpfen vermögen, die offen Plechanow zu unterstützen vermögen, und natürlich an erster Stelle und vor allen Dingen die menschewistischen Arbeiter dazu auf. [38]

In der Praxis ergab sich sehr wenig aus Lenins Bestrebung nach einer Zusammenarbeit mit Plechanow; die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen waren zu radikal. Die Tatsache, daß 1905 Plechanow am äußersten rechten Flügel der Menschewiki stand, daß er sich dem Aufstand entgegenstellte, weil er die Liberalen abschrecken würde und daß er Taktgefühl gegenüber den Kadetten forderte, beschränkte zu streng den Ausmaß dieses Experiments bei der Zusammenarbeit.

 

 

Lenin bekämpft die Versöhnler

Lenin kämpfte, um den Linksradikalismus in der bolschewistischen Fraktion zu überwinden, und führte einen Kampf gegen die menschewistischen Liquidatoren durch. Aber sobald er die wperjodistischen Bolschewiki ausgeschlossen hatte, entstand eine neue Quelle der Opposition innerhalb der bolschewistischen Fraktion: die Versöhnler oder, wie sie sich selbst nannten, die „Partei-Bolschewiki“. Die SDAPR war in Fetzen und so erschöpft, daß ihre Mitglieder die einfache Einheit forderten, eine Versöhnung zwischen dem Bolschewismus und dem Menschewismus und ein Ende aller fraktionellen Streiten.

Inzwischen begann Lenin, Unterstützung innerhalb der Fraktion zu verlieren, da viele führende Bolschewiki den Aufruf zu einer vereinigten Partei unterstützten. Die Versöhnler schlossen mehrere ein, die als Mitglieder bzw. Kandidaten des Zentralkomitees beim 5. Parteitag gewählt worden waren, besonders A.I. Rykow, W.P. Nogin, I.F. Dubrowinski, S.A. Losowski und G.J. Sokolnikow. [39]

Unter diesen Umständen konnten die menschewistischen Führer ein Plenum des ZK in Paris Anfang 1910 zusammenrufen. Lenin, der sich dem Treffen entgegenstellte, war dieses mal in einer Minderheit, nicht nur in der Gesamtpartei, sondern auch innerhalb seiner eigenen Fraktion. Der einzige prominente Bolschewik, der ihn gegen das Versöhnlertum unterstützte, war Sinowjew. (Ab dieser Zeit war Sinowjew Lenins engster Verbündeter, absolut vertraut, bis die Ereignisse von 1917 ihn unter eine schwere Probe stellten.)

Drei Wochen lang wurde Lenin schwer geschlagen. Er wurde zur Zustimmung gezwungen, das Schmidtsche Geld zu übergeben. Er mußte seine Fraktionszeitung Proletari auflösen und eine gemeinsame Zeitung mit den Menschewiki – Sotsial-Demokrat – zustimmen, wobei zwei Bolschewiki, Lenin und Sinowjew, sich mit den Menschewiki, Martow und dann, und einem Vertreter der polnischen Sozialdemokratie, Warski, vereinten. Trotzkis Wiener Zeitung Prawda wurde zum offiziellen Parteiorgan erklärt (Kamenew wurde nach Wien geschickt, um ihm beim Redigieren zu helfen) und das Zentralkomitee wurde angewiesen, sie finanziell zu unterstützen. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, während das Plenum die Liquidatoren mit Worten verurteilte, lud es sie gleichzeitig ein, sich am Parteileben zu beteiligen und drei aus ihren Reihen für das Zentralkomitee im Untergrund zu ernennen.

Trotzki ging so weit, daß er die Ergebnisse des Pariser Plenums als „das größte [großartigste] Ereignis in der Geschichte der russischen Sozialdemokratie“ bejubelte. [40] Lenins Haltung ist klar aus einem Brief, den er am 11. April 1910 an Gorki schrieb.

Beim ZK-Plenum (dem „langen Plenum“ – drei Wochen der Qual, alle Nerven gereizt, der Teufel los!) ... eine Stimmung der „Versöhnung im allgemeinen“ (ohne eine klare Idee mit wem, wofür und wie); Haß gegen die bolschewistische zentrale wegen ihres erbarmungslosen ideologischen Kampfs; Stänkerei seitens der Menschewiki, die Ärger suchten, und als Ergebnis – ein von oben bis unten mit Blasen volles Kind.

Und so müssen wir leiden. Entweder – bestenfalls – schneiden wir die Blasen auf, lassen wir den Eiter aus und heilen das Kind und ziehen es auf.

Oder –schlimmstenfalls – das Kind stirbt. Dann werden wir eine Weile kindlos (d.h. bis wir die bolschewistische Fraktion wieder gründen) und dann gebären wir ein gesünderes Kind. [41]

Die „Einheit“ wurde jedoch nie operativ, nicht so sehr wegen der Unnachgiebigkeit der Bolschewiki, sondern deswegen, weil die Menschewiki nicht bereit waren, ihre Seite der Abmachung in die Tat umzusetzen. Das Plenum von Januar 1910 verpflichtete die Bolschewiki dazu, nichts mit den Boykottisten zu tun zu haben. und die Menschewiki dazu, ihre Verbindungen mit den Liquidatoren abzubrechen. Lenin konnte leicht seinen Teil dieser Anweisung durchführen, da er schon Bogdanow, Lunatscharsky und die anderen Boykottisten aus dem bolschewistischen Lager ausgeschlossen hatte. Die Menschewiki fanden es jedoch unmöglich, ihre Pflicht zu erfüllen. Die Haltung der Liquidatoren war in ihren Reihen zu weit verbreitet. Wenn sie die Liquidatoren ausgeschlossen hätten, hätten sie die menschewistische Gruppe völlig zerstört und daß hätte den Bolschewiki zum Sieg in der Bewegung geholfen. Martow machte es etwas später deutlich, daß er nie vorhatte, diese Verpflichtung durchzuführen, und daß er die „Einheit“ zugestimmt hatte, weil die Menschewiki zu schwach waren um einen sofortigen Bruch zu riskieren. [42]

Der endgültige Schlag wurde versetzt, als die drei Liquidatoren, die zum Beitritt ins Zentralkomitee eingeladen worden waren, es rundweg ablehnten, etwas mit der Untergrundorganisation zu tun zu haben. Als die bolschewistischen „Versöhnler“, die in Rußland eine Mehrheit hatten, weitere Verhandlungen mit anderen Führern der Liquidatoren vorschlugen, ignorierte Lenin sie. Als Martow und An versuchten, ihre Ansichten im Sotsial-Demokrat, der Zeitung, die sie gemeinsam mit Lenin und Sinowjew redigieren sollten, zu veröffentlichen, wurden sie daran gehindert. (Warski stimmte in der Redaktion mit Lenin und Sinowjew.)

Es gelang auch nicht Trotzkis Prawda, als Zeitung der vereinigten Partei zu dienen. Als sein Versöhnungsversuch zusammenbrach, weil – wie er selbst erklärte – die Menschewiki es ablehnten, ihre Fraktion aufzulösen und die Liquidatoren zu entfernen, verurteilte Trotzki sie nicht, sondern „enthielt sich des Urteils“. [43] Kamenew konnte ihn nicht überzeugen, eine festere Haltung anzunehmen.

Ein anderer Faktor mischte gegen die Einheit der SDAPR ein – die zaristische Geheimpolizei. Ursprünglich war J.F. Dubrowinski der Hauptsprecher der Versöhnler, aber er wurde bald verhaftet und zum Selbstmord im sibirischen Exil getrieben. [44] Sein Platz als führender Versöhnler im Zentralkomitee wurde von Aleksei Rykow übernommen. Als Rykow nach Rußland fuhr, um die Bolschewiki gegen die Spaltertaktik Lenins zu organisieren, nahm die Polizei ihn auf der Straße sofort nach seiner Ankunft fest, bevor er irgend jemanden aus dem bolschewistischen Untergrund erreichen konnte. Die Polizei wußte Bescheid von ihrem Schlüsselmann, Malinowski, wo jeder in der bolschewistischen Führung politisch stand und wie sie sich daranmachen sollte, sie zu finden. „Die russische Polizei hatte zu jenem Zeitpunkt ein besonderes Interesse daran, die Bolschewiki, die für Uneinigkeit standen, zu unterstützen. Um eine vereinigte und deshalb gefährlichere Sozialdemokratie zu verhindern, bestanden die Anweisungen der Ochrana darin, sich auf die Verhaftung der Versöhnler zu konzentrieren.“ [45]

Die Menschewiki wütend über die Tatsache, daß Lenins Spaltertaktik mit der der Ochrana übereinstimmte. Die Ochrana hoffte, daß die Spaltung der Sozialdemokratie die Arbeiterbewegung schwächen würde; Lenin rechnete damit, daß sie die revolutionäre Arbeiterführung abhärten. Die Geschichte hat ihren Urteil verhängt; Das Komplott der Geheimpolizei trugen nicht die erhofften Früchte. [1*]

Wer nutzte wen aus? Diese Frage sollte wieder auftauchen. Als Feldmarschall Ludendorff, um den Kriegseinsatz Rußlands zu schwächen und Deutschlands Feinde zu spalten, es Lenin 1917 ermöglichte, nach Rußland durch Deutschland im „plombierten Zug“ zurückzureisen.

 

 

Lenins Sieg über die Versöhnler

Lenin berief Januar 1912 eine Konferenz in Prag ein, von der die Liquidatoren zwangsweise ausgeschlossen wurden. Die polnische und die lettische Partei, der jüdische Bund, Wperjod, Trotzki und Plechanow lehnte alle ab, sich daran zu beteiligen. Die 14 stimmberechtigten Delegierten (von denen 2 Polizeispitzel waren) vertraten 10 Parteikomitees in Rußland. Diese Konferenz wählte ein neues Zentralkomitee, die aus „Harten“ bestand, insgesamt sieben – Lenin, Sinowjew, Ordshonikidse, Goloschekin, Spandarian, Schwartzmann und Roman Malinowski (der Polizeispitzel). Kurz danach kooptierte das Komitee zwei weitere Mitglieder, J.W. Dshugaschwili (Stalin) und J.S. Belostoski. Fünf Mitglieder wurden entsandt, um innerhalb Rußlands zu arbeiten, einschließlich drei Kaukasiern: Ordshonikidse, Spandarian und Stalin.

Trotzki hatte nicht seine fixe Idee der Einheit unter allen sozialdemokratischen Gruppen aufgegeben, und als Reaktion auf Lenins Prager Konferenz überzeugte er die mit dem Organisationskomitee verbundenen Menschewiki, eine Konferenz aller Sozialdemokraten in Wien August 1912 einzuberufen. Er hoffte, daß wie 1905 der Aufstieg der revolutionären Stimmung in Rußland die Beschwichtigung zwischen den verschiedenen Tendenzen der Sozialdemokratie erzeugen würde. Er schrieb: „Es ist lächerlich und absurd zu bestätigen, daß es einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen den politischen Tendenzen der Lutsch und der Prawda gibt.“ [47] „Unsere historischen Fraktionen, der Bolschewismus und der Menschewismus, sind ursprünglich rein intellektuelle Gebilden.“ [48] [2*]

Er irrte sich jedoch katastrophal: die Kluft, die über die Jahre zwischen dem Bolschewismus und dem Menschewismus feste Form angenommen hatte, war zu tief, um zu überwinden, und das neue politische Erwachen könnte sie nur weiter vertiefen. Lenin erntete jetzt die Früchte seiner langen Anstrengungen. Seine Anhänger führten den Untergrund, während die Menschewiki aus einer Sammlung von losen gespalten Gruppierungen bestand. Die Bolschewiki lehnten es ab, sich an der Wiener Konferenz zu beteiligen. die Menschewiki, die linksradikalen ehemaligen Bolschewiki (Wperjodisten), der Jüdische Bund und Trotzkis Gruppe kamen zusammen und bildeten einen als den August-Block bekannten Bund. Trotzki war sein Hauptsprecher, der Lenin hartnäckig für „spalterische Taktik“ angriff. Dieser Bund fing an, sich aufzulösen, fast so schnell, wie er zusammenkam.

Nach der Prager Konferenz entschied Lenin Februar 1912 eine legale Tageszeitung zu veröffentlichen. Zum Entsetzen Trotzkis eignete er den Titel Prawda an. Die erste Ausgabe der bolschewistischen Prawda erschien am 22. April und sie wurde bis zum Ausbruch des Kriegs veröffentlicht, wobei sie eine zentrale Rolle im Aufbau der Bolschewistischen Partei spielte. Plechanow war für eine Zeitlang ein regelmäßiger Mitarbeiter. Bogdanow und die übrigen Mitglieder des Wperjod-Gruppe wurden eingeladen, Beiträge zu schreiben, aber mit der Ausnahme von Alexinski setzten sie diese Verbindung nicht lange fort. Die Fragen des „Ultimatismus“, des Otzowismus und auch des Machismus hatten bislang ihre unmittelbare Wichtigkeit verloren. Lenin war sehr froh, daß Plechanow und Alexinski für Prawda schrieben.

Er fand heraus, daß auch unter den „Harten“ er den Kampf gegen Versöhnung mit den Menschewiki und den Liquidatoren fortsetzen mußte. Drei Monate lang wurde das Wort „Liquidator“ sogar aus dem Wortschatz der Prawda gestrichen. „Aus diesem Grunde war Lenin so erregt darüber, daß die Prawda im Anfang die Polemik gegen die Liquidatoren aus seinen Artikeln hartnäckig strich. Er schrieb zornige Briefe an die Prawda.“ [49] „... Artikel von Lenin verschwanden mitunter, wenn auch selten, spurlos. Manchmal wurden Artikel von ihm zurückgehalten und erschienen nicht sogleich. Dann wurde er sehr nervös und schrieb wütende Briefe an die Prawda – aber das half wenig.“ [50]

In einem Brief an W.M. Molotow, dem Sekretär der Redaktion der Prawda am 1. August 1912 schrieb Lenin:

Sie schreiben, und als Sekretär offensichtlich im Namen der Redaktion, daß die Redaktion meinen Artikel „prinzipiell für durchaus annehmbar hält, und zwar einschließlich der Haltung gegenüber den Liquidatoren“. Wenn das so ist, warum streicht dann die Prawda aus meinen Artikeln und denen anderer Kollegen hartnäckig und systematisch jede Erwähnung der Liquidatoren heraus? [51]

Am 25. Januar 1913 schrieb er an die bolschewistischen Abgeordneten in der Duma:

Wir haben eine dummen und frechen Brief von der Redaktion bekommen. Wir antworten nicht. Sie sollten rausgeschmissen werden ... Die Abwesenheit von Nachrichten über den Plan für die Umorganisierung der Redaktion verursacht unter uns große sorgen ... Umorganisierung oder, noch besser, der vollständige Ausschluß aller alten ist absolut wesentlich. Absurd durchgeführt. Sie überschütten den Bund und Zeit mit Lob: es ist einfach entsetzlich. Sie können nicht die richtige Linie gegen Lutsch nehmen. Skandalös wie sie mit Artikeln umgehen ... Einfach ärgerlich ... Wir warten ungeduldig auf Nachrichten über das alle. [52]

Aber die Redaktion lieferte weiter Grund für Sorgen. Am 9. Februar schrieb Lenin an Swerdlow:

Die Ausnutzung des Den [konspirative Bezeichnung für die PrawdaAnm. d. Übersetzers] zur Information der klassenbewußten Arbeiter und für deren Arbeit (besonders des Petersburger Komitees) ist unter aller Kritik. Man muß Schluß machen mit der sogenannten „Autonomie“ dieser jämmerlichen Redakteure. Es ist nötig, daß Sie vor allem die Sache in die Hand nehmen ... die Redaktion in Ihre Hand nehmen ... Wenn die Sache richtig organisiert ist, wird sich auch die Arbeit des Petersburger Komitees entwickeln, das geradezu lächerlich hilflos ist, es nicht fertigbringt, ein Wort zu sagen, und alle Gelegenheiten verpaßt, an die Öffentlichkeit zu treten. An die Öffentlichkeit treten muß er aber fast täglich legal (im Namen „einflußreicher Arbeiter“ usw.) und wenigstens ein-, zweimal monatlich illegal. Ich wiederhole immer wieder: Der Angelpunkt der ganzen Situation ist der Den [die Prawda]. Hier kann man siegen und dann (nur dann) auch die örtliche Arbeit in Gang bringen. Andernfalls bricht alles zusammen. [53]

Das Zentralkomitee schickte Swerdlow nach Petersburg, um die Redaktion umzuorganisieren. [54] Lenin schrieb an ihn am 9. Februar 1913: „Heute lernten wir vom Anfang der Reformen bei der Prawda. Tausend Grüße, Gratulation und Wünsche für den Erfolg ... sie können sich nicht vorstellen, wie müde wir davon sind, mit einer absolut feindseligen Redaktion zu arbeiten.“ [55]

Die Lage wurde mehr oder weniger in der Weise beigelegt, wie Lenin wollte. Ein gemeinsame Tagung des Russischen Büros des Zentralkomitees und der Redaktion der Prawda erreichte eine Kompromißlösung: drei Mitglieder der bestehenden Redaktion sollten als Redakteure bleiben und Zusätzlich sollte Swerdlow, obwohl kein Mitglied der Redaktion, das Stimmrecht haben und das Recht, alle Artikel in der Zeitung zu zensieren. Dieser Kompromiß dauerte nicht lange, da Swerdlow weniger als drei Wochen später verhaftet wurde.

Die neue Redaktion, die offenbar von seiner Neigungen zu den Liquidatoren geheilt worden war, arbeitete am Anfang mehr oder weniger in Freundschaft mit Lenin. Gegen Ende Mai brachte jedoch eine andere Auseinandersetzung aus, dieses Mal, weil die Prawda in sich in die andere Richtung bewegte – zur Zusammenarbeit mit den Otzowisten. Am 26. Mai veröffentlichte sie eine Erklärung vom otzowistischen Führer Bogdanow, worin er versuchte, die Haltung seiner Gruppe zur Dumafraktion zu klären. Als Lenin ein Exemplar der Prawda bekam, war er wütend und schrieb einen Brief an die Redaktion.

Die Aktion der Redakteure in Hinsicht auf die Verzerrung der Geschichte der Partei durch den Herrn Bogdanow ist so skandalös, daß, um die Wahrheit zu erzählen, man nicht weiß, ob danach es möglich ist, ein Mitarbeiter zu bleiben ...

Ich fordere kategorisch, daß der beiliegende Artikel vollständig gedruckt wird. Ich habe immer den Redakteuren erlaubt, Änderungen in einer kameradschaftlichen Weise zu machen, aber nach dem Brief des Herrn Bogdanow, erteile ich nicht irgendwelches Recht, diesen Artikel zu ändern bzw. überhaupt etwas dieser Art damit zu machen [tun] ...

Ich bestehe auf einer sofortigen Antwort. Ich kann nicht weiter Artikel beitragen angesichts der abscheulichen Linie des Herrn Bogdanow.

Sie schickten ihm den Artikel zurück, das sie ihn zu stark fanden, aber stimme zu, nur eine Änderung zu machen – das Wort „Herr“ (gospodin) vor Bogdanows Namen fallenzulassen. Die Redaktion lehnte die Veröffentlichung ab – und der Artikel wurde bis 1939 unterdrückt. [56]

Lenin schrieb dann an Kamenew, um ihn zu bitten, etwas Druck auf die Prawda auszuüben und schickte ihn Januar 1914 nach Rußland, um die Position des Redakteurs zu übernehmen. Als gute Verhältnisse wieder einmal aufgenommen wurden – obwohl die Affäre Bogdanow noch nicht völlig vorbei war, den so spät wie Februar 1914 bekam Lenin immer noch Berichte über Unzufriedenheit in der russischen Partei über seine Behandlung von Bogdanow. [57] Unter der Leitung Kamenews als Chefredakteur stand Prawda auf gutem Fuß mit Lenin, bis die Zeitung Juli 1914 geschlossen wurde.

Versöhnung beeinflußte auch die bolschewistische Fraktion der Duma-Abgeordneten. Die sechs Abgeordneten, die für fast ein Jahr zwischen Dezember 1912 und September 1913 in Amt waren, waren mit Lenin nicht einer Meinung. Die Erste Sache, die sie nach ihrer Wahl machten, bestand darin, eine Vereinbarung mit den menschewistischen Abgeordneten zu treffen, daß sie sowohl für die Prawda als auch für den Lutsch der Liquidatoren schreiben würden. In einem in der Prawda veröffentlichten Sonderbeschluß bekannte sich der vereinigten Fraktion dazu, daß „die Einheit der Sozialdemokratie eine dringende Notwendigkeit ist“, äußerte sich zugunsten der Zusammenschmelzung der Prawda mit dem Lutsch und schlug als Schritt in diese Richtung, daß ihre Mitglieder Mitarbeiter der beiden Zeitungen werden sollten. Am 18. Dezember veröffentlichte Lutsch triumphierend die Namen von vier bolschewistischen Abgeordneten (zwei hatte abgelehnt) in seiner Liste von Mitarbeitern. Die Namen der sieben Mitglieder der menschewistischen Fraktion erschienen gleichzeitig im Impressum der Prawda. [58]

Bei einer Tagung in Krakau später im Dezember bestand Lenin darauf, daß die bolschewistischen Abgeordneten sich aus der Vereinbarung, beim Lutsch mitzuarbeiten, zurückziehen sollten, und die abgeordneten machten eine entsprechende Ankündigung, als die Duma wieder Ende Januar zusammentrat. Die Krakauer Tagung bestand jedoch auch darauf, daß die Fraktion Gleichheit mit der menschewistischen Fraktion worden sollte, der sie zahlenmäßig durch eine Stimme unterlegen waren und sie daher in der sozialdemokratischen Fraktion überstimmten. Die Dumafraktion hatte Bedenken über die Umorganisierung der Prawda, die sich darauf zielte, ihre versöhnlerischen Neigungen zu beenden. Sechs Monate später, im Juli 1913, schrieb Lenin, um sie noch einmal darauf zu drängen, Gleichheit mit den Menschewiki zu fordern, und er schlug vor, daß sie spalten sollten, falls dies abgelehnt werden sollte. [59] Keine Aktion wurde offensichtlich von den Abgeordneten unternommen und bei der Poroniner Konferenz im September wurde die Frage wieder mehr oder weniger mit demselben Wortlaut erklärt. [60] Diese war eine gemeinsame Konferenz des Zentralkomitees und der Funktionäre der Partei einschließlich den Duma-Abgeordneten. Danach stellten die Abgeordneten die Forderung, sie wurden überstimmt und die Fraktion spaltete sich. Dies beendete endgültig die brüderlichen Beziehungen zwischen den bolschewistischen und den menschewistischen Duma-Abgeordneten.

Malinowski spielte eine wichtige Rolle – eigentlich eine Doppelrolle – bei der Spaltung der Bolschewiki von den Menschewiki. Der General der Gendarmerie Spiridowitsch schrieb: „Malinowski, der die Befehle Lenins und des Polizeipräsidiums durchführte, erreicht Oktober 1913 – den endgültigen Streit zwischen den ‚Sieben‘ und den ‚Sechs‘.“ [61]

Die Tatsache, daß Lenin fast ein Jahr brauchte, um die bolschewistischen abgeordneten davon zu überzeugen, sich von den Menschewiki abzuspalten, zeigt ein Bild, das sich sehr vom allgemein angenommenen Bild des Bolschewismus als totalitärer Organisation unter seiner Diktatur unterscheidet. In Wirklichkeit mußte Lenin immer und immer wieder kämpfen, um seine eigenen Mitglieder zu überzeugen; man könnte sogar sagen, um seine eigenen Partei zu kolonisieren.

 

 

Fußnoten

1*. Lenin hatte keine Ahnung, daß Malinowski ein Agent der Ochrana war. Immer wieder lobte er ihn höchstens und verteidigte ihn heftig gegen die „Verleumdungen“ Martows.

Was hat die Nascha Rabotschaja Gaseta getan?

Sie hat anonyme Gerüchte und dunkle Anspielungen über eine angebliche Spitzeltätigkeit Malinowskis verbreitet ...

... schwatzen und klatschen, bei Martow (oder anderen, ihm ähnlichen schmutzigen Verleumdern) ein- und ausgehen und dunkle Gerüchte aufwärmen, Anspielungen erhaschen und weitergeben – oh, darin sind die Intellektuellen-Klatschbasen große Meister! Wer auch nur einmal in seinem Leben dieses Milieu der intrigierenden Intellektuellen-Klatschbasen kennengelernt hat, der wird gewiß (wenn er nicht selbst eine solche Klatschbase ist) sein ganzes Leben lang Abscheu vor diesen nichtswürdigen Kreaturen haben ...

Keine Spur von Vertrauen zu den „Gerüchten“ Martows und Dans, der feste Entschluß, ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken, ihnen keine Bedeutung beizumessen. [46]

2*. Wie wenig Trotzki vor 1917 die Rolle der Partei in der Revolution und die Stelle des Bolschewismus in der Geschichte verstand, ist vor allem aus seinem Buch Das Jahr 1905 deutlich. Im gesamten Buch bekommen weder die Bolschewiki noch Lenin eine einzige Erwähnung. Dieses Versäumnis erklärt, warum Trotzkis Epigonen nie dieses sehr interessante Werk vom Führer des St. Petersburger Sowjets veröffentlichten, obwohl weit weniger wichtige Schriften von ihm immer wieder veröffentlicht worden sind. Kaum eine Erwähnung des Buchs Das Jahr 1905 läßt sich in der Presse der Epigonen finden.

 

 

Anmerkungen

1. Lenin, Werke, Bd.10, S.323-4.

2. ebenda, S.372.

3. ebenda, Bd.11, S.43-4.

4. ebenda, S.314.

5. ebenda, Bd.16, S.244.

6. ebenda, Bd.17, S.149.

7. L. Martow, „Über das Liquidatorentum“, Golos sotsialdemokrata, August-September 1909, zit. in Getzler, a.a.O., S.125.

8. Lenin, Werke, Bd.16, S.153-4.

9. ebenda, S.153.

10. ebenda, S.147-8.

11. ebenda, Bd.15, S.435.

12. ebenda, Bd.12, S.390.

13. Shiwaja shisn 25. Juli 1913; zit. in Lenin, Collected Works, Bd.19, S.414-5.

14. N. R-kow, „Die gegenwärtige Lage Rußlands und die Hauptaufgabe der Arbeiterbewegung in der jetzigen Periode“, in Nascha Sarja, Nr.9/10, zit. in Lenin, Werke, Bd.17, S.311.

15. zit. in ebenda, S.312.

16. ebenda, S.246-7.

17. ebenda, S.532.

18. ebenda, Bd.18, S.388.

19. ebenda, S.450-1.

20. ebenda, S.410.

21. ebenda, S.232.

22. Trotsky, Stalin, S.111.

23. Lenin, Werke, Bd.19, S.389.

24. Krupskaja, a.a.O., S.157-8.

25. E. Yaroslavsky, History of the Communist Party, Moskau 1927, Bd.5, S.15.

26. Lane, a.a.O., S.108.

27. ebenda.

28. Martow, Geschichte der russischen Sozialdemokratie, S.133. (übersetzt aus dem Englisch)

29. Krupskaja, a.a.O., S.210.

30. Lenin, WO?

31. Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/M. 1974, S.193.

32. Stalin, WO?

33. Lenin, Werke, Bd.12, S.423

34. ebenda, S.427.

35. ebenda, Bd.17, S.485.

36. ebenda, S.486.

37. ebenda, Bd.16, S.6.

38. ebenda, S.93-4.

39. Zinoviev, a.a.O., S.162.

40. Prawda (Wien), 12. Februar 1910; zit. in Getzler, a.a.O., S.132.

41. Lenin, Works, Bd.34, S.420.

42. L. Martow, Spasiteli ili uprasdniteli?, Paris 1911, S.16.

43. Prawda, Wien, Nr.12, in I. Deutscher, The Prophet Armed, London 1954, S.195.

44. Sinowjew, a.a.O., S.244-5.

45. M.A. Zialowski (Hrsg.), Bolschewiki, Dokumenti po istorij bolschewisma 1903 po 1916 god biwschago moskowskago ochrannago otdelenija, Moskau 1918, S.48ff., zit. in O.H. Gankin u. H.H. Fisher, The Bolsheviks and the World War, Stamford University Press 1940, S.106.

46. Lenin, Werke, Bd.20, S.483-5.

47. Wo?

48. Wo?

49. Krupskaja, a.a.O., S.272.

50. ebenda, S.294.

51. Lenin, Werke, Bd.35, S.25.

52. Lenin, Works, Bd.43, S.335.

53. Lenin, Werke, Bd.35, S.57.

54. Eine Anmerkung in Lenin, Sotschinenija, 3. Ausgabe, Bd.16, S.696; zit. in Trotsky, Stalin, S.148.

55. Wo? Vielleicht wie vorletzte Anmerkung?

56. Lenin, Works, Bd.43, S.356.

57. ebenda, S.385–7.

58. Trotsky, Stalin, S.144.

59. Lenin, Werke, Bd.35, S.81-2.

60. s. ebenda, Bd.19, S.417–8.

61. Trotsky, Stalin, S.160.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.6.2001