John Molyneux

 

Marxismus und die Partei

 

5. Trotzkis doppelte Erbe

Es gibt zwei Aspekte zu Trotzkis Beitrag zur marxistischen Theorie der revolutionären Partei. Erstens gibt es seine Verteidigung der leninistischen Vorstellung der Partei, hauptsächlich durch das Mittel der Linken Opposition, gegen den theoretischen und praktischen Angriff, den Stalin und die stalinistische Bürokratie auf sie durchführte. Zweitens gab es seinen Versuch, die in der Gründung der Vierten Internationale ihren Höhepunkt erreichte, eine echte marxistische Alternative zur degenerierten Kommunistischen Internationale zu schmieden. Obwohl natürlich es eine Kontinuität zwischen diesen beiden Aspekten gibt, insofern der letzte folgerichtig aus der ersten wuchs, gibt es trotzdem einen qualitativen Unterschied dazwischen. Zur Periode der Linken Opposition stellte Trotzki der Stalinschen opportunistischen Politik eine konsequente revolutionäre Politik gegenüber. Mit dem Versuch, eine Vierte Internationale aufzubauen, mußte Trotzki jetzt seine Politik in einer eigenen Organisation verkörpern. Wegen dieses Unterschieds ist es sinnvoll unsere Studie der Trotzkischen Theorie der Partei in zwei Teilen zu trennen: die Verteidigung des Leninismus und die Vierte Internationale.

 

A. Die Verteidigung des Leninismus

Trotzki trennte sich von Stalin und der offiziellen Mehrheit der KPdSU über zwei Grundfragen: die bürokratische Degeneration des russischen Staats und die stalinistische Theorie des „Sozialismus in einem Lande“. Die beiden Fragen waren natürlich miteinander verbunden. Die Bürokratie entstand aus der Erschöpfung und der Zerstreuung des revolutionären Proletariats als Ergebnis der kumulativen Leiden des Ersten Weltkriegs und des Bürgerkriegs und der begleitenden ökonomischen Verwüstung, Hungersnot, Epidemien und physische Ausrottung. [1] Diese Bürokratie, die zum großen Teil aus Karrieristen, Verwaltern, die man vom alten Regime übernahm, ehemaligen Menschewiki und seit langem deklassierten Arbeitern bestand, wollte vor allem ein Ende zu den Umwälzungen, so daß die Geschäfte zu ihrem normalen Gang zurückkehren könnten. Sie hatten kein Interesse an etwas, das ihnen als das romantische und gefährliche Abenteuer der Weltrevolution schien. Daher war die Theorie des Sozialismus in einem Lande nicht bloß eine stalinistische Erfindung. Ganz im Gegenteil, „sie war der geanue Ausdrucki der Stimmung der Bürokratie: wenn diese vom Sieg des Sozialismus sprach, meinte sie damit ihren eigenen Sieg.“ [2]

Dies war dann ein Streit über Grundsätze, ebenso tief wie die Spaltung zwischen dem Kommunismus und der Sozialdemokratie. Er ging um zwei ganz unterschiedliche und gegensätzlich Vorstellungen des Sozialismus. Für Trotzki, wie für Marx und Lenin, bestand der Sozialismus aus einer klassenlosen, staatenlosen, selbstherrschenden Gemeinschaft, die sich auf einer Fülle an materiellen Güter stützte, worin „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. [3] Diktatur, staatliche Planung, Wirtschaftswachstum und -effizienz, eiserne Disziplin usw. waren Mittel zu diesem Zweck (Mittel, vor denen Trotzki nicht zurückschrak), aber nicht Zwecke an sich. Für Stalin, wie für die Bürokratie, deren wichtigster Vertreter er war, war der Sozialismus gerade mit der Verstaatlichung, sehr staatlichen Kontrolle und dem ökonomischen und militärischen Wachstum Rußlands zu einer Weltmacht in der ersten Reihe identifiziert. Von Trotzkis Standpunkt aus war ein gewisser Maß an Bürokratie vielleicht unvermeidlich, aber sie blieb eine immer vorhandene Gefahr, auf die man genau aufpassen müßte und auf die man sobald wie möglich verzichten sollte. Von Stalins Standpunkt aus war sie der wesentliche Kern und die Grundlage eines neuen Regimes. Trotzkis Vorstellung des Sozialismus vorausgesetzt, war die Aussicht auf seine Verwirklichung in einem Land – und noch dazu im rückständigen Rußland – eine reaktionäre Utopie. Stalins Vorstellung vorausgesetzt, war sie die einzige praktische und realistische Perspektive.

Da er ein Streit über Grundsätze war, dehnte sich dieser Konflikt bis zum Zeitpunkt aus, wo er auf jedes Ereignis und jede Politik im Leben der internationalen Arbeiterbewegung wirkte, einschließlich natürlich dem Wesen, der Rolle, der Strategie und der Taktik der revolutionären Partei und der revolutionären Internationale. Trotzkis Streiten mit Stalin über die leninistische Theorie der Partei kann man zwecks Klarheit unter zwei Rubriken behandeln: Parteidemokratie in der KPdSU und die Strategie der internationalen kommunistischen Parteien.

 

 

1. Parteidemokratie

Die allmähliche Bürokratisierung des Sowjetstaats bei der Abwesenheit einer energischen und politisch aktiven Arbeiterklasse erhob notwendigerweise die Frage der Bürokratisierung der Kommunistischen Partei und der Vernichtung ihrer innerparteilichen Demokratie. Denn, obwohl es eine formelle Trennung zwischen Staat (Sowjet) und Partei gab, waren die Bolschewiki in Wirklichkeit eine Staatspartei. Seit dem Bürgerkrieg hatte die Partei ein völliges politisches Monopol und Kontrolle über alle Schlüsselposten aufrechterhalten. Folglich, falls der Staatsapparat sich bürokratisierte, mußte es eine Auswirkung auf die Partei haben. Was daß so äußerst wichtig machte, war die Tatsache, daß die Partei als Avantgarde [Vorhut] des Proletariats mit ihrem Kern von unbestechlichen alten Bolschewiki, ihrer revolutionären Tradition, ihrer Regel über maximale Verdienste [4] und ihrer strengen Disziplin als das wichtigste Bollwerk gegen Bürokratie betrachtet wurde. Falls der Partei erläge, würde es wegen der Passivität der Arbeiter keine weiteren Verteidigungslinien geben. Im Jahre 1923 fühlte Trotzki, daß die Situation so ernst geworden war, daß er einen offenen Kampf um die Demokratie in der Partei mit einer Reihe von Artikeln für die Prawda eröffnen mußte, die zusammen den Titel Der neue Kurs hatten. [5]

Der Ton des Neuen Kurses ist vorsichtig und einige der Formulierungen sind zögernd, aber in vielen Hinsichten ist er eine ausgezeichnete Darstellung des Arguments für die Demokratie innerhalb der revolutionären Partei und ist von dauerhaftem Wert. Trotzki stellt die Frage der Demokratie nicht als abstraktes Recht, sondern erörtert ihre Notwendigkeit in der Entwicklung der Partei und der neuen historischen Stufe, in die die Partei eintrat. Erstens untersucht er die Beziehungen zwischen der alten und der neuen Generation (vor und nach Oktober) der Parteimitglieder. „Der Eroberung der Macht folgte ein rasches, sogar abnormes Wachstum der Partei.“ [6] Es gab einen Zustrom unerfahrener Arbeiter mit wenig Bewußtsein und bestimmter fremder Elemente, Funktionäre und Gefolgschaften. „In dieser chaotischen Periode konnte [die Partei] sein bolschewistisches Wesen nur dank der inneren Diktatur der alten Garde schützen, die im Oktober geprüft worden war.“ [7]

Aber seitdem hatte die Lage sich geändert. Jetzt müßte man die neue Generation, zugunsten der eigenen politischen Entwicklung und der Zukunft der Partei als Ganzes, aktiv ins politische Leben und den Entscheidungsprozeß der Partei. Dann schaut Trotzki die gesellschaftliche Zusammensetzung der Partei an und zeigt, wie die Notwendigkeit, Verwaltungsposten mit Arbeitern zu füllen, zur Schwächung „seiner Grundzellen, die Betriebskerne“ [8] führte, was eine wichtige Quelle des Bürokratismus bildete. Trotzki argumentiert für die Notwendigkeit der Stärkung der proletarischen Basis der Partei und für die Verwendung der Studenten und der Jugend als Kraft gegen die Bürokratie.

Über die Notwendigkeit der Demokratie schreibt Trotzki:

Der wesentliche unvergleichbare Vorteil unserer Partei besteht in seiner Fähigkeit, jeden Augenblick die Industrie mit den Augen des kommunistischen Maschinisten, des kommunistischen Spezialisten, des kommunistischen Leiters und des kommunistischen Händlers anzuschauen, die Erfahrung dieser einander ergänzenden Arbeiter zu sammeln, daraus Schlußfolgerungen zu ziehen und so ihre Linie für die Bestimmung der Wirtschaft im allgemeinen und für jedes Unternehmen im besonderen zu bestimmen. Es ist offensichtlich, daß solche Führung nur auf der Basis einer dynamischen und aktiven Demokratie innerhalb der Partei zuverlässig ist [9]

Diese Bemerkungen richteten sich auf eine Partei an der Macht und in einer spezifischen Lage, aber das darin enthaltene Prinzip, die Notwendigkeit der Demokratie für richtige Führung, ist von allgemeiner Gültigkeit.

Der Schwerpunkt der Antwort der Führung auf Trotzkis Kritik war eine empörte Verteidigung der großen Traditionen der alten Garde und eine Betonung auf der zwingenden Notwendigkeit der Einheit der Partei und den Gefahren des parteiinternen Konflikts [Fraktionalismus]. Trotzkis Antwort deutet darauf hin, daß „Tradition“ eine negative wie auch eine positive Seite in der revolutionären Bewegung hat. Er zitiert viele Beispiele, einschließlich dem Widerstand der Alt-Bolschewiki gegen Lenins Aprilthesen und er argumentiert, „die kostbarste grundsätzliche taktische Qualität [des Bolschewismus] ist seine unübertroffene Fähigkeit, sich rasch zu erörtern, die Taktik schnell zu ändern, seine Ausrüstung zu erneuern und neue Methoden zu verwenden, mit einem Wort, abrupte Wendungen durchzuführen“: [10] und keine Tradition, egal wie revolutionär, liefert an sich unfehlbare überhistorische Garantien gegen die Degeneration. Über die Frage der Fraktionen erkannte Trotzki die große Gefahr des parteiinternen Konflikts [Fraktionalismus] in der Situation und die Möglichkeit, daß Differenzen zwischen Fraktionen vielleicht rasch dazu kommen könnten, den Druck der gesellschaftlichen und Klassenkräfte zu widerspiegeln, die dem Proletariat feindselig gegenüberstanden, aber behauptet, daß eine undemokratische Partei an sich eine Ursache des parteiinternen Konflikts [Fraktionalismus] bildet.

Die leitenden Organe der Partei müssen der Stimme der breiten Parteimasse Gehör schenken, nicht jede Kritik als Zeichen des fraktionellen Geistes betrachten und dadurch pflichtbewußte und disziplinierte Kommunisten dazu treiben, eine diplomatische Stille zu bewahren oder aber sich als Fraktionen zu bilden. [11]

Das Wesen der Trotzkischen Argumentation im Neuen Kurs lautet:

Es ist durch Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten, daß die Ausarbeitung der öffentlichen Meinung der Partei unvermeidlich stattfindet. Diesen Prozeß nur innerhalb des Apparats zu lokalisieren, der dann beantragt wird, der Partei die Früchte seiner Arbeit in Form von Parolen, Befehlen usw. zu liefern, heißt, die Partei ideologisch und politisch zu sterilisieren. [12]

Gleichzeitig üben die Ansprüche der Autorität in der äußerst schwierigen objektiven Lage immer noch einen starken Griff über Trotzki aus. Während er die innerparteiliche Demokratie fordert, akzeptiert er nichtsdestotrotz: „Wir sind die einzige Partei im Lande und in der Periode der Diktatur könnte es nicht anders sein.“ [13] Und dadurch beteiligte Trotzki sich an der gegenwärtigen Praxis, daß man zur Ebene eines allgemeinen Prinzips das erhob, was man ursprünglich bloß als vorübergehende Maßnahme wegen der außerordentlichen Situation des Bürgerkriegs gedacht hatte. Max Eastman, ein ehemaliger Anhänger Trotzkis, sieht darin einen grundsätzlichen Widerspruch.

Trotzki ... gab kein Zeichen, daß er erkannte ..., daß die Ablehnung der demokratischen Rechte für diejenigen außerhalb der Partei sich nur dadurch erzwingen ließ, indem man früher oder später die gleichen Rechte für die Mitglieder der Partei selbst ablehnte. Denn das ist ein wahres Gesetz der Politik; jede ernsthafte Meinungsverschiedenheit in einer ernsthaften politischen Partei bedeutet einen Appell – direkt oder indirekt, explizit oder implizit, beabsichtigt oder unbeabsichtigt – an einen oder anderen Teil der Bevölkerung außerhalb der Partei. [14]

Das ist ein beträchtlicher Punkt, aber in Wirklichkeit unterminiert er nicht Trotzkis ganze Position. Es gibt keinen Zweifel, daß langfristig, „früher oder später“, die Diktatur der einen Partei zur Diktatur innerhalb der Partei führen wird, aber, wie Trotzki oft sagt, in der Politik ist die Zeit ein wichtiger Faktor. Von Trotzkis Standpunkt aus befaßten sich die Bolschewiki mit einer außerordentlich schwierigen und heiklen Aktion zur Schadensbegrenzung: zwischen dem „früher“ und dem „später“ gab es die Möglichkeit der Verstärkung durch die internationale Revolution.

Als Stalin seine despotische Kontrolle über die Partei und das Land ausdehnte und als seine Politik immer weiter vom revolutionären Marxismus abwich, so wurden die Aufrufe nach Parteidemokratie nachdrücklicher und die Opposition gegen Stalins organisatorische Methoden wurde unversöhnlich.

Das 1927er Plattform der gemeinsamen Opposition, das von Trotzki, Sinowjew und elf weiteren Mitgliedern des Zentralkomitees unterzeichnet wurde, enthält eine eindringliche Anklage gegen das Parteiregime:

Die letzten paar Jahre haben eine systematische Abschaffung der innerparteilichen Demokratie bezeugt – einen Verstoß gegen die ganze Tradition der Bolschewistischen Partei, einen Verstoß gegen die direkten Entscheidungen einer Reihe von Parteitagen. Die echte Wahl von Funktionären stirbt in der wirklichen Praxis aus. Die organisatorischen Prinzipien des Bolschewismus werden zu jedem Schritt pervertiert. Die Parteisatzung wird systematisch geändert, um den Ausmaß der Rechte an der Spitze zu steigern und die Rechte des Basisorganisationen zu vermindern.

Die Führung der regionalen Komitees, der regionalen Vorstände, der regionalen Gewerkschaftsräte usw. sind in Wirklichkeit nicht abwählbar ... Das Recht jedes Parteimitglieds, jeder Gruppe von Parteimitgliedern, „ihre radikalen Meinungsverschiedenheiten beim Gericht der ganzen Partei Berufung einzulegen“, [Lenin] wird in Wirklichkeit annulliert. Kongresse und Konferenzen werden ohne eine vorbereitende freie Diskussion (wie immer unter Lenin passiert ist) aller Fragen durch die ganze Partei einberufen. Die Forderung nach einer solchen Diskussion wird als Verstoß gegen die Parteidisziplin behandelt ...

Das Aussterben der innerparteilichen Demokratie führt zum aussterben der Arbeiterdemokratie im allgemeinen – in den Gewerkschaften und in allen anderen nichtparteilichen Massenorganisationen. [15]

In diesem Plattform haben die Analyse, die Warnungen und die Vorschläge des Neuen Kurses sich zu programmatischen Forderungen herauskristallisiert: Vorbereitung auf dem 15. Kongreß auf der Basis der wirklichen innerparteilichen Demokratie; jeder Genosse bzw. Gruppe von Genossen sollte eine Gelegenheit dazu haben, ihren Standpunkt vor der Partei zu verteidigen; die Verbesserung der gesellschaftlichen Zusammensetzung, indem man nur Arbeiter aus den betrieben und vom Land in die Partei einläßt; die Proletarisierung und die Schrumpfung des Parteiapparats; die sofortige Wiedereinsetzung der ausgeschlossenen Oppositionellen; die Neugestaltung des Zentralkontrollkomitees unabhängig vom Apparat. Aber zu dieser Etappe finden die Verurteilungen und die Forderungen immer noch im Rahmen der absoluten Treue gegenüber der Kommunistischen Partei Rußlands und der Annahme ihres politischen Monopols.

Wir werden mit all unserer Kraft gegen die Bildung zweier Parteien kämpfen, die die Diktatur des Proletariats verlangt als ihren wahren Kern eine einzige proletarische Partei. [16]

Bis 1933, nach der Paralyse der Komintern vor Hitler (siehe unten) und die vollständige Beseitigung aller Opposition und Kritik in Rußland, gab Trotzki diese letzte Einschränkung auf. Nachdem er erklärt hatte, daß Lenins Bolschewistische Partei völlig von Stalin zerstört worden war, rief er zum erneuten Aufbau von revolutionären Parteien und zum Sturz der Bürokratie durch die politische Revolution. In 1936 konnte Trotzki in seinem größeren Werk, Die verratene Revolution, eine völlig eindeutige Darlegung seiner Ansichten über Parteidemokratie machen:

Das Charakteristikum des inneren Regimes der bolschewistischen Partei war der demokratische Zentralismus. Die Verbindung dieser beiden Begriffe hat nichts Widersprüchliches an sich. Die Partei wachte scharf darüber, daß ihre Grenzen stets fest umrissen blieben, aber auch darüber, daß diejenigen, die ihr angehörten, wirklich das Recht genossen, die Richtung der Parteipolitik zu bestimmen. Freiheit der Kritik und Kampf der Ideen bildeten die Substanz der Parteidemokratie. Die heutige Doktrin, der Bolschewismus vertrage sich nicht mit Fraktionen, ist ein Mythos aus der Verfallsepoche. In Wirklichkeit ist die Geschichte des Bolschewismus eine Geschichte von Fraktionskämpfen. Wie könnte eine wirklich revolutionäre Organisation, die sich zum Zoel setzte, die Welt aus den Angeln zu hebeln, und mutige Neinsager, Aufrührer und Kämpfer um ihr Banner schart, wohl ohne den kampf der Ideen, ohne Gruppierungen und zeitweilige Fraktionsbildungen leben und sich entwickeln? Durch ihren Weitblick konnte die bolschewistische Führung die Zusammenstöße oft mildern und den Fraktionskampf abkürzen, aber auch nicht mehr. Auf diese ständig kochende demokratische Basis stützte sich das Zentralkomitee; daraus resultierte seine Kühnheit zur Entscheidung und zum Befehl. Daß die Führung in allen kritischen Etappen im Recht war, verschaffte ihr hohe Autorität, dies wertvolle moralische Kapital des Zentralismus.

Das Regime der bolschewistischen Partei war demnach, vor allem in der Zeit vor der Machtübernahme, das direkte Gegenteil des Regimes der heutigen Kominternsektionen mit ihren von oben ernannten „Führern“, die auf Kommando kehrtmachen, mit ihrem unkontrollierten Apparat, der sich der Basis gegenüber hochmnasig gibt und vor dem Kreml kriecht. [17]

Trotzki stellt nicht nur die ursprüngliche bolschewistische Position über Fraktionen wieder her, sondern bricht auch mit der Doktrin des Einparteienstaats.

Ursprünglich wünschte und hoffte die Partei, im Rahmen der Sowjets die Freiheit des politischen Kampfes aufrechtzuerhalten. Der Bürgerkrieg korrigierte diese Absichten mit harter hand. Die Oppositionsparteien wurden eine nach der anderen verboten. In dieser Maßnahme, die so deutlich dem Geist der Sowjetdemokratie widersprach, Sahen die Führer des Bolschewismus nicht ein Prinzip, sondern einen episodischen Akt der Selbstverteidigung. [18]

Er lehnt die Identifizierung der Klassendiktatur mit der Parteiendiktatur ab.

... da eine Klasse viele „Teile“ hat – die einen schauen nach vorwärts, die anderen rüwärts –, kann ein und dieselbe Klasse mehrere Parteien hervorbringen. Aus demselben Grunde kann eine einzige Partei sich auf Teile verschiedener Klassen stützen. Ein Beispiel, wo einer Klasse nur eine Partei entspr6auml;che, ist in der gesamten politischen Geschichte nicht zu finden, vorausgesetzt natürlich, daß man nicht den polizeilichen Anschein für die Wirklichkeit hält. [19]

Und das 1938er Programm der Vierten Internationale erklärt: „Die Demokratisierung der Sowjets ist undurchführbar ohne die Zulassung der Sowjetparteien. Die Arbeiter und Bauern selbst werden durch ihre freie Stimmabgabe zeigen, welche Parteien sowjetisch sind.“ [20]

Wenn man die Leistungen des Trotzkischen Kampfes um die Arbeiterdemokratie in der Kommunistischen Partei Rußlands und im russischen Staat betrachtet, ist es klar, daß er viele Fehler machte. Im nachhinein kann man sagen, daß er seinen Widerstand früher hätte anfangen sollen, daß es Zeiten gab, wo er eine Tugend aus der Notwendigkeit machte, daß 1923-24 er energischer und konsequenter hätte kämpfen sollen, daß er sich früher an die Basis der Partei und früher an die Masse der Arbeiter selbst hätte wenden sollen. Viele dieser Kritiken sind vielleicht gerechtfertigt, aber sie sind auch einseitig, denn sie die immensen Schwierigkeiten der Lage außer acht lassen, vor der Trotzki stand, insbesondere die tiefe Passivität der russischen Arbeiter, einschließlich der Mehrheit der Parteimitglieder, während dieser Periode. Trotzki betrachtete es auch offensichtlich die Pflicht der Revolutionäre in Abwesenheit einer bestehenden Alternative der Partei der Revolution bis zum letzten möglichen Augenblick treu zu bleiben. Diese war eine gewichtige Überlegung, die viel leichter abzutun ist, wenn die Degeneration ihren Lauf genommen hat, als mitten im Kampf. Eine ausgewogene Ansicht muß die massive Errungenschaft Trotzkis anerkennen, wie er die marxistische und leninistische Tradition der Parteidemokratie, der Partei als kollektiven und lebenden Organismus mit geringen Chancen verteidigte und wahrte, ohne daß er wie so viele andere entweder in eine sozialdemokratische oder in eine anarchistische Ablehnung des demokratischen Zentralismus und der Avantgarde-Partei zusammenbrach.

 

 

2. Die Strategie der internationalen Kommunistischen Parteien

Die Theorie des Sozialismus in einem Lande wurde zum ersten Mal von Stalin im Herbst 1924 erklärt, was ein Verstoß gegen alle Traditionen des Marxismus war. Die unmittelbarsten Auswirkungen waren nicht auf Rußland selbst, sondern auf die Kommunistische Internationale und die Strategie der Kommunistischen Parteien überall in der Welt. Solange das Überleben der Revolution mit dem Erringen der Weltrevolution verbunden wurde, bestanden die konkreteste Form der Solidarität mit Rußland und die erste Pflicht jeder „ausländischen“ Partei darin, die Revolution im eigenen Land durchzuführen. Aber als es einmal für möglich gehalten wurde, den Sozialismus in Rußland allein aufzubauen, wurde die Weltrevolution nicht eine Notwendigkeit, sondern ein Extra, und die Rolle der Komintern wurde in den Augen Moskaus die Versicherung, daß kein Unheil diesen Prozeß des „sozialistischen“ Aufbaus unterbrechen würde. In dieser Weise verwandelte man die Kommunistischen Parteien von Mitteln der Arbeiterrevolution zu Vertretern der Außenpolitik der russischen Bürokratie. diese Verwandlung bedeutete unvermeidlich eine Reihe von Abweichungen von den leninistischen Traditionen der revolutionären Politik und ihre Revision. Der Hauptverteidiger dieser Traditionen war Leo Trotzki. [21]

Es ist hier unmöglich, alle Fragen der Parteistrategie zu behandeln, worüber Trotzki sich mit Stalin stritt, aber vier Beispiele werden dazu dienen, Trotzkis Beitrag zur Theorie der Partei in diesem Bereich zu veranschaulichen.

Trotzki stellte sich von Anfang an Stalins Politik entgegen, daß die Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) sich dem bürgerlich-nationalistischen Kuomintang unterordnen sollte, was zur blutigen Niederschlagung der Chinesischen Revolution in 1927 führte. Er bestand die ganze Zeit hindurch auf dem leninistischen Prinzip der völligen organisatorischen und politischen Unabhängigkeit der revolutionären Partei.

Ebenso stellte er sich der Zusammenarbeit mit der Führung des britischen TUC [1*] im Anglo-Sowjetischen Gewerkschaftskomitee entgegen, die die Unabhängigkeit der KP Großbritanniens kompromittierte und führte dazu, daß sie unkritisch gegenüber der „linken“ Gewerkschaftsführern war, die den Generalstreik verrieten.

Trotzki führte auch eine Brillante und prophetische Kritik der stalinistischen Politik in Deutschland zwischen 1929 und 1933 durch. Die KPD, die mit Stalins Theorie des „Sozialfaschismus“ arbeitete, behandelte die Sozialdemokraten als den Hauptfeind und spielte die Gefahr des Faschismus herunter. Gegen diese katastrophale Strategie bestand Trotzki auf der dringenden Notwendigkeit einer Einheitsfront der Arbeiterparteien gegen Hitler.

Letztens demonstrierte Trotzki die verhängnisvolle Schwäche der Volksfrontstrategie, die 1934 angenommen wurde, die die Arbeiterklasse und ihre Partei zur Bourgeoisie verband und die zu weiteren Niederlagen in Spanien und Frankreich führte. [22] Diese Kritik ist heute besonders relevant, da eine Variante der Volksfrontstrategie oder die andere jetzt die Politik fast jeder KP überall in der Welt ist und wir vor kurzem eine Wiederholung ihrer vollen tragischen Folgen in Chile gesehen haben.

Als Ganzes genommen bildete die stalinistische Periode eine anhaltende Verdrehung und Verzerrung der leninistischen Theorie der Partei bis zum Punkt, wo sie in ihr Gegenteil verwandelt wurde. Von einer Theorie der Auswahl und der Organisation einer revolutionären Avantgarde [Vorhut] des Proletariats wurde sie zum Mythos der Unfehlbarkeit, der dazu diente, jede Form der bürokratischen Manipulation und des zynischen Verrats zu rechtfertigen. So erfolgreich war dieser Vorgang, daß die leninistische Theorie der Partei und die stalinistische, die in der Praxis so unterschiedlich sind, allgemein in den Augen der Öffentlichkeit als eine und dieselbe identifiziert wurden. Hohen die unermüdliche Arbeit von Trotzki wäre diese Identifizierung vielleicht ohne wirksame Herausforderung in der marxistischen Bewegung durchgegangen und der echte Leninismus wäre unter einem Lügenberg begraben worden.

 

 

B. Die Vierte Internationale

Trotzkis Verteidigung der leninistischen Theorie der Partei als wesentlichen Bestandteil seiner Verteidigung des Marxismus und des Leninismus als Ganzes war eine riesige Errungenschaft, aber nicht eine, mit der er zufrieden sein konnte. Seit der Jahrhundertwende hatte er sich für die internationale proletarische Revolution engagiert, und als er einmal davon überzeugt war, daß die stalinisierte Kommunistische Internationale nicht mehr dieses Ziel erringen könnte, hatte keine andere Wahl als den Versuch, selbst eine neue Organisation aufzubauen. Der totale Zusammenbruch der KPD vor Hitler und das Versäumnis einer einzelnen Sektion der Komintern dabei, gegen die offizielle Linie zu protestieren, überzeugten Trotzki dazu, diesen Kurs zu unternehmen.

Eine Organisation, die nicht durch den Donner des Faschismus erweckt wurde und die sich unterwürfig solcher unverschämten Taten der Bürokratie unterordnet, demonstriert [zeigt] dadurch, daß sie tot ist und nicht wiederbelebt werden kann. [23]

Ebenso wie Lenin nach der Kapitulation der Zweiten Internationale am 4. August 1914 sich sofort für eine Dritte Internationale erklärte, so gab Trotzki 1933 den Aufruf für die Vierte Internationale aus.

 

 

1. Der Kampf um die Vierte Internationale

Trotzkis Anhängerschaft war 1933 sehr beschränkt und es kam überhaupt nicht in Frage, die neue Internationale sofort zu gründen. Statt dessen sollte sie allmählich aufgebaut werden. Leider waren die objektiven Umstände dafür äußerst ungünstig. Obwohl Lenin am Anfang des Ersten Weltkriegs äußerst isoliert war, hatte er mindestens den Vorteil einer soliden nationalen Basis in der Gestalt der Bolschewistischen Partei. Trotzdem konnte die Dritte Internationale erst zwei Jahre nach dem Sieg der Russischen Revolution gegründet werden. Trotzki hatte keine solche Basis, noch sollte er einen zweiten Sieg der proletarischen Revolution während seines Lebens sehen. Ganz im Gegenteil, die 1930er Jahre waren eine Periode der tiefsten Niederlagen für die Arbeiterklasse, die mit der Vernichtung des deutschen Proletariats (der totalsten und beschämendsten Niederlage eine militanten klassenbewußten Arbeiterklasse in der Geschichte) anfing. Faschistische bzw. ähnliche Regimes beherrschten schon Mitteleuropa und darauf folgte der Triumph Francos in Spanien. Inzwischen, während der ganzen 1930er Jahre, zehrten die Depression und die langfristige Arbeitslosigkeit an der Kampfkraft und schwächten die Organisation der Arbeiter überall.

Zusätzlich zu diesem allgemeinen Bild der schwarzen Reaktion gab es bestimmte spezifische Faktoren, die gegen das Wachstum des Trotzkismus bewirkten. Die schreckliche Gefahr des Faschismus schuf einen riesigen Druck unter Arbeitern für den Zusammenschluß der Reihen, für die Einheit vor dem Feind und gegen neue Spaltungen. Kombiniert mit diesem Druck zur Einheit war das Gefühl der Notwendigkeit, irgendeinen Verbündeten zu haben, irgendeine große militärische Macht, die Hitler begegnen könnte, und das hieß das Sowjetische Rußland. Die Macht Stalins zugunsten der winzigen Kräfte des Trotzkismus aufzugeben, war äußerst schwierig. In dieser Weise half eigentlich Hitler Stalin und dem Stalinismus innerhalb der Arbeiterbewegung.

Dann gab es die Tatsache, daß Trotzki einer historisch beispiellosen Kampagne der Verunglimpfung und der Verleumdung innerhalb der Arbeiterbewegung ausgesetzt wurde. Die Beschuldigung, daß Trotzki und alle anderen Angeklagten bei den Moskauer Prozessen Agenten von Hitler und dem Mikado seien, ist und war offenkundig absurd, und doch war die Macht „der großen Lüge“ so, daß Millionen Menschen überall in der Welt sie glaubten. Noch waren es bloß hartgesottene Kommunisten, die Verleumdung akzeptierten, daß Trotzki Faschist sei. Viele Künstler und Intellektuelle aus dem Westen, z.B. Romain Rolland, stimmten in die Beschuldigung ein. Andere wie Bernard Shaw oder André Malraux, die den Druck der Volksfront spürten, machten zweideutige Aussagen oder schwiegen. So wurde Stalins großes abgekartetes Spiel kurzfristig sehr erfolgreich. Erstens machte es sicher, daß nur diejenigen mit beträchtlicher Charakterstärke, die dazu fähig waren, ständiger Anprangerung und Beschimpfungen zu widerstehen, den Trotzkismus unterstützen würden. Zweitens schuf es eine riesige Barriere zwischen den Trotzkisten, einschließlich denen mit den vorbildlichsten revolutionären Leistungen, und den politisch bewußten Arbeitern, was ihnen ehrliches Gehör für ihre Argumente vorenthielt. Egal wie gut eine Kritik argumentiert wird, wird sie kaum beachtet werden, wenn alle glauben, daß sie von einem „faschistischen Agenten“ kommt.

Schließlich gab es die einfache Tatsache, daß es äußerst schwierig war, Leute zu überzeugen, daß es notwendig so bald nach der Gründung der Dritten Internationale war, wieder von Anfang an zu beginnen. Trotzki drückte die Situation folgendermaßen aus:

Wir schreiten nicht politisch fort. Ja, das ist eine Tatsache, die ein Ausdruck des allgemeinen Verfalls der Arbeiterbewegungen in den letzten fünfzehn Jahren ist ... Unsere Situation jetzt ist unvergleichlich schwieriger als die jeder anderen Organisation zu jeder anderen Zeit, weil wir den schrecklichen Verrat der Zweiten Internationale haben. Der Verfall der Dritten Internationale entwickelte sich so schnell und so unerwartet, daß dieselbe Generation, die ihre Gründung zuhörte, hört uns jetzt zu und sagt: „Aber wir haben das schon einmal gehört.“ [24]

Die Auswirkung dieser schrecklich schwierigen Situation war, daß die trotzkistische Bewegung von drei Merkmalen gekennzeichnet wurde. Erstens war sie äußerst klein und bestand in vielen Ländern aus äußerst wenige Leuten. Zweitens war sie in ihrer gesellschaftlichen Zusammensetzung überwiegend kleinbürgerlich. Drittens war sie mindestens in den oberen Reihen eine Organisation von Exilen – nicht unbedingt Exilen aus ihren Ländern, obwohl das stimmte von einigen, sondern Exilen vom adoptierten Vaterland, der Massenbewegung der Arbeiterklasse. Nun haben kleine Gruppen sich immer leichter und öfter gespalten als große Parteien, denn es gibt weniger zu verlieren. Kleinbürgerliche Intellektuelle neigen immer mehr zum Fraktionalismus als Arbeiter. „Alle Menschen dieser Art“, schrieb der amerikanische trotzkistische Führer J.P. Cannon, „haben ein gemeinsames Merkmal: es gefällt ihnen Sachen ohne Einschränkung und ohne Ende zu diskutieren.“ [25] Und die Exilpolitik ist berühmt-berüchtigt für ihre Intrigen und Skandalen. Im Grunde haben all diese Erscheinungen dieselbe Ursache – Isolation von der großen disziplinarischen Kraft des Klassenkampfs – und die Bewegung für die Vierte Internationale litt schwer unter allen von ihnen. Von Anfang an wurde der Trotzkismus vom Fraktionalismus [Fraktionskämpfen], von Spaltungen und vom extremen Sektierertum geplagt.

Trotzki kämpfte so gut, wie er könnte, um aus diesem hoffnungslosen Milieu auszubrechen und für seine Bewegung einen Weg zu finden, die Arbeiter zu erreichen. Zuerst orientierte er seine Anhänger auf die verschiedenen linken, sozialdemokratischen und zentristischen Gruppen (die die britische ILP – Unabhängige Arbeiterpartei – und die deutsche SAP –Sozialistische Arbeiterpartei), die von der Zweiten sowie der Dritten Internationale unabhängig waren, in der Hoffnung, daß diese Orientierung eine neue Zimmerwald-Bewegung schaffen könnte. [26] Dann richtete er sie auf den kurzfristigen Entrismus in die sozialdemokratischen Massenparteien, [27] und führte sie wieder heraus. 1937 und wieder 1939 schlug Trotzki der amerikanische Socialist Workers’ Party vor, daß sie kleinbürgerliche Mitglieder ausschließen sollten, die keine Arbeiter für die Partei bewerben könnte. [28] Aber es war alles umsonst. Jede neue Taktik verursachte neue Spaltungen und jede versäumte es, sein Ziel zu erreichen. Die trotzkistische Bewegung hatte nie Erfolg dabei, eine beträchtliche Anzahl von Arbeitern zu bewerben, noch wurde sie zu einem integrierten Teil der Arbeiterbewegung.

Die Frage, die wir jetzt stellen müssen, lautet: Was war die Auswirkung dieser Bedingungen auf Trotzkis Theorie der Partei? Denn, obwohl es für den Theoretiker möglich ist, den demoralisierenden Einfluß der ungünstigen Ereignisse zu widerstehen, indem er fest an den theoretischen Errungenschaften der Vergangenheit und an den früheren Höhepunkten der Bewegung hält, wie Lenin es während der Stolypinschen Reaktion in Rußland machte und wie Trotzki es später machte, ist es nichtsdestotrotz unmöglich, daß die Theorie völlig unbeeinflußt von der Praxis bleibt. So war es für Trotzki. Die gähnende Kluft zwischen den enormen Anforderungen der Situation und den erbärmlich schwachen Kräften, mit denen er versuchen konnte, sie zu erfüllen, führte Trotzki nicht nur zu einer Übertreibung der Lebensfähigkeit und der Stärke seiner winzigen Organisation. Er wurde auch in seiner theoretischen Überschätzung der Rolle getäuscht, die eine internationale Führung spielen könnte, die von den Massen getrennt war, sowie in der Weise, wie er das Parteiprogramm, das vom Rande des Klassenkampfs geschrieben wurde, für die Partei selbst als Verkörperung der wirklichen Avantgarde des Proletariats und Verallgemeinerer der Erfahrungen der Arbeiterklasse inmitten großer Ereignisse ersetzte. Diese Punkte lassen sich am besten veranschaulichen, indem man die 1938 getroffene Entscheidung, die Vierte Internationale wirklich zu gründen, und die begleitenden Perspektiven untersucht.

 

 

2. Die theoretische Basis der Vierten Internationale

Das Merkmal der Vierten Internationale, das am unmittelbarsten auffällig war, war der Kontrast, den sie im Vergleich mit den ersten drei Arbeiterinternationalen darstellte. Die Gründungskonferenz war eine klägliche Versammlung im Vergleich mit denen ihrer Vorgänger. Die Konferenz wurde heimlich in Frankreich in der Wohnung von Trotzkis altem Freund Alfred Rosmer gehalten, sie dauerte nur einen Tag und wurde von nur 21 Delegierten besucht. Diese Delegierten behauptete, Organisationen in 11 Ländern zu vertreten, aber die meisten dieser Organisationen waren die winzigsten kleinen Sekten und eine , die sogenannte „russische Sektion“, war eine absolute Fiktion und wurde von einem GPU-Agenten (Etienne) vertreten. Nur Max Shachtman, der amerikanische Delegierte, kam von einer Sektion mit mehr als ein paar Hundert Mitgliedern. Trotzki hatte 1935 als „dummen Klatsch“ die Vorstellung angeprangert, daß „die Trotzkisten die Vierte Internationale nächsten Donnerstag erklären wollen“. [29] Warum denn, trotz der Tatsache, daß seine Bewegung kein bedeutendes Wachstum erfahren hatte, fuhr Trotzki nichtsdestoweniger mit dieser Erklärung fort?

Die Antwort liegt in Trotzkis Theorie der „Führungskrise“ des Proletariats. Trotzki war davon überzeugt, daß der Kapitalismus sowie der Stalinismus eine unpassierbare Sackgasse erreicht hätten. Die erfolgreiche Lösung dieser Krise für die ganze Menschheit hänge völlig vom Hervortreten einer neuen revolutionären Führung. In den unvermeidlich herannahenden revolutionären Situationen würde die entscheidende Faktor die Qualität der revolutionären Führung sein und ebenso würde es möglich für eine ursprünglich winzige Organisation möglich sein, rasch eine Massenanhängerschaft zu gewinnen und einen entscheidenden Einfluß über die Ereignisse ausüben.

Das von der Gründungskonferenz angenommene Programm, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, eröffnet folgendermaßen:

Die weltpolitische Lage in ihrer Gesamtheit ist vor allem durch eine historische Krise der Führung des Proletariats gekennzeichnet ... Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon „gereift“, sie haben sogar begonnen zu verfaulen. Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen. Alles hängt ab vom Proletariat, d.h. in erster Linie von seiner revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung. [30]

Die Theorie der „Führungskrise“ war die Destillation der revolutionären Erfahrung einer ganzen Epoche vom positiven Beispiel des Oktober 1917, durch die negativen Beispiele von Ungarn 1919, Italien 1920, Deutschland 1923 und 1933, China 1925-27 und Spanien 1931-37. Aber diese „allgemeine“ Richtigkeit der Theorie erschöpft nicht die Theorie. Trotzki behauptete nie für einen Augenblick, daß die Führung die Revolution schüfe bzw. „machte“ (wie z.B. einige Guevaristen vorgeschlagen haben), bloß daß sie ein entscheidendes „Bindeglied“ in der Kette der Ereignisse sei; die anderen vorrangigen Bestandteile der Kette sind die objektive ökonomische und politische Krise des Kapitalismus, die Massenerhebung der Arbeiterklasse und die Existenz einer gut vorbereiteten revolutionären Partei. Aber ohne diese Kette würde „die Führung“ isoliert sein, in eine Leere hängen und relativ machtlos sein, und ihre Position würde viel schlimmer sein insofern, daß sie ein aufgeblasenes oder falsches Bild der eigenen Fähigkeiten und Bedeutung hätte. Das Problem für Trotzki bestand darin, daß, als September 1938 er die Vierte Internationale (Weltpartei der Sozialistischen Revolution) gründete, äußerst wichtige Bindeglieder in der Kette nicht existierten. Es gab weder eine Erhebung der Arbeiterklasse, noch irgendwo in der Welt eine fest gegründete revolutionäre Partei.

Selbstverständlich war Trotzki davon äußerst bewußt. Er „löste“ das Problem durch eine Reihe von Vorhersagen, in der er das unvermeidliche Hervortreten der einzelnen Bindeglieder in der revolutionären Kette in nächster Zukunft vorhersagte.

Erstens glaubte er, daß der Kapitalismus in seine Endkrise gekommen sei. „Die ökonomische Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind schon seit langem am höchsten Punkt angelangt, der unter dem Kapitalismus erreicht werden kann. Die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren.“ [31] Die Situation sei solche, daß es „keine Rede ... von systematischen Sozialreformen noch von der Hebung des Lebensstandards der Massen“ geben könnte, [32] und als Ergebnis davon würde die Sozialdemokratie tödlich unterminiert werden.

Zweitens betrachtete er den kommenden Weltkrieg als etwas, das wie sein Vorgänger, aber auf einer höheren Ebene, eine riesige revolutionäre Welle auflösen würde. „Die zweite Geburt ist meistens leichter als die erste. Im neuen Krieg wird man nicht zweieinhalb Jahre auf den ersten Aufstand warten müssen.“ [33]

Drittens glaubte er, das stalinistische Regime in Rußland sei höchst instabil – „wie eine Pyramide, die auf ihrer Spitze balanciert“ – und unfähig dazu, dem Schock des Kriegs standzuhalten. „Wenn die Revolution im Westen ihn [den Imperialismus] nicht lähmt, wird er das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Regime auslöschen.“ [34] Und während Trotzki für die Verteidigung der Sowjetunion war, konnte er es nicht versäumen, mit der Tatsache zu rechnen, daß ein solcher Sturz einen Todesschlag dem versetzen würde, das er als die wichtigste konterrevolutionäre Kraft in der Arbeiterbewegung betrachtete.

Viertens dachte er, in Einklang mit dem Leninschen Imperialismus und seiner eigenen Theorie der permanenten Revolution, daß die Kolonien nicht ohne einen offenen [frontalen] Konflikt mit dem Imperialismus die Unabhängigkeit gewinnen könnten und, da die nationalen Bourgeoisien vor diesem Konflikt zurückschrecken würden, die aufsteigenden Bewegungen für die nationale Befreiung den Weg der sozialistischen Revolution nehmen müßten. „Die Fahne des Befreiungskampfes der kolonialen und halbkolonialen Völker, d.h. von mehr als die Hälfte der Menschheit, ist endgültig in die Hände der IV. Internationale übergangen.“ [35]

Als Ganzes genommen lief das auf einer Perspektive hinaus, worin:

Die Epoche, die unaufhaltsam über die europäische Menschheit heraufgezogen ist, wird aus der Arbeiterbewegung restlos alles Zweideutige und Faule ausmerzen ... Die Sektionen der Zweiten und der Dritten Internationale werden eine nach der anderen ruhmlos von der Bildfläche verschwinden. Eine große Umgruppierung in den Arbeiterreihen ist unvermeidlich. Die jungen revolutionären Kader werden Fleisch und Blut bekommen. [36]

Für jede der Vorhersagen, die diese Perspektive bildeten, gab es viele Beweise, aber die Tatsache bleibt, daß jede von ihnen durch die Geschichte widerlegt wurde. Die Kriegsvorbereitungen fingen damit an, den Kapitalismus aus dem Abschwung zu erheben und die Endkrise des Systems, die Trotzki feststellte, wurde nach dem Krieg zum am längsten anhaltenden und spektakulären Aufschwung des Systems. Stalins Regime brach nicht im Krieg zusammen, sondern trat siegreich und sehr verstärkt hervor, indem es seine Kontrolle über ganz Osteuropa ausbreitete. [37] Weit davon entfernt, „die Bühne ohne Klang zu verlassen“, gewannen die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien auf der Basis dieser Entwicklungen Auftrieb überall in Europa. Der Imperialismus konnte zum größten Teil den Kolonien Unabhängigkeit durch eine Vereinbarung mit den kolonialen Bourgeoisien gewähren, die dadurch die Verbindung zwischen der nationalen Befreiung und der proletarischen Revolution durchtrennte [abbrach]. Die Vierte Internationale saß auf dem trockenen.

Trotzki hatte vorhergesagt:

Während der nächsten zehn Jahre wir das Programm der Vierten Internationale zur Richtschnur von Millionen und diese revolutionären Millionen werden wissen, wie man Himmel und Erde stürmen muß. [38]

Aber als zehn Jahre später in 1948 der Zweite Weltkongreß der Vierten Internationale einberufen wurde, vertrat sie immer noch winzige Gruppen.

Die Widerlegung der Trotzkischen Vorhersagen machte seine abstrakt richtige Theorie der „Führungskrise“ für praktische Zwecke belanglos. Aber nehmen wir an, daß die Perspektive in ihren wesentlichen Teilen sich als richtig bewiesen hätte; wäre dann alles in Ordnung? Hätte die winzige Vierte Internationale die Führung über die sich entfaltende Weltrevolution zuversichtlich aufnehmen und sie zum Sieg führen können? Selbstverständlich ist eine solche Frage, wie bei allen „Was-Wäre-Wenns“, strenggenommen unbeantwortbar, aber es ist deutlich, daß mindestens zwei größere Probleme entstanden wären, die aus der Entscheidung stammten, die Internationale zu gründen.

Erstens waren die trotzkistischen Gruppen so klein und schwach (viel schwächer als die Bolschewiki so früh wie 1903, oder die Spartakisten 1917, oder Trotzkis Meschrajontsi-Gruppe 1917), [39]daß es für sie schwer gewesen wäre, sich inmitten einer großen revolutionären Aufhebung spürbar zu machen. Eine kleine Partei kann zwar erstaunlich schnell zur Zeit einer Revolution wachsen, aber wenn sie nicht am Anfang mindestens eine bestimmte Größe und Lebensfähigkeit erreicht hat, wird es wahrscheinlich von den Ereignissen überwältigt. Das ist der Grund für die lange Arbeit des Parteiaufbaus in der vorrevolutionären Periode. Trotzki hoffte diese Schwierigkeit durch ein System von „Übergangsforderungen“ zu überwinden, die der kleinen Gruppe ermöglichen würden, sich auf den Kampf der Massen zu beziehen und die Speerspitze davon zu bilden. Er schrieb:

Die strategische Aufgabe der nächsten Periode ... besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut ... zu überwinden. Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluß führen: die Eroberung der Macht durch das Proletariat. [40]

Aber weil Trotzki sich entschied, die Internationale zu erklären, ohne daß sie eine Basis in der Arbeiterklasse hatte, wurde er dazu gezwungen, diese „Übergangsforderungen“ in einem festen System zu entwerfen und zu formulieren, isoliert von Massenkämpfen und ihnen im voraus. Das war eine falsche Methode. Forderungen, die wirklich aus dem „heutigen Bewußtsein“ stammen und wirklich zur „Eroberung der Macht“ führen, lassen sich nicht einfach im Kopf eines Theoretikers entwerfen, egal wie genial, sondern müssen die Artikulierung der Kämpfe der Massen sein. Dafür wird eine Partei mit Wurzeln benötigt, die als Überlieferung in beiden Richtungen zwischen den Arbeitern und der Führung dienen kann. Die Vierte Internationale war aber zu schwach, um diese Rolle zu spielen. Trotzkis „Übergangsprogramm“, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, wurde ohne Änderung und fast ohne Diskussion angenommen, aber seine Forderungen – für eine gleitende Lohnskala, für die Eröffnung der Bücher des Großkapitals, für die Verstaatlichung der Banken, für die Arbeitermiliz – wurden nie von den Arbeitern aufgenommen.

Noch ist es möglich, wie Trotzki annahm, im voraus das Programm der Revolution genau vorherzusagen und zu entwerfen. Die allgemeinen Kampflinien lassen sich vorhersehen, aber nicht die besonderen Kampfformen, und trotzdem muß man gerade auf diese besonderen Formen die spezifischen Forderungen stützen. Um die Russische Revolution zu führen, mußten die Bolschewiki ihr Programm völlig revidieren, und auch solche grundsätzlichen Forderungen wie: „Nieder mit der Provisorischen Regierung“ und „Alle Macht den Sowjets“, mußten gelegentlich zurückgenommen und dann wieder vorgebracht werden.

Das zweite Problem wäre die Tatsache gewesen, daß Trotzkis Perspektive eine „neue und große Neugruppierung der Reihen der Arbeiter“ einschloß. Diese hätte zwangsläufig durch Spaltungen in den sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien und die Entstehung von vielen neuen revolutionären und halbrevolutionären Organisationen stattfinden müssen. Trotzdem, indem Trotzki die Internationale gründete, bevor irgendeine von diesen Entwicklungen stattgefunden oder sogar angefangen hatte, versuchte er ganz spezifisch, die organisatorische Form dieser Neugruppierung im voraus zu entscheiden. Unter solchen Umständen hätte die vorherige Existenz einer Internationale von Sekten mit vielen sektiererischen Gewohnheiten, der diese neuen Organisationen und Bewegungen hätten beitreten sollen, am wahrscheinlichsten ein ernsthaftes Hindernis zur Schaffung eine echten Internationale von Massenorganisationen der Arbeiterklasse gebildet.

Wenn man die Frage der Vierten internationale und Trotzkis Theorie der Partei überprüft, ist es nützlich sich auf die Worte zu beziehen, die er 1928 schrieb (gegen die stalinistische Politik der Anglo-Russischen Gewerkschaftskomitees gerichtet):

Es ist die schlimmste und gefährlichste Sache, wenn ein Manöver aus dem ungeduldigen opportunistischen Versuch entsteht, die Entwicklung der eigenen Partei zu überholen und über die notwendigen Etappen der Entwicklung zu überspringen (gerade hier muß man nicht über Etappen überspringen). [41]

Die Erklärung der Internationale war vielleicht nicht Opportunismus, aber sie war sicherlich ein Versuch, die Entwicklung seiner eigenen Partei zu überholen. Im wesentlichen war sie eine große Geste, die Erhebung einer makellosen revolutionären Fahne. Als solche spielte sie, zusammen mit Trotzkis übriger Arbeit, ihren Teil dabei, die Flamme des unverfälschten Marxismus am Leben zu halten, als sie fast erloschen wurde, aber sie hat der trotzkistischen Bewegung eine falsche Ansicht über die Rolle und die Natur der revolutionären Führung, eine Reihe von falschen Vorstellungen über „das Programm“ und „Übergangsforderungen“ und jede Menge Illusionen über ihre eigene Stärke und Bedeutung hinterlassen.

 

 

3. Der Verfall der Vierten Internationale

Zu diesem Punkt ist es wichtig, kurz anzuschauen, was mit der Vierten Internationale nach Trotzkis Tod passierte, denn es dann war, daß die Fehler der letzten Jahre Trotzkis sich völlig enthüllten. 1938 hatte Trotzki geschrieben:

Wenn unsere Internationale zahlenmäßig auch noch schwach ist, so ist sie doch stark durch die Doktrin, das Programm, die Tradition und die unvergleichliche Festigkeit ihrer Kader. Wer das heute noch nicht erkennt, der mag weiter abseits stehen. Morgen wird das deutlicher werden. [42]

Die übrigen Mitglieder der „Führung der Internationale [internationalen Führung]“ ohne ernsthafte Erfahrung in der Arbeiterbewegung, ohne irgendwelche unabhängigen theoretischen Errungenschaften vorzuweisen, bewiesen sich als unfähig, sich in einer sich verändernden Welt zu orientieren.

Ein Defekt einer Internationale ohne Basis ist, daß ihre „Welt“-Perspektiven sich immer weiter von der Wirklichkeit abweichen können, ohne daß sie der Prüfung und der Kontrolle der Praxis unterworfen sind, und genau das passierte. Trotz aller gegensätzlichen Beweise klammerte die Führung der Vierten Internationale an ihrem Programm und kündigte die Bestätigung ihrer Perspektiven an. Zu Zeiten wurde der Prozeß zur Farce, wie im Falle, wo James P. Cannon, Führer der amerikanischen Socialist Workers’ Party sechs Monate nach dem Sieg über Japan schrieb:

Trotzki sagte vorher, daß das Schicksal der Sowjetunion im Krieg entschieden würde. Das bleibt unsere feste Überzeugung. Nur wir stimmen nicht mit einigen Menschen überein, die leichtsinnig denken, der Krieg sei vorbei ... Der Krieg ist nicht vorbei, und die Revolution, die laut uns aus dem Krieg in Europa hervorgehen würde, ist nicht von der Tagesordnung. [43]

Bei anderen Gelegenheiten war die Blindheit ernsthafter, wie im Falle, wo Ernest Mandel 1946 schrieb:

Es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, daß wir vor einer neuen Epoche der kapitalistischen Stabilisierung und Entwicklung stehen. Ganz im Gegenteil, Der Krieg hat nur gewirkt, um das Mißverhältnis zwischen der gesteigerten Produktivität der kapitalistischen Wirtschaft und der Fähigkeit des Weltmarkts, sie aufzunehmen, zu verschärfen. [44]

In einer solchen Situation waren Spaltungen und die Zersplitterung der Bewegung unvermeidlich. Die Frage, die diese Spaltungen verursachte und die Internationale zerstörte, war die „russische Frage“ und die daraus entstandene Frage Osteuropas. Für Trotzki blieb Rußland ein Arbeiterstaat wegen seiner verstaatlichten Eigentumsverhältnisse. Aber die Rolle der stalinistischen Bürokratie wurde als reaktionär in Inland und konterrevolutionär auf der Weltbühne betrachtet. Die letzte Voraussetzung war tatsächlich die historische Rechtfertigung für die Existenz der Vierten Internationale. Die kommunistische Eroberung Osteuropas wurde in dieser Analyse völlig ausgeschlossen, aber als sie einmal gesehen war, tauchte eine andere Frage auf, die man nicht durch einen Hinweis auf „das Programm“ beantworten konnte: Was war der Klassencharakter der osteuropäischen kommunistischen Staaten? Hier stand die trotzkistische Bewegung vor einem Dilemma. Wenn die osteuropäischen Länder Arbeiterstaaten sein sollten, dann machte das nicht bloß Unsinn aus der Ansicht, daß der Stalinismus konterrevolutionär sei, sondern widersprach auch die marxistische Theorie der sozialistischen Revolution, den in fast allen Fällen die Arbeiterklassen Osteuropas keine Rolle in ihrer „Befreiung [Emanzipation] gespielt hatten. Wenn sie immer noch kapitalistisch wären, wie könnte man denn die vollständige Übereinstimmung zwischen ihr ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Struktur und der der Sowjetunion erklären? Der einzige Ausweg, der mit dem revolutionären Marxismus vereinbar war, war die Aufgabe der Charakterisierung Rußlands als Arbeiterstaat, [45] aber das hätte die offen Revision des heiligen Programms bedeutet.

Statt dessen machte die Vierte Internationale einen Zickzack und spaltete. Am Anfang versuchte sie die Position aufrechtzuerhalten, daß die „Pufferstaaten“ immer noch kapitalistisch seien; dann unter dem Anstoß der Spaltung zwischen Stalin und Tito in 1948 ging sie zur unausgesprochenen prostalinistischen Position, daß die Rote Armee eine Reihe von „deformierten Arbeiterstaaten“ erzeugt hätte. Das wurde begleitet von einem opportunistischen Versuch, mit Marschall Tito zu liebäugeln, und dann gab es unter der Führung von Michel Pablo einen massiven Rutsch in Richtung des Stalinismus, der seinen Höchststand in der Theorie erreichte, daß ein neuer Krieg nahte, worin die stalinistischen Parteien dazu gezwungen würden, sich zu radikalisieren. Daraus zog Pablo den logischen Schluß, daß die trotzkistischen Parteien sich auflösen sollten und die Position einer linken Tendenz innerhalb der kommunistischen Parteien wieder aufnehmen sollten. Dieser ganze Prozeß wurde von unzähligen Spaltungen und Ausschlüssen begleitet, aber jetzt fand ein größerer Bruch statt. Große Teile der Internationale unter der Führung der amerikanischen SWP schraken vor diesem Liquidatorentum zurück und brachen mit der Führung – aber bloß Pablos Schlußfolgerungen wurden abgelehnt, nicht seine Voraussetzungen. Die internationale Bewegung, die Trotzki gegründet hatte, war jetzt in Ruinen – theoretisch, politisch und organisatorisch.

Das Ergebnis dieser ganzen traurigen Geschichte ist, daß heute mindestens vier Organisationen behaupten, daß sie die Vierte Internationale seien, und zahlreiche andere versuchen, sie wieder aufzubauen. In Großbritannien allein gibt es etwa ein Dutzend „orthodox“-trotzkistischen Gruppen, die alle behaupten, daß sie am „Evangelium“ des 1938er Programms festhalten.

Selbstverständlich ist die leninistische Theorie der Partei, die Trotzki so lange verteidigte, nicht durch diesen Verfall des Trotzkismus unbeschädigt geblieben. Während alle trotzkistischen Gruppen am Buchstaben dieser Theorie festhalten, hat sein „Geist“ sich zwei Arten Revision unterzogen. Die erste könnte man als äußerst dogmatisches Sektierertum bezeichnen. In dieser Variante erklärt und fordert die Organisation, egal wie offensichtlich ihre Kleinigkeit und Bedeutungslosigkeit, ihr Recht zur Führung der Arbeiterklasse. Sie definiert sich als die revolutionäre Partei nicht auf der Basis ihrer Rolle im Klassenkampf, sondern auf der Basis ihres Besitzes der „richtigen Theorie“ und der „richtigen Linie“. Im wesentlichen wird die Partei betrachtet als getrennt nicht nur von der Arbeiterklasse als Ganzes, sondern auch von den fortgeschrittenen Arbeitern. Wenn für Lenin die Partei sowohl Ausbilder und Ausgebildete sein sollte, versucht die Partei in dieser Version des Trotzkismus, den Schulmeister gegenüber der Arbeiterklasse zu spielen. Intern neigen solche Organisationen zum Autoritarismus und zu Hexenjagden und sogar manchmal zum Führerkult. Extern zeigen sie groben Größenwahnsinn, Paranoia und vor allem eine Unfähigkeit, der Realität ins Gesicht zu sehen.

Die zweite Variante könnte man als kleinbürgerlichen Opportunismus bezeichnen. Obwohl gelegentlich ritualmäßige Reverenz der „Rolle der Arbeiterklasse“ erwiesen wird, wird das Versäumnis, eine Basis in der Arbeiterklasse zu erringen, in der Praxis als rauhe Wirklichkeit akzeptiert und Ersätze werden gesucht. Diese Ersätze reichen von Solidaritätsbewegungen mit der Dritten Welt, bis rebellische Studenten [Studenten in der Revolte], bis „Black Power“, bis Frauenbefreiung, aber sie alle bedeuten, a) daß man innerhalb eines kleinbürgerlichen Milieus bleibt und sich dazu anpaßt. und b) daß man bei in die unbestimmte Zukunft die Zentrale Aufgabe vertagt, in die industrielle Arbeiterklasse einzudringen und sie zu organisieren. Die Sekte gleicht sich allmählich einer akademischen Diskussionsgruppe an, wo großen Wert auf theoretische Raffiniertheit gelegt wird und die für Arbeiter völlig unbewohnbar ist.

Diese beiden Varianten des Trotzkismus verlassen sich stark für ihre Theorie der Partei auf der Theorie des frühen Lenins, daß der Sozialismus in die Arbeiterklasse von außen eingeführt werden müsse, denn sie beide benutzen sie als Alibi und Rechtfertigung für ihre Isolation von der Arbeiterklasse. In Wirklichkeit sind sie im Namen von Lenin und Trotzki bei einer absoluten Karikatur [Parodie] der authentischen leninistischen und trotzkistischen Theorie der Partei.

Selbstverständlich ist es unvernünftig, Trotzki für alle Absurditäten verantwortlich zu machen, die von seinen Epigonen begangen werden. Nichtsdestotrotz gibt es eine bestimmte Kontinuität zwischen den Fehlern [Irrtümern] in seiner Vorstellung der Vierten Internationale und ihrer späteren Evolution [Entwicklung]. Um eine Metapher von Trotzki zu benutzen, wurde der Kratzer in seiner Theorie der Partei, der von den verzweifelten Umständen der 1930er Jahre erzeugt wurde, infiziert und führte letztendlich zur Gangrän der Aufgabe der Vorstellung der revolutionären Partei als der Organisation der fortgeschrittenen Arbeiter.

 

 

Anmerkungen

1. Für eine Darstellung der grundsätzlichen Ursachen der Degeneration der Russischen Revolution s. Chris Harman, Wie die Revolution scheiterte, Frankfurt/Main 198?.

2. Trotzki, Die verratene Revolution, in Trotzki, Schriften, Bd.1.2, Hamburg 1988, S.992.

3. Marx u. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in MEAW, Bd.I, S.438.

4. Diese Regel verbat es den Parteimitgliedern, über ein bestimmtes Maximum (etwa dem Lohn eines Facharbeiters gleich) zu verdienen. Sie wurde später von Stalin geheim abgeschafft.

5. Trotsky, The New Course, Ann Arbor 1965.

6. ebenda, S.12.

7. ebenda.

8. ebenda, S.21.

9. ebenda, S.25.

10. ebenda, S.51.

11. ebenda, S.29.

12. ebenda, S.28.

13. ebenda, S.27.

14. Max Shachtman, Introduction, zu Trotsky, The New Course, S.3.

15. The Platform of the Joint Opposition 1927, London 1973, S.62-3.

16. ebenda, S.113.

17. Trotzki, Die verratene Revolution, a.a.O., S.789-90.

18. ebenda, S.791.

19. ebenda, S.969.

20. Trotsky, Der Todeskampf des Kapitalismus udn die Aufgaben der 4. Internationale, Essen ohne Datum, S.37.

21. Für Trotzkis Kritik an der Politik des internationalen Kommunismus (1924-39) s. insbesondere The Third International After Lenin, New York 1970, Problems of the Chinese Revolution, Ann Arbor 1967, The Struggle Against Fascism in Germany, New York 1971 und The Spanish Revolution (1930-39), New York 1973.

22. s. Trotzki in der Einleitung zu Terrorism and Communism, Ann Arbor 1961.

23. Trotsky, The Struggle Against Fascism in Germany, S.420.

24. Trotsky, Fighting Against the Stream, zit. in Duncan Hallas, Against the Stream, International Socialism 53, London 1972, S.36.

25. James P. Cannon, History of American Trotskyism, zit. ebenda, S.32.

26. In Zimmerwald fand die berühmte Konferenz statt, wo die internationalistischen Sozialdemokraten sich 1915 neu gruppierten.

27. Diese Taktik wurde als die „französische Wende“ bekannt, weil sie mit dem Entrismus in die Sozialistische Partei Frankreichs anfing, und war die Inspiration für die Entrismustaktik, die von vielen trotzkistischen Gruppen in späteren Jahren praktiziert wurde.

28. s. Trotsky, In Defence of Marxism, London 1966, S.136 u. 140.

29. zit. in Duncan Hallas, Against the Stream, a.a.O.

30. Trotzki, Todeskampf des Kapitalismus, S.5-6.

31. ebenda, S.5.

32. ebenda, S.8.

33. Trotzki, Verratene Revolution, S.936.

34. ebenda, S.931.

35. Trotzki, Todeskampf des Kapitalismus, S.30.

36. Trotsky, Introduction zur 1936er französischen Ausgabe von Terrorism and Communism; s. Terrorism and Communism, Ann Arbor 1961, S.xxxv.

37. Trotzkis Vorhersage, daß das stalinistische Regime zusammenbrechen würde, beruhte auf seiner Ansicht, daß die sowjetische Bürokratie nicht eine vollentwickelte gesellschaftliche Klasse, sondern eine parasitäre Kaste ohne tiefe Wurzeln in der russischen Gesellschaft sei – es sei, argumentierte er, „ein Polizist“ im Bereich der Verteilung (s. Vedrratene Revolution, S.810), nicht eine „herrschende Klasse ..., die für das gegebene Wirtschaftssystem unerläßlich ist“ (s. In Defence of Marxism, S.29). Diese Charakterisierung [Bezeichnung] folgte aus Trotzkis Analyse der Sowjetunion als degenerierten Arbeiterstaat. Daß die stalinistische Bürokratie eine völlig unerwartete Stabilität und Haltbarkeit zeigte, ist ein Beweis dafür, daß Trotzkis Analyse nicht stimmte und daß die Bürokratie doch eine gesellschaftliche Klasse sei, die ein staatskapitalistisches Wirtschaftssystem lenkte (s. Tony Cliff, State Capitalism in Russia, London 1974, besonders S.166-8 u. 275-7).

38. zit. in Hallas, Against the Stream, a.a.O., S.37.

39. Die Meschrajontsi, oder zwischenkommunale Organisation, hatte allein in Petrograd eine etwas größere Mitgliedschaft als die meisten Sektionen der Vierten Internationale, trotzdem hatte niemand in 1917 Zweifel daran, daß sie zu klein war, um Ereignisse wirklich zu beeinflussen. Nur dadurch, daß er seine Organisation zusammenschloß, konnte Trotzki sich wirkungsvoll an der Gestaltung der Geschichte beteiligen.

40. Trotzki, Todeskampf des Kapitalismus, S.7.

41. Trotsky, The Third International After Lenin, New York 1970, S.140.

42. Trotzki, Todeskampf des Kapitalismus, S.42.

43. James P. Cannon, The Militant 17. November 1945, zit. in Duncan Hallas, The Fourth International in Decline, International Socialism 60, London 197?, S.17.

44. zit. ebenda, S.19.

45. Eine, die diesen Schritt nahm, war Trotzkis Ehefrau, Natalja Sedowa. Als sie 1951 aus der Vierten Internationale austrat, schrieb sie:

Von alten und überlebten Formeln besessen fahrt Ihr fort, den stalinistischen Staat als einen Arbeiterstaat zu bezeichnen. Ich kann und werde Euch darin nicht folgen ... L.D.Trotzki [hat] in jedem Jahr seines Kampfes gegen die usurpartorische stalinistische Bürokratie wiederholt, daß dieses Regime sich unter den Bedingungen einer verzögerten Weltrevolution und der Eroberung aller politische Position durch die Bürokratie nach Rechts entwickelt ... Wenn diese Entwicklung anhält, sagte er, wird es mit der Revolution zu Ende und die Restauration des Kapitalismus erreicht sein ... Dies ist es, was sich unglücklicherweise ereignet hat, wenn auch in neuen und unerwarteten Formen ... Ihr haltet daran fest, daß die Staaten Osteuropas, über die der Stalinismus während und nach dem Krieg seine Vorherrschaft errichtet hat, ebenfalls Arbeiterstaaten sind. Das ist das Gleiche wie zu sagen, der Stalinismus hat eine revolutionäre sozialistische Aufgabe durchgeführt. Ich kann und will Euch darin nicht folgen. (Natalia Trotsky and the Fourth International, London 1972, S.9-10.)

Ein anderer war Tony Cliff, der 1947 die erste voll ausgearbeitete Analyse des Staatskapitalismus in Rußland produzierte. (s. Tony Cliff, State Capitalism in Russia.)

 

 

Fußnote

1*. Dachverband der britischen Gewerkschaften (Anm. d. Übersetzers)

 


Zuletzt aktualisiert am 6.2.2002