Abraham Léon

 

Die jüdische Frage

 

1. Grundlagen für ein wissenschaftliches Studium der jüdischen Geschichte

Die wissenschaftliche Untersuchung der jüdischen Geschichte hat das Stadium idealistischer Improvisation noch nicht hinter sich gelassen. Während das Gebiet der allgemeinen Geschichte weithin von der materialistischen Konzeption erobert wurde, während die ernstzunehmenden Historiker beherzt den von Marx eingeschlagenen Weg weitergingen, blieb die jüdische Geschichte das Lieblingsterrain von Gottessuchern aller Art als eines der sehr wenigen historischen Gebiete, in dem es den idealistischen Vorurteilen gelang, sich so weitgehend durchzusetzen und zu erhalten.

Wieviel Druckerschwärze hat man nicht verschwendet, um das berühmte „jüdische Wunder“ zu feiern! „Was für ein eigenartiges Schauspiel, diese Menschen, die, um das heilige Erbe ihres Glaubens zu erhalten, Verfolgungen und Folter trotzten!“, schreibt Bédarride. [1] Das Fortbestehen der Juden wird von allen Historikern als Ergebnis der Treue erklärt, die sie Jahrhunderte hindurch ihrer Religion und ihrer Nationalität bezeugt hätten. Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen treten erst dort auf, wo es sich darum handelt, das „Ziel“, für welches sich die Juden erhielten, und den Grund ihres Widerstands gegen jegliche Art von Eingliederung zu definieren. Einige Historiker, die sich die religiöse Sicht zu eigen gemacht haben, sprechen vom „heiligen Erbe ihres Glaubens“. Andere, wie z. B. Dubnov, vertreten die Theorie der „Verbundenheit mit der nationalen Idee“. „Man muß die Gründe für das historische Phänomen des Fortbestehens des jüdischen Volkes in der Kraft seiner nationalen Idee, in seiner Ethik und seinem Monotheismus suchen“, schreibt die Allgemeine Enzyklopädie, der es auf diese Weise gelingt, die verschiedenartigen Standpunkte der idealistischen Historiker zu versöhnen. [2]

Aber wenn es auch möglich ist, die idealistischen Theorien miteinander zu versöhnen, so wäre es doch vergeblich, dieselben Theorien und die elementaren Regeln der Geschichtswissenschaft miteinander versöhnen zu wollen. Die letztere muß entschieden den grundlegenden Irrtum aller idealistischen Schulen zurückweisen, der darin besteht, das Hauptproblem der jüdischen Geschichte, nämlich die Erhaltung des Judentums, im Zeichen des freien Willens zu sehen. Nur das Studium der ökonomischen Rolle der Juden kann dazu beitragen, die Ursachen des „jüdischen Wunders“ zu erhellen. Die Entwicklung des Problems zu untersuchen ist nicht nur von akademischem Interesse. Ohne gründlicheres Studium der jüdischen Geschichte ist es schwierig, die jüdische Frage heute zu verstehen. Die Lage der Juden im 20. Jahrhundert ist eng mit ihrer historischen Vergangenheit verbunden.

Jeder gesellschaftliche Zustand entspricht einer Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Das Sein ist nur ein Moment des Werdens. Zur Analyse der jüdischen Frage in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand ist die Kenntnis ihrer historischen Wurzeln unbedingt notwendig.

Auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte gibt das geniale Denken von Marx den einzuschlagenden Weg ebenso an wie im Rahmen der Universalgeschichte. „Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden.“ [3] Marx stellt auf diese Weise die jüdische Frage wieder auf die Füße. Man kann nicht von der Religion ausgehen, um die jüdische Geschichte zu erklären; im Gegenteil, die Erhaltung der jüdischen Religion und Nationalität kann nur durch den „wirklichen Juden“, d.h. den Juden in seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rolle erklärt werden. Der Fortbestand der Juden hat nichts von einem Wunder an sich. „Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten.“ [4] Gerade durch das Studium der historischen Funktion des Judentums kann man das „Geheimnis“ seines geschichtlichen Fortbestehens aufdecken. Die Konflikte zwischen Judentum und christlicher Gesellschaft sind unter ihrer religiösen Erscheinungsform in Wirklichkeit gesellschaftliche Konflikte. „Den Widerspruch des Staats mit einer bestimmten Religion, etwa dem Judentum, vermenschlichen wir in den Widerspruch des Staats mit bestimmten weltlichen Elementen (...).“ [5]

Der herrschenden idealistischen Strömung stellt sich das allgemeine Schema der jüdischen Geschichte (abgesehen von verschiedenen Nuancen) in etwa folgendermaßen dar: Bis zur Zerstörung Jerusalems, möglicherweise bis zum Aufstand Simon Bar Cochbas, habe sich die jüdische Nation in nichts von anderen normal beschaffenen Nationen – wie etwa der römischen und der griechischen Nation – unterschieden. Durch die Kriege zwischen Römern und Juden sei die jüdische Nation in alle vier Himmelsrichtungen versprengt worden. Die Juden, wohin auch immer verschlagen, hätten sich ungestüm der nationalen und religiösen Eingliederung widersetzt. Das Christentum habe auf seinem Weg keinen hartnäckigeren Gegner gefunden, und trotz aller Anstrengungen sei es ihm nicht gelungen, ihn zu bekehren. Der Sturz des römischen Reiches habe die Isolierung des Judentums verstärkt, das nach dem vollständigen Sieg des Christentums im Abendland das einzige andersgläubige Element darstellte. Die Juden in der Diaspora hätten zum Zeitpunkt der Völkerwanderungen in keiner Weise eine gesellschaftlich homogene Gruppe gebildet., Ganz im Gegenteil, Landwirtschaft, Industrie und Handel seien in starkem Maße durch sie repräsentiert worden. Nur durch die ständigen religiösen Verfolgungen seien sie gezwungen worden, sich mehr und mehr auf Handel und Wucher zu beschränken. Die Kreuzzüge hätten durch den religiösen Fanatismus, den sie hervorgerufen hätten, jene Entwicklung, die die Juden in Wucherer verwandelt und zu ihrer Einquartierung in Ghettos geführt habe, gewaltsam verstärkt. Natürlich werde der Haß gegen die Juden auch durch ihre wirtschaftliche Rolle genährt. Aber die Historiker messen diesem Faktor nur sekundäre Bedeutung bei. In diesem Rahmen sei die Situation des Judentums bis zur Französischen Revolution geblieben. Diese habe alle Barrieren zerstört, die die religiöse Verfolgung gegen die Juden errichtet habe.

Mehrere wichtige Tatsachen stellen sich diesem Schema entgegen:

1. Die Zerstreuung der Juden beginnt in keiner Weise mit dem Untergang Jerusalems. Die große Mehrzahl der Juden war schon mehrere Jahrhunderte vor diesem Ereignis in allen vier Himmelsrichtungen verstreut. „Sicher ist, daß lange Zeit vor dem Sturze Jerusalems mehr als drei Viertel der Juden nicht mehr in Palästina lebten.“ [6]

Das jüdische Königreich Palästina hatte für die breiten Massen von Juden, die im griechischen und später im römischen Reich zerstreut waren, absolut zweitrangige Bedeutung. Ihre Verbindung mit dem „Mutterland“ zeigte sich nur bei den Wallfahrten nach Jerusalem, das eine der Rolle Mekkas für die Moslems vergleichbare Rolle spielte. Kurz vor dem Untergang Jerusalems sagte der König Agrippa: „Es gibt kein einziges Volk auf der Welt, das nicht ein Stückchen des unseren in sich enthielte.“ [7]

Die Diaspora war demnach keinesfalls ein durch ein gewaltsames Unternehmen hervorgerufenes zufälliges Ergebnis. [8] Hauptgrund für die jüdische Auswanderung muß in den geographischen Bedingungen Palästinas gesucht werden. „Wir finden die Juden in Palästina als Besitzer eines Berglandes, das von einem gegebenen Moment an nicht mehr ausreichte, seinen Bewohnern eine ebenso behagliche Existenz zu sichern, wie sie ihre Nachbarn hatten. Ein solches Volk greift entweder zum Raub oder zur Auswanderung. Die Schotten wählten anfänglich den ersteren, dann den zweiten Ausweg. Nach mannigfaltigen Kämpfen gegen ihre Nachbarn betraten auch die Juden den letzteren. (...) Nicht als seßhafte Ackerbauern (...) gehen (...> (Völker, die unter solchen Bedingungen leben) ins Ausland, sondern als abenteuernde Söldner, wie im Altertum die Arkadier, im Mittelalter die Schweizer, heute in der Türkei die Albanesen – oder als Händler, wie die Juden, später die Schotten, heute die Armenier. Wir sehen, das gleiche Milieu entwickelt unter Völkern der verschiedensten Rassen die gleiche Eigenart.“ [9]

2. Unzweifelhaft beschäftigte sich die ungeheuere Mehrzahl der Juden in der Diaspora mit dem Handel. Palästina selbst bildete seit sehr fernen Zeiten einen Verbindungsweg für Waren, eine Brücke zwischen Euphrat- und Niltal. „Syrien war die große, für Eroberer bestimmte Straße. Es war auch der Weg, den die Waren nahmen und auf dem die Ideen zirkulierten. Man versteht daß sich in diesen Gebieten schon sehr früh eine umfangreiche Bevölkerung niederließ mit großen Städten, die durch ihre Lage selbst schon zum Handel bestimmt waren.“ [10]

Die geographischen Voraussetzungen Palästinas erklären also zugleich die jüdische Emigration wie deren kommerziellen Charakter. Andererseits sind bei allen Nationen zu Beginn ihrer Entwicklung die Händler Fremde gewesen: „Das Charakteristische der Naturalwirtschaft ist, daß eine jede Wirtschaft alles, dessen sie bedarf, selbst erzeugt, und nichts herstellt, als was sie selbst verbraucht. Es fehlt also jeder Anlaß, sowohl Sachgüter als auch Dienste von anderen zu kaufen; (...) Eben weil (...) jede Wirtschaft alles, was sie braucht, selbst herstellt, finden wir bei allen Völkern als die ersten Kaufleute Fremde.“ [11] Philon zählt die zahlreichen Städte auf, in denen sich die Juden als Händler niedergelassen hatten. Er sagt, daß sie „eine zahllose Menge von Städten in Europa, Asien, Libyen, auf dem Festland und auf den Inseln, an Küsten und im Landesinneren bewohnten.“ Die Juden, die auf den Inseln des hellenischen Kontinents und weiter westwärts wohnten, hätten sich dort aus kommerziellen Interessen angesiedelt. [12] „Zugleich mit den Syrern treffen sich auch die Juden, die versprengt sind oder besser, die sich in allen Städten gruppiert haben. Es sind Seeleute, Makler und Bankiers. Ihr Einfluß auf die damalige Wirtschaft ist ebenso wesentlich gewesen wie der orientalische Einfluß, der sich zur selben Epoche in der Kunst und der religiösen Ideenwelt offenbart.“ [13] Ihrer gesellschaftlichen Stellung verdanken die Juden die weitgehende Autonomie, die ihnen die römischen Eroberer zugestanden. Nur den Juden erlaubte man, einen Staat im Staate zu gründen, und während die anderen Fremden der Verwaltung der städtischen Autoritäten unterworfen waren, konnten sich die Juden bis zu einem bestimmten Grad selbst regieren.

„(...) Cäsar (förderte) die Juden in Alexandria wie in Rom. durch besondere Begünstigungen und Vorrechte und schützte namentlich ihren eigentümlichen Kult gegen die römischen wie gegen die griechischen Lokalpfaffen.“ [14]

3. Der Haß gegen die Juden besteht nicht erst seit Durchsetzung des Christentums. Seneca behandelt die Juden als kriminelle Rasse. Juvenal glaubt daß die Juden nur dazu da seien, um anderen Völkern Leiden zuzufügen. Nach Quintilius sind die Juden ein Fluch für die anderen Völker. [15]

Die Ursache des antiken Antisemitismus ist dieselbe wie die des mittelalterlichen: Es handelt sich um den den Händlern entgegengebrachten Widerstand aller Gesellschaften, deren Wirtschaft hauptsächlich auf der Produktion von Gebrauchswerten basiert. „Die Feindseligkeit des Mittelalters Händlern gegenüber ist nicht nur christlichen oder pseudochristlichen Ursprungs. Sie hat auch eine heidnische Quelle ganz realer Art. Diese Feindseligkeit ist stark verwurzelt in einer Klassenideologie: Die herrschenden Klassen der römischen Gesellschaft, Senatsleute ebenso wie Mitglieder der provinzialen Kurien, brachten auf Grund ihrer tief sitzenden bäuerlichen Tradition allen Formen wirtschaftlicher Aktivität, außer solchen, die sich aus der Landwirtschaft ableiten, Verachtung entgegen.“ [16]

Wenn auch der Antisemitismus in der römischen Gesellschaft schon stark entwickelt war, war die Situation der Juden, wie wir gesehen haben, dort noch recht beneidenswert. Die Feindseligkeit der Klassen, die vom Boden leben, dem Handel gegenüber schließt nicht aus, daß sie sich in einem Zustand der Abhängigkeit befinden. Der Landbesitzer haßt und verachtet den Händler, ohne auf ihn verzichten zu können. [17]

Der Siegeszug des Christentums brachte keine bemerkenswerten Veränderungen in dieser Beziehung. Das Christentum, zunächst Religion der Sklaven und Unterdrückten, verwandelte sich schnell in eine Ideologie der herrschenden Klasse der Grundbesitzer. Konstantin der Große legte in der Tat das Fundament für die mittelalterliche Leibeigenschaft. Der triumphale Siegeszug des Christentums durch Europa brachte die Ausdehnung des feudalen Wirtschaftssystems mit sich. Die religiösen Orden spielten eine ungeheuer wichtige Rolle für den Fortschritt der Zivilisation, die damals in der Entwicklung der auf Leibeigenschaft basierenden Landwirtschaft bestand. Ist es demnach verwunderlich, „daß das Christentum, obwohl aus dem Judentum entstanden und sich zu Anfang ausschließlich aus Juden zusammensetzend, dennoch während der ersten vier Jahrhunderte nirgends mehr als bei den Juden Schwierigkeiten hatte, Anhänger für seine Lehre zu finden?“ [18] In der Tat, der Grundzug der christlichen Mentalität der ersten zehn Jahrhunderte unseres Zeitalters in bezug auf das Wirtschaftsleben ist es, „daß ein Kaufmann nur schwerlich gottgefälliges Werk tun kann“ und „daß jedes Geschäft einen mehr oder minder großen Schwindel beinhaltet“. [19] Das Leben der Juden schien dem Heiligen Ambrosius, der im 4. Jahrhundert lebte, völlig unverständlich. Er verachtete die Reichtümer der Juden zutiefst und glaubte fest, daß sie dafür mit der ewigen Verdammnis bestraft würden.

Die ungestüme Feindseligkeit der Juden gegen den Katholizismus ist daher nichts mehr als natürlich, ebenso ihr Wille, ihre Religion zu erhalten, die in so bewundernswerter Weise ihre soziale Interessen ausdrückte. Es ist also nicht die Treue der Juden ihrem Glauben gegenüber, die ihre Erhaltung als eine besondere gesellschaftliche Gruppe erklärt, sondern im Gegenteil, ihre Erhaltung als solche, die ihre Verbundenheit mit ihrem Glauben erklärt.

Dennoch, ebenso wie die antike Judenfeindlichkeit, geht auch der christliche Antisemitismus in den ersten zehn Jahrhunderten der christlichen Ära nicht bis zur Forderung der Ausrottung des Judentums. Während das offizielle Christentum ohne Mitleid Heiden und Ketzer verfolgte, duldete es die jüdische Religion. Die Lage der Juden verbesserte sich ständig von der Zeit des untergehenden römischen Reiches nach dem vollständigen Sieg des Christentums bis hinein ins 12. Jahrhundert. Bei zunehmendem wirtschaftlichem Verfall gewann die kommerzielle Rolle der Juden immer mehr an Bedeutung. Im 10. Jahrhundert stellen die Juden die einzige wirtschaftliche Verbindung zwischen Europa und Asien dar.

4. Erst ab dem 12. Jahrhundert, parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung Westeuropas zum Anwachsen der Städte und zur Bildung einer einheimischen Handels- und Industrie- klasse, beginnt die Lage der Juden sich ernsthaft zu verschlechtern, um schließlich zu ihrer vollständigen Ausmerzung in den meisten westlichen Ländern zu führen. Die Judenverfolgungen nehmen immer gewaltsamere Formen an. Im Gegensatz hierzu ist ihre Lage in den rückständigen Ländern Osteuropas weiterhin blühend bis zu einem relativ späten Zeitpunkt.

Auf Grund dieser wenigen einleitenden Erwägungen sieht man, wie falsch die gemeinhin über die jüdische Geschichte verbreitete Auffassung ist.

Die Juden stellen in der Geschichte vor allem eine gesellschaftliche Gruppe mit einer bestimmten ökonomischen Funktion dar. Sie sind eine Klasse, oder besser noch, eine Volksklasse. [20]

Der Begriff der Klasse widerspricht in keiner Weise dem Begriff des Volkes. Gerade weil die Juden sich als gesellschaftliche Klasse erhalten haben, haben sie auch bestimmte ihrer religiösen, ethnischen und linguistischen Eigenheiten bewahrt. [21]

Dieses Zusammenfallen von Klasse und Volk (oder Rasse) ist bei weitem nicht außergewöhnlich in den vorkapitalistischen Gesellschaften. Die sozialen Klassen unterscheiden sich dort sehr häufig durch ihren mehr oder minder nationalen oder rassischen Charakter. „Die niederen und die höheren Klassen sind in mehreren Ländern lediglich die erobernden und die unterworfenen Völker einer vorangegangenen Epoche. Die Rasse der Eindringlinge hat eine müßige und ausgelassene Adelsschicht herausgebildet. Die Rasse der Überfallenen lebte nicht von den Waffen, sondern von der Arbeit.“ [22]

Ebenso schreibt Kautsky: „Verschiedene Klassen können den Charakter verschiedener Rassen annehmen. Andererseits. kann das Zusammentreffen verschiedener Rassen, von denen jede eine besondere Beschäftigung besonders entwickelt hat, dazu führen, daß diese Rassen verschiedene Berufe oder soziale Stellungen innerhalb der gleichen Gemeinschaft ausfüllen, die Rasse zur Klasse wird. [23]

Es besteht offensichtlich eine fortdauernde, gegenseitige Abhängigkeit zwischen rassischem oder nationalem Charakter und dem Klassencharakter. Die gesellschaftliche Stellung der Juden hat einen tief gehenden und bestimmenden Einfluß auf ihren nationalen Charakter gehabt.

Wenn der Begriff der „Volksklasse“ kein Widerspruch in sich ist, so ist es noch leichter zuzugeben, daß eine Übereinstimmung zwischen Religion und Klasse besteht. Jedes Mal, wenn eine Klasse einen bestimmten Grad von Reife und Bewußtsein erlangt, nimmt ihr Widerstand gegen die herrschende Klasse religiöse Formen an. Die Ketzereien der Albigenser, Lollharden, Manichäer, Katharer und der unzähligen Sekten, die sich in den mittelalterlichen Städten mit großer Geschwindigkeit ausbreiteten, sind die ersten religiösen Manifestationen des wachsenden Widerstandes der Bourgeoisie und des Volkes gegen die feudale Gesellschaftsordnung. Wegen der relativen Schwäche des mittelalterlichen Bürgertums haben es diese Häresien nirgends bis zur herrschenden Religion gebracht. Sie wurden auf brutale Weise in Blut erstickt. Erst im 17. Jahrhundert, als die Bourgeoisie mehr und mehr an Macht gewann, konnten Luthertum und vor allem Calvinismus und seine englischen Ausläufer triumphieren.

Während der Katholizismus die Interessen des Landadels und der feudalen Ordnung zum Ausdruck bringt, widerspiegelt der Calvinismus (oder Puritanismus) die Interessen des Bürgertums oder des Kapitalismus, das Judentum die einer vorkapitalistischen Handelsklasse. [24]

Was den jüdischen „Kapitalismus“ hauptsächlich vom Kapitalismus im allgemeinen unterscheidet, ist die Tatsache, daß er im Gegensatz zu jenem nicht Träger einer neuen Produktionsweise ist. „Hier ist das Kaufmannskapital rein, abgetrennt von den (...) Produktionssphären, zwischen denen es vermittelt.“ „Die Handelsvölker der Alten existierten wie die Götter des Epikur in den Intermundien der Welt oder vielmehr wie die Juden in den Poren der polnischen Gesellschaft.“ „Der Wucher wie der Handel exploitieren eine gegebene Produktionsweise, schaffen sie nicht, verhalten sich äußerlich zu ihr.“ [25]

Die Akkumulation des Geldes in jüdischen Händen rührte nicht von einer speziellen, der kapitalistischen Produktionsweise her. Der Mehrwert (oder das Mehrprodukt) entsprang der feudalistischen Ausbeutung und die Lehnsherren mußten den Juden einen Teil dieses Mehrwerts überlassen. Daher der Antagonismus zwischen Juden und Feudalismus, daher aber auch das unzerstörbare Band zwischen beiden.

Wie für den Lehnsherrn war auch für den Juden der Feudalismus der Nährboden. Wie der Feudalherr den Juden brauchte, so brauchte der Jude den Feudalherrn. Dieser gesellschaftlichen Position wegen gelang es den Juden nirgends, sich zur herrschenden Klasse aufzuschwingen. Im feudalen Wirtschaftssystem ist die Rolle der Handelsklasse notwendigerweise eine eindeutig untergeordnete. Das Judentum konnte höchstens ein mehr oder weniger geduldeter Kult sein. [26]

Wir haben schon gesehen, daß die Juden im Altertum ihre eigene Gerichtsbarkeit besaßen. Ebenso war es im Mittelalter. „In der klar gegliederten Gesellschaft des Mittelalters hat jede soziale Gruppe, ebenso wie sie nach eigener Sitte lebt, auch ihre besondere Gerichtsbarkeit. Über die gerichtliche Organisation des Staates hinaus hat die Kirche ihre eigene geistliche Gerichtsbarkeit, der Adel seine Lehensgerichte. Das Bürgertum seinerseits errichtete Schöffengerichte“. [27]

Die besondere Organisation der Juden war die Kehila. Jede jüdische Siedlung bildete eine Gemeinschaft (Kehila), die ihr besonderes gesellschaftliches Leben führte und ihre eigene gerichtliche Organisation hatte. In Polen erreichte diese Organisation ihre höchste Stufe. Nach einer Verordnung des Königs Sigismund August von 1551 hatten die Juden das Recht, die Richter und Rabbiner auszusuchen, die alle ihre Angelegenheiten verwalten mußten. Nur in den Prozessen zwischen Juden und Nichtjuden griffen die woiwodinischen Gerichte ein. In jeder jüdischen Siedlung wählte die Bevölkerung in freier Wahl einen Gemeinderat. Die Tätigkeit dieses Rates, Kahal genannt, war sehr ausgedehnt. Er mußte die Steuern einziehen, die allgemeinen und besonderen Steuern veranlagen, die Volksschulen und höheren Schulen (Jeschi-Both) leiten. Er regelte alle Fragen, die Handel, Gewerbe und Fürsorge betrafen. Er beschäftigte sich mit der Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft. Die Kompetenz eines jeden Kahals erstreckte sich auf die jüdischen Einwohner der umliegenden Dörfer.

Im Laufe der Zeit gewöhnten sich die verschiedenen Räte der jüdischen Gemeinschaften daran, sich regional in regelmäßigen Abständen zu versammeln, um über die administrativen, juristischen und religiösen Fragen zu diskutieren. Diese Versammlungen nahmen so den Charakter von kleinen Parlamenten an.

Anläßlich des großen Jahrmarktes von Lublin versammelte sich eine Art von allgemeinem Parlament, an dem die Vertreter von Großpolen, Kleinpolen, Podolien und Wolhynien teilnahmen. Dieses Parlament gab sich den Namen: Vaad Arba Aratzoth, der „Rat der vier Länder“. Die herkömmlichen jüdischen Historiker haben nicht versäumt, in dieser Organisation eine Form nationaler Unabhängigkeit zu sehen. „Im alten Polen“, sagt Dubnov, „bildeten die Juden eine Nation mit eigener Autonomie, eigener innerer Verwaltung, eigenen Gerichten und mit einer bestimmten juristischen Unabhängigkeit. “ [28]

Natürlich ist es ein plumper Anachronismus, im 16. Jahrhundert von nationaler Autonomie zu reden. Dieser Epoche war die nationale Frage noch völlig fremd. In einer feudalen Gesellschaft besitzen nur die einzelnen Klassen ihre Sondergerichtsbarkeiten. Die jüdische Selbständigkeit erklärt sich durch die spezifische gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung der Juden und nicht durch ihre „Nationalität“. [29] Auch die linguistische Entwicklung spiegelt die besondere gesellschaftliche Position des Judentums wieder.

Hebräisch verschwindet sehr bald als lebende Sprache. Überall nehmen die Juden die Sprache der sie umgebenden Völker an. Aber diese sprachliche Anpassung erfolgt allgemein in Form eines neuen Dialektes, in dem sich bestimmte hebräische Redensarten wiederfinden. Es existierten zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte die Dialekte jüdischarabisch, jüdisch-persisch, jüdisch-provenzalisch, jüdisch-portugiesisch, jüdisch-spanisch etc., ohne vom Jüdisch-Deutschen zu reden, das das heutige Jiddisch geworden ist. Der Dialekt drückt die beiden widersprüchlichen Tendenzen aus, die das jüdische Leben charakterisieren: die Tendenz zur Integration in die umgebende Gesellschaft und die Tendenz zur Isolation, die sich aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage des Judentums ableitet. [30]

Nur dort hören die Juden auf, eine sozial eigenständige Gruppe zu sein, wo sie sich völlig in die sie umgebende Gesellschaft eingliedern. „Die Assimilation ist kein neues Phänomen in der jüdischen Geschichte“, sagt der zionistische Soziologe Ruppin. [31]

In Wirklichkeit ist die jüdische Geschichte, wenn sie Geschichte der Erhaltung des Judentums ist, auch Geschichte der Assimilation breiter Schichten des Judentums. „Im Norden Afrikas, noch vor dem Auftreten des Islam, betrieben viele Juden Landwirtschaft, aber die meisten von ihnen wurden von der lokalen Bevölkerung absorbiert.“ [32] Diese Anpassung erklärt sich durch die Tatsache, daß die Juden hier aufgehört haben, eine Klasse zu sein, daß sie Bauern geworden sind. „Wenn die Juden sich der Landwirtschaft gewidmet hätten, hätten sie sich gezwungenermaßen über das ganze Land verteilt, was nach einigen Generationen zu einer vollständigen Eingliederung in die übrige Bevölkerung geführt hätte – trotz der religiösen Unterschiede. Aber mit dem Handel beschäftigt und in den Städten konzentriert, bildeten sie besondere Gemeinschaften und führten ein von den übrigen Bewohnern isoliertes gesellschaftliches Leben, verkehrten nur untereinander und heirateten nur untereinander.“ [33]

Man könnte auch an die zahlreichen Konversionen der jüdischen Grundbesitzer in Deutschland im 4. Jahrhundert denken, an das vollständige Verschwinden der jüdischen Kriegerstämme in Arabien, an die Anpassung der Juden in Südamerika, in Surinam usw. [34] Das Gesetz der Assimilation könnte folgendermaßen formuliert werden: Dort, wo die Juden aufhören, eine Klasse zu bilden, verlieren sie mehr oder minder schnell ihren ethnischen, religiösen und sprachlichen Charakter; sie gleichen sich an. [35]

Es ist sehr schwierig, die jüdische Geschichte in Europa auf einige wesentliche Zeitabschnitte zurückzuführen, da die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen eines jeden Landes verschieden sind. Während sich Polen und die Ukraine noch Ende des 18. Jahrhunderts mitten im Feudalismus befinden, kann man in Westeuropa zur selben Zeit bereits eine beschleunigte Entwicklung des Kapitalismus beobachten. Man versteht daher leicht, daß die Situation der polnischen Juden im 18. Jahrhundert eher der Situation der französischen Juden in der Karolinger Epoche gleicht, als der ihrer zeitgenössischen Mitbrüder in Bordeaux und Paris. „Ein portugiesischer Jude aus Bordeaux und ein deutscher Jude aus Metz verkörpern zwei völlig verschiedene Welten“, schrieb ein französischer Jude an Voltaire. Die jüdischen Großbürger Frankreichs und Hollands hatten nahezu nichts gemeinsam mit den polnischen Juden, die eine Klasse der feudalen Gesellschaft darstellten.

Trotz der sehr unterschiedlichen Bedingungen und Rhythmen der wirtschaftlichen Entwicklung in den von den Juden bewohnten europäischen Ländern kann man bei sorgfältiger Untersuchung die wesentlichen Stadien der jüdischen Geschichte erkennen.

 

 

1. Die vorkapitalistische Periode

Dies ist eine Periode größten Reichtums für die Juden. Das Handels- und Wucher„kapital“ hat große Ausdehnungsmöglichkeiten in der feudalen Gesellschaft. Die Juden werden von Königen und Prinzen beschützt und ihre Beziehungen mit den übrigen Klassen sind in der Regel gut.

Diese Situation hält im Osten Europas bis zum 11. Jahrhundert an. Die Karolinger Epoche – Wendepunkt der feudalistischen Entwicklung – war zugleich der Höhepunkt des jüdischen Reichtums.

In Osteuropa ist bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weiterhin die feudale Wirtschaftsform dominant. Dorthin verlagert sich mehr und mehr das Zentrum des jüdischen Lebens.

 

2. Die Periode des mittelalterlichen Kapitalismus

Mit dem 11. Jahrhundert beginnt in Westeuropa eine Periode intensiver wirtschaftlicher Entwicklung. Das erste Stadium dieser Entwicklung ist gekennzeichnet durch die Entstehung einer ständischen Industrie und einer einheimischen Handelsbourgeoisie. Im zweiten Stadium findet eine Unterwanderung des landwirtschaftlichen Bereichs durch den Handel statt.

Durch die Entwicklung der Städte und einer einheimischen Handelsklasse werden die Juden völlig aus dem Handel verdrängt. Sie werden zu Wucherern, deren hauptsächliche Kundschaft Adelige und Könige sind. Aber die handelsbedingte Transformation der Agrarwirtschaft hat zur Folge, daß sie auch aus diesen Positionen verdrängt werden.

Der relative Überfluß an Geld erlaubt es dem Adel, das Joch der Wucherer abzuschütteln. Die Juden werden nach und nach aus allen Ländern vertrieben. Einige assimilieren sich und gehen vorwiegend in der einheimischen Bourgeoisie auf.

In einigen Städten, vor allem in Deutschland und Italien, beschäftigen sich die Juden hauptsächlich damit, dem Volk, vor allem Bauern und Handwerkern, Kredite zu geben. Zu kleinen Wucherern abgesunken, die das Volk ausbeuten, werden die Juden oft zu Opfern blutiger Aufstände. Im allgemeinen ist der mittelalterliche Kapitalismus die Periode der grausamsten Judenverfolgungen. Das jüdische „Kapital“ gerät in Konflikt mit allen Klassen der Gesellschaft.

Aber die ungleiche wirtschaftliche Entwicklung der westeuropäischen Länder übt ihren Einfluß auf die Formen des Antisemitismus aus. In einem Land ist es der Adel, der den Kampf gegen die Juden anführt, in anderen Ländern ist es das Bürgertum. In Deutschland bringt das Volk den Stein ins Rollen.

In Osteuropa ist der mittelalterliche Kapitalismus nahezu unbekannt. Dort gibt es keine Trennung zwischen Kaufmanns- und Wucherkapital. Im Gegensatz zu Westeuropa, wo Jude gleichbedeutend mit Wucherer wird, sind die Juden dort vor allem Kaufleute und Zwischenhändler. Während die Juden allmählich aus der westlichen Welt verdrängt werden, festigen sie beständig ihre Position im Osten Europas. Erst im 19. Jahrhundert beginnt die Entwicklung des Kapitalismus – es handelt sich nicht mehr um die ständische, sondern um die moderne Form des Kapitalismus – den Wohlstand der russischen und polnischen Juden ins Wanken zu bringen. „Die russischen Juden wurden erst seit der Aufhebung der Leib- eigenschaft und der feudalen Landwirtschaft in eine Notlage versetzt. Solange jene bestanden, fanden sie als Händler oder Vermittler, sog. Faktoren, ihr gutes Auskommen.“ [36]

 

3. Die Periode des Manufaktur- und des Industriekapitalismus

Der Kapitalismus im engeren Sinne beginnt mit der Renaissance, und er manifestiert sich zunächst in einer großartigen Ausdehnung der Handelsbeziehungen und in der Entwicklung der Manufakturen.

Soweit die Juden in Westeuropa weiter existieren (und das ist nur eine kleine Anzahl), nehmen sie an der Entwicklung des Kapitalismus teil. Aber die Theorie Sombarts, nach der die Juden einen überragenden Anteil an der Entwicklung des Kapitalismus gehabt hätten, stammt aus dem Reich der Phantasie. Eben weil die Juden den primitiven (Kaufmanns- und Wucher-)Kapitalismus repräsentierten, konnte die Entwicklung des modernen Kapitalismus ihrer gesellschaftlichen Stellung nur schaden.

Diese Tatsache schließt nun keineswegs die individuelle Beteiligung von Juden an der Schaffung des modernen Kapitalismus aus. Aber wo immer sich die Juden in die Kapitalistenklasse integrieren, erfolgt auch ihre Assimilierung. Der Jude als Großunternehmer und Aktionär der Indisch-Holländischen oder der Indisch-Englischen Kompagnie steht an der Schwelle zur Taufe, einer Schwelle, die er mit großer Leichtigkeit überschreitet. Der Fortschritt des Kapitalismus geht Hand in Hand mit der Assimilierung der Juden in Westeuropa.

Wenn das Judentum in Westeuropa nicht völlig verschwunden ist, so deshalb, weil ein massiver Zufluß von Juden aus Osteuropa erfolgte. Die jüdische Frage, wie sie sich heute auf internationaler Ebene stellt, muß in erster Linie auf die Situation des Judentums in Osteuropa zurückgeführt werden.

Diese Situation ist selbst wieder Resultat der ökonomischen Rückständigkeit dieses Teils der Welt. Die besonderen Gründe der jüdischen Emigration verbinden sich so mit den allgemeinen Gründen der Auswanderungsbewegung des 19. Jahrhunderts.

Die Emigrationswelle des 19. Jahrhunderts wurde größtenteils hervorgerufen durch die im Verhältnis zu dem raschen Verfall der feudalen oder der Manufaktur-Wirtschaft unzureichende Entwicklung des Kapitalismus. Dem englischen Bauern, von der Kapitalisierung aus der Landwirtschaft vertrieben, schloß sich der von den Maschinen verdrängte Handwerks- und Manufakturarbeiter an. Diese Massen von Bauern und Handwerkern mußten sich, von dem neuen wirtschaftlichen System vertrieben, einen neuen Broterwerb jenseits des Ozeans suchen. Einer solchen Entwicklung sind jedoch Grenzen gesetzt. Aufgrund des raschen Anwachsens der Produktivkräfte in Westeuropa konnte der Teil der Bevölkerung, der seiner Mittel zum Lebensunterhalt beraubt war, bald in ausreichendem Maße Arbeit in der Industrie finden. Deshalb erlahmt in Deutschland beispielsweise die noch Mitte des 19. Jahrhunderts sehr starke Auswanderung gegen Ende desselben fast völlig. Gleiches gilt für England und die anderen Länder Westeuropas. [37]

Aber während die Unausgeglichenheit der Gesellschaft zwischen dem Verfall des Feudalismus und der Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa verschwindet, verschärft sie sich in den rückständigen Ländern Osteuropas. Die Zerstörung der Feudalwirtschaft und der primitiven Formen des Kapitalismus erfolgt sehr viel schneller als die Entwicklung des modernen Kapitalismus. Immer größere Massen von Bauern und Handwerkern sind gezwungen, ihr Heil in der Emigration zu suchen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind es hauptsächlich Engländer, Irländer, Deutsche und Skandinavier, die nach Amerika auswandern. Ende des 19. Jahrhunderts überwiegt das slawische und jüdische Element bei den Massen, die nach Amerika ziehen.

Vom Anfang des 19. Jahrhunderts an suchen die Juden neue Wege der Einwanderung. Zunächst jedoch orientieren sie sich nach dem Inneren Rußlands und Deutschlands. Es gelingt ihnen, in den großen Industrie- und Handelszentren Fuß zu fassen, in denen sie eine wichtige Rolle als Kaufleute und Industrielle übernehmen. Wichtig und neu ist hierbei, daß zum ersten Mal seit Jahrhunderten ein jüdisches Proletariat auftaucht. Die Volks-Klasse beginnt sich gesellschaftlich zu differenzieren.

Das jüdische Proletariat konzentriert sich jedoch vorwiegend auf dem Sektor der Konsumgüterindustrie und ist hauptsächlich ein handwerkliches Proletariat. In dem Maße, in dem die Großindustrie den Rahmen ihrer Ausbeutung erweitert, gehen die handwerklichen Zweige der Wirtschaft zurück.

Die Werkstatt weicht der Fabrik. Es zeigt sich, daß die Integration der Juden in die kapitalistische Wirtschaft noch sehr prekär war. Nicht nur der „vorkapitalistische“ Händler, sondern auch der handwerkliche Arbeiter wird zur Emigration gezwungen. Eine immer beachtlichere Zahl von Juden verlassen Osteuropa, um nach Westeuropa und Amerika aus- zuwandern. Die Lösung der jüdischen Frage, d. h. das vollständige Eindringen der Juden in die Wirtschaft, wird zum Weltproblem.

 

4. Der Niedergang des Kapitalismus

Der Kapitalismus hat mit der sozialen Differenzierung des Judentums, mit seiner wirtschaftlichen Integration und mit der Emigration die Grundlagen für die Lösung der jüdischen Frage geschaffen. Aber er hat sie nicht gelöst. Im Gegenteil, die furchtbare Krise der kapitalistischen Ordnung im 20. Jahrhundert hat die Lage der Juden unerhört verschlechtert. Den aus ihren wirtschaftlichen Positionen im Feudalismus verdrängten Juden gelang es nicht, sich in die im Auflösungsprozeß befindliche kapitalistische Wirtschaft zu integrieren. In seinen Krisenanfällen verwirft der Kapitalismus selbst jene jüdischen Elemente, die er sich noch nicht völlig einverleibt hat.

Überall entwickelt sich ein wütender Antisemitismus in den Mittelschichten, die an den kapitalistischen Widersprüchen zugrunde zu gehen drohen. Das Großkapital bedient sich dieses elementaren Antisemitismus des Kleinbürgertums, um die Massen um die Fahne des Rassismus zu mobilisieren.

Die Juden werden zwischen zwei Systemen zerrieben: dem Feudalismus und dem Kapitalismus, von denen jeder den Fäulnisprozeß des anderen vorantreibt.

 

 

Fußnoten

1. J. Bédarride, Les Juifs en France, en Italie et en Espagne, Paris 1859.

2. Ben Adir, Antisemitismus, in: Algemeine yidishe Enzyklopedie.

3. Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, Berlin 1970, S.372.

4. Ebd., S.374.

5. Ebd., S.352.

6. A. Ruppin, Les Juifs dans le monde moderne, Paris, Payot 1934.

7. Flavius Josephus, De bello Judaico, II, XVI.

8. „Zuvörderst wissen wir von keiner feindlichen Gewalt, welche vor der letzten Zerstörung Jerusalems Massen unseres Volkes gedrängt hätte, sich über Kleinasien, über Inseln des Mittelmeers, über Mazedonien und Griechenland zu verbreiten.“ Rabbi Levi Herzfeld, Handelsgeschichte der Juden des Altertums, Braunschweig 1879; 2. Aufl., 1894, S.203.

9. Karl Kautsky, Das Massaker von Kischineff und die Judenfrage, in: Die Neue Zeit, XXI, 2, 1903, S.304.

10. Adolphe Lods, Israël, des origines au milieu du VIIIe siécle“, Paris 1930, S.22.

11. L. Brentano, Die Anfänge des modernen Kapitalismus, München 1916, S.15.

12. R. Herzfeld, op. cit., S.203.

13. Henri Pirenne, Mahomet et Charlemagne, 2. Aufl., Paris-Brüssel 1937, S.3.

14. Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd.III, Berlin 1889, S.550.

15. Werner Sombart schreibt in seinem Werk von so unterschiedlichem Niveau (Die Juden und das Wirtschaftsleben, München/Leipzig 1922), wo sich neben Absurditäten schlimmster Art sehr interessante Untersuchungen antreffen lassen: „(...) ich finde in der jüdischen Religion dieselben leitenden Ideen, die den Kapitalismus charakterisieren.“ Diese Behauptung ist richtig unter der Voraussetzung, daß man unter Kapitalismus den „vorkapitalistischen“ Handel und Wucher versteht. Wir werden weiter unten sehen, daß es falsch ist, anzunehmen, daß die Juden einen überwiegenden Anteil am Aufbau des modernen Kapitalismus gehabt hätten (vgl. Kap. V). Zur Unterstützung seiner These zitiert Sombart viel aus dem Talmud und anderen religiösen Büchern, die einen engen Zusammenhang zwischen jüdischer Religion und Handelsgeist widerspiegeln. Einige Beispiele: „Wer gern in Freuden lebt, dem wird s mangeln; und wer Öl und Wein liebt, wird nicht reich.“ (Sprüche Salomonis, 21, 17). „(...) (du) wirst (...) vielen Völkern leihen, und du wirst von niemand borgen (...).“ (5. Mose, 15, 6). „In des Gerechten Haus ist Guts genug; aber in dem Einkommen des Gottlosen ist Verderben.“ (Sprüche Salomonis, 15, 6)

„Rabbi Eleasar hat gesagt: Daraus geht hervor, daß die Gerechten ihr Geld mehr lieben als ihren Körper.“ (Sota 12a). „Auch dieses hat Rabbi Zizchak noch bemerkt: Der Mensch soll immer sem Geld in Gebrauch haben.“ (Baba mezia 42a). (Bei den beiden zuletzt zitierten Stellen handelt es sich um zwei Schriften aus dem Talmud). Es ist natürlich schwer, einen Überblick über den Wirrwarr von geschriebenen und kommentierten Texten aus den verschiedensten Epochen und Gebieten zu erlangen. Der kaufmännische Geist ist jedoch klar in dem Großteil aller Schriften zu erkennen. Das Werk Sombarts ist in diesem Sinne nur die Illustration der marxistischen These, daß die Religion nur die Ideologie einer Klasse widerspiegelt. Aber Sombart bemüht – wie andere bürgerliche Weise – eine andere Kausalbeziehung: Für ihn ist die Religion der Primärfaktor.

16. Henri Laurent, Religion et affaires, in: Cahier du libre Examen, (Brüssel 1938). Aristoteles sagt in seinem Werk Politeia: „Zurecht hat man eine Abneigung gegen den Wucher, da er den Reichtum aus dem Geld selbst zieht, das nicht mehr seiner ursprünglichen Bestimmung nach verwendet wird. Es ist für den Austausch geschaffen worden, der Wucher aber vermehrt es unabhängig. Der Zins ist das Geld des Geldes. Dies ist von allen Erwerbsmöglichkeiten die widernatürlichste ... Die Bürger dürfen weder handwerkjiche noch kaufmännische Berufe ausüben; denn diese Lebensweise ist niedrig und widerspricht der ‚Tugend‘.“ (Politeia, 1, 10, 1258 b; VII, 9, 1328 b)

17. Im Gegensatz zur Ansicht vieler Historiker basiert die antike Wirtschaft – trotz ihrer recht wichtigen kommerziellen Transaktionen – auf der Produktion von Gebrauchswerten:

„Die Familienindustrie dominiert nicht nur in den primitiven Gesellschaften, sondern auch in denen der Antike und reicht bis ins frühe Mittelalter hinein. Die Menschen sind wirtschaftlich in kleine, selbständige Gruppen aufgeteilt, so daß sie ihren Bedarf selbst decken, da sie nicht mein verbrauchen als sie herstellen und kaum mehr herstellen, als sie unbedingt brauchen. Der Tausch und die Arbeitsteilung existieren nur in einem embryonalen Stadium.“ (Charles Gide, Principes d’économie politique, 6. Aufl., Paris 1898, S.165)

18. Jean Juster, Les Juifs dans l’Empire romaine, Paris 1914, S.125.

19. Henri Laurent, Religion et affaires, op. cit.

20. „So besitzt damals weder der Grundherr noch der Bauer in der Regel größere Geldbeträge, der größte Teil seines Reichtums besteht in Gebrauchswerten, in Getreide, Flachs, Vieh und so weiter. ... Warenzirkulation, Zirkulation von Geldkapital, also Geldwirtschaft überhaupt, sind dieser Gesellschaftsverfassung im Grunde fremd; das Geldkapital lebt nach Marx anschaulichem Ausdruck, nur in ihren Poren. In diese Lücken jener Gesellschaft springt nun der Jude ein.“ Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, in Werke, Bd.1, S.415.

21. Pirenne sagt folgendes über die Erhaltung des nationalen Charakters der Deutschen in den slawischen Ländern: „Der wesentliche Grund hierfür ist ohne Zweifel die Tatsache, daß sie bei den Slawen die Initiatoren und über Jahrhunderte hinweg die besten Vertreter der Städtekultur waren. Die Deutschen haben bei den landwirtschaftlichen Völkern das Bürger- tum eingeführt. Von Anfang an stachen sie von ihnen ab.“ Henri Pirenne, Histoire de l’Europe, Brüssel 1936, S.249.

22. Augustin Thierry, Histoire de la conquête de l’Angleterre par les Normands, 1825.

23. K. Kautsky, Rasse und Judentum, Ergänzungshefte zur Neuen Zeit Nr.20, 1914/15, 5. 26. – Da die Mauern, die die verschiedenen Klassen trennen, in der vorkapitalistischen Epoche undurchdringbar sind, passiert es sehr oft, daß sich die nationalen Unterschiede sehr lange halten. Sie offenbaren sich vor allem in der sprachlichen Vielfalt. Die Sprache des eroberten Volkes wurde zur verachteten Volkssprache degradiert, und die Sprache der Eroberer wurde die Sprache der besseren Schichten. In England sprach der normannische Adel jahrhundertelang französisch, während das Volk sich auf angelsächsisch unterhielt. Aus der Vermischung dieser beiden Sprachen entstand das heutige Englisch. Auf die Dauer vermischten sich die sprachlichen Unterschiede. Die Burgunder, die Franken und andere Barbaren zögerten nicht, die Sprache ihrer Unterworfenen anzunehmen. Im Gegensatz hierzu haben die arabischen Eroberer den von ihnen eroberten Völkern ihre Sprache aufgezwungen. Diese sprachlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Klassen verschwinden völlig erst mit dem Augenblick, in dem die Bourgeoisie zur Macht gelangt.

Ludwig Gumplowicz beschreibt unter anderem, „wie die einen Stände (Herrenstand, Bauern, Handelsstand) aus dem Zusammentreffen heterogener ethnischer Elemente entstehen; wie ihre Verschiedenheit... sich leichter erhält, weil sowohl die anthropologische, als die moralische Verschiedenheit die Sonderung und gegenseitige Abschließung der späteren Stände und Kasten im Staate unterstützt.“ L. Gumplowicz, Grundriß der Soziologie, Innsbruck 1926, S.130.

24. „Der jüdische Kapitalismus ist ein spekulativ-parasitärer Kapitalismus; der puritanische Kapitalismus entspricht der bürgerlichen Organisation der Arbeit.“ (Max Weber)

Sicherlich ist die Übereinstimmung von Klasse und Religion nicht vollständig. Nicht alle Edelleute sind Katholiken und nicht alle Bürger schließen sich dem Calvinismus an. Aber die Klassen drücken der Religion ihren Stempel auf. So „hatte der Widerruf des Edikts von Nantes“ zur Folge, daß Ende des 17. Jahrhunderts etwa 100.000 Protestanten flohen. Sie stammten nahezu alle aus Städten und gehörten den industriellen und kaufmännischen Schichten an. (Die hugenottischen Bauern waren nur scheinbekehrt und verließen kaum das Königreich)“. Henri Sée, La France économique et sociale au XVIIIe siécle, 3. Aufl., Paris 1939, S.15.

25. Karl Marx, Das Kapital, Bd.III, MEW 25, S.341, 342, 623.

26. Außer bei einem mongolischen Volksstamm (den Chazaren), der an den Küsten des Kaspischen Meeres lebte und im 8. Jahrhundert den jüdischen Glauben annahm. Besteht eine Beziehung zwischen dem kaufmännischen Charakter dieses Volks und seiner Bekehrung zum Judentum?

27. Henri Pirenne, Les anciennes démocraties des Pays-Bas, Paris 1910.

28. Vortrag von S.M. Dubnov bei der Versammlung der historischen und ethnographischen Gesellschaft von St. Petersburg (vgl. seinen Artikel in der Zeitschrift Voschod Nr.12, 1894, auf russ.).

29. Schon im 5. Jahrhundert vor Christus sprechen die Juden der Diaspora aramäisch. Später benützen sie vor allem griechisch: „Die (Grab-)Inschriften (auf den jüdischen Friedhöfen in Rom) sind überwiegend griechisch, allerdings zum Teil bis zur Unverständlichkeit jargonartig; daneben finden sich lateinische (...) aber verhältnismäßig nur wenig hebräische.“ L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine, Bd.III, Leipzig 1920, S.207.

30. Es wäre interessant zu untersuchen, warum die Juden in den slawischen Ländern so lange ihren germanischen Dialekt erhalten haben (jiddisch).

31. A. Ruppin, Les Juifs dans le monde moderne, Paris 1934, S.265.

32. Ebd., S.136.

33. Ebd., S.136.

34. Zur Zeit der Entwicklung des Kapitalismus zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert war Assimilation in Westeuropa im allgemeinen gleichbedeutend mit dem Eindringen in die christliche Kapitalistenklasse. Das Vordringen der Juden in die Kapitalistenklasse kann verglichen werden mit der Verwandlung der Feudalherren in Kapitalisten. Auch hier endet der Kampf der Bourgeoisie gegen den Feudalismus in bestimmten Fällen mit der totalen Enteignung der feudalen Klasse (Frankreich) oder mit der Integration der Feudalherren in die Kapitalistenklasse (England, Belgien). Die kapitalistische Entwicklung hat ähnliche Folgen für die Juden. Manchmal müssen sie sich assimilieren, manchmal werden sie ausgerottet.

35. Im allgemeinen hatten die Judenverfolgungen sozialen Charakter. Aber das Zurückbleiben der Ideologie hinter dem gesellschaftlichen Unterbau kann auch einige rein religiöse Verfolgungen erklären. In manchen Gebieten konnten die Juden ihre Religion erhalten, selbst als sie schon lange Landwirte geworden waren. In einem solchen Fall ist es das Ziel der Verfolgungen, die Bekehrung der Juden voranzutreiben. Die religiösen Verfolgungen unterscheiden sich von den religiös verbrämten, in Wirklichkeit jedoch sozialen Verfolgungen dadurch, daß sie weniger grausam sind und auf geringeren Widerstand der Juden stoßen. So scheinen die Juden in Spanien unter den Westgoten teilweise Landwirte gewesen zu sein. Die Könige der Wisigoten dachten nie daran, sie aus dem Lande zu verweisen, wie es später Ferdinand und Isabella taten. Die rein religiösen Verfolgungen müssen als Ausnahmen angesehen werden.

36. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, München 1919, Nachdruck Berlin 1955, Bd.III, 1: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, S.381f.

37. „(...) das wirtschaftliche Aufblühen der führenden Industrieländer Europas im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts drosselte diesen Auswandererstrom, bald aber begann die zweite Welle zu steigen; die hauptsächlich Auswanderer aus den Agrarländern Europas brachte; (...).“ Wladimir Woytinski, Tatsachen und Zahlen Europas, Wien/Leipzig/Paris 1930, S.60.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2002