Duncan Blackie

 

Die Revolution in der Naturwissenschaft

(1989)


Duncan Blackie, Revolution in science, International Socialism 2:42, Frühjahr 1989.
Übersetzung © 1997 Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeoiterbewegung (VGZA) e.V.
HTML-Markierung: Michael Gavin für REDS – Die Roten.


Eine Besprechung von Eine kurze Geschichte der Zeit, vom Urknall zu schwarzen Löchern, von Stephen Hawking.

 

Einleitung

Es mag seltsam erscheinen, daß eine sozialistische Zeitschrift eine Besprechung von einem Buch über Physik veröffentlicht. Noch seltsamer, daß sie Aufmerksamkeit einem Buch “über Gott ... oder vielleicht über die Abwesenheit Gottes” [1] schenken sollte. Eine kurze Geschichte der Zeit versucht Ideen zu popularisieren (es gibt nur eine Gleichung im ganzen Buch), die sehr wenige berufliche Physiker begriffen und noch weniger verstanden haben. Es muß schon das am wipptest gelesene wissenschaftliche Buch der letzten Jahre sein, es stand monatelang ganz oben in den bestsellerlisten.

Die Ideen in Hawkings Buch scheinen vielleicht sich mit Sachen zu beschäftigen, die bestenfalls für Sozialisten belanglos sind, schlimmstenfalls ausgesprochen reaktionär. Arbeiter schaffen es, Streiks zu organisieren, ohne daß sie sich darum kümmern müssen, ob die Lichtgeschwindigkeit konstant ist. Sozialisten haben erfolgreich Arbeiterkämpfe geführt, ohne die leiseste Ahnung von der Quantenphysik zu haben. Sozialisten können jedoch sich nicht auf unbestimmte Zeit von Fragen über die Naturwelt fernhalten. Frühere Interpretationen der Naturwelt haben sich zu Herausforderungen der wahren Grundlage der revolutionär-sozialistischen Ideen und sowohl Engels als auch Lenin widmeten beträchtliche Anstrengungen der Bekämpfung solcher Herausforderungen. [2] Und beim Versuch, eine Zusammenschmelzung der Physik und der Theologie zu studieren, ist Hawking kein Einzelgänger. Er steht in der Tradition der Hauptrichtung der modernen Physiker. Paul Davies z.B., ein äußerst populärer Schriftsteller, wird mit öffentlichen Geldern bezahlt, um an der Universität Physik zu lehren, die er als “sichereren Weg zu Gott als die Religion” betrachtet. [3] Hawking ist skeptischer Agnostiker, aber er fühlt sich gezwungen, sich um Gott zu kümmern, weil dies der Rahmen der Debatte ist. [4]

Das Ziel dieses Artikels besteht nicht darin, das erstaunliche durch die moderne Physik enthüllte Bild der grundsätzlichen Gesetze der Natur in Frage zu stellen, noch auch es deutlich zu erklären. (Hawking selbst liefert eine der bislang deutlichsten Erklärungen.) Ich will aber den Zustand der modernen Physik untersuchen, erklären, warum der Fach so viel Kontroverse im Laufe des 20. Jahrhunderts verursacht hat und was er für das Verhältnis zwischen der Klassengesellschaft und dem wissenschaftlichen Verständnis bedeutet. Eine volle Behandlung eines von diesen Themen geht weit über den Ausmaß dieses Artikels hinaus, aber ich hoffen, daß ich einige der von Hawkings Buch erhobenen Fragen benutzen kann, um sie im groben Grundriß zu skizzieren.

 

 

Worum geht das ganze Theater?

Diese sind aufregende Zeiten in der Physik. Große Einheitstheorien sind am Rande davon, alle grundsätzliche Kräfte des Universums für das erste Mal zusammenzubringen. Diese Entwicklungen haben nicht bloß eine verwirrende Vielzahl von grundsätzlichen Partikeln enthüllt, sie haben auch damit begonnen, eine mögliche Antwort auf einer der grundsätzlichen Fragen in der Physik des 20. Jahrhunderts zu liefern. Der Durchbruch, den Hawking beschreibt – und wofür er zum Teil verantwortlich ist – betrifft “zwei grundsätzliche Teiltheorien – die allgemeine Relativitätstheorie und Quantenmechanik”, die sagt er, “die großen intellektuellen [geistigen] Errungenschaften der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts sind”. [5]

Diese beiden Theorien bilden das Fundament der modernen Physik. Leider haben sie sich bis vor kurzem als unvereinbar bewiesen. Sehr grob skizziert, die allgemeine Relativität beschäftigt sich mit langen Entfernungen, großen Massen und sehr hohen Geschwindigkeiten. Die Quantenmechanik beschreibt das Verhalten im kleinen Ausmaß von elementaren Partikeln. Solange man bloß das Verhalten der Planeten oder bloß Partikel untersuchen will, dann ist die Unvereinbarkeit der beiden Theorien von wenig Bedeutung. Sie werden sicher weit voneinander getrennt an gegenseitigen Enden des Spektrums gehalten. Hawking will jedoch wissen, wie das Universum anfängt und wie es, wenn überhaupt, endet. Hier stoßen die beiden Theorien zusammen. falls das Universum von einem “Urknall” begann oder in einem “Endknall” enden sollte, dann werden die Gesetze der allgemeinen Relativität, die das Funktionieren des Universums im großen Ausmaß regeln, zu diesen Punkten scheitern und die Quantengesetze werden maßgebend sein. Die Lösung, auf die Hawking und andere jetzt gekommen sind, besteht darin, die beiden Theorien zur “Quantenrelativität” bzw. “Quantengravitation” zu integrieren. Aber das bedarf der Aufgabe davon, was bislang als eine der großen Gewißheiten des Universums galt.

Die Lösung bedarf der Anwendung der Fadentheorie [?], worin das Universum nicht durch drei ähnliche Dimensionen plus einer anderen, der Zeit, beschrieben wird. Einstein hat schon bewiesen, daß es wesentlich ist, die besondere Trennung zwischen den ersten drei Dimensionen und der vierten zu brechen. Das mag verwirrend genug scheinen, aber die Fadentheorie bedarf 10 Dimensionen, laut der Mehrheit ihrer Anhänger, andere sagen, daß sie auch bis zu 26 Dimensionen bedürfen könnte. Laß uns hier deutlich sein. Wir sprechen nicht hier über die Verwendung von 10 bzw 26 Dimensionen bloß als Rechenwerkzeugen, wie Mathematiker vielleicht mit “imaginären” Zahlen machen. Wir sprechen hier davon, daß das wirkliche Universumviel in Wirklichkeit mehr Dimensionen habe, als wir gewöhnlich wahrnehmen, nicht von einer List, wodurch Menschen das Universum verstehen können. Wie kommt es dazu, daß wir nicht merken, daß es 10 (bzw. mehr) Dimensionen gibt? Laut Hawking:

Der Vorschlag ist, daß die anderen Dimensionen in ein Raum von winziger Größe gekrümmt sind, etwa in der Ordnung von einem Billionstel Zoll. Dies ist so klein, daß wir einfach es nicht merken; wir betrachten bloß eine Zeit- und drei Raumdimensionen, in denen Die Raumzeit relativ flach ist. [6]

Also praktisch ist das Universum ungefähr vierdimensional unter “normalen” Umständen.

Die Fusion [Zusammenschmelzung] der allgemeinen Relativität und der Quantenmechanik liefert einige noch überraschendere Ergebnisse. Schwarze Löcher z.B. werden von der allgemeinen Relativität gerade durch die Tatsache definiert, daß nichts, auch nicht das Licht, ihnen entkommen kann. Trotzdem wenn man die Quantenmechanik hinzufügt, gibt es nichts, daß die zufällige Ausstrahlung von Photonen und Partikeln aus einem schwarzen Loch halten kann. Grundsätzlicher gibt Quantengravitation uns einen starken Hinweis über die größere Beschäftigung der modernen Physik: Was ist der Ursprung des Universums? Laut Hawking:

in der klassischen Theorie, die auf die wirkliche Raum-Zeit beruht, gibt es nur zwei mögliche Weisen, wie das Universum sich verhalten kann: entweder existierte es seit einer endlosen Zeit oder es hatte einen Anfang bei einer Singularität zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit. [7] (Eine Singularität ist ein Punkt, worin die Materie mit unendlicher Dichte in einer unendlich kleinen Größe komprimiert worden ist.)

Seit Jahrzehnten heiß die Orthodoxie, daß das Universum aus einem Urknall geschaffen wurde. Anfänglich scheint das eine äußerst materialistische Erklärung zu sein. Trotzdem weicht sie immer noch die Frage aus: Falls das Universum zu Zeitpunkt Null effektiv tot war (Das wäre die Implikation einer Singularität), dann würde das nicht einer äußeren Kraft bedürfen, um den Urknall auszulösen, egal wie klein diese kraft sein möchte? “Beim Urknall und anderen Singularitäten”, sagt Hawking “hätten alle Gesetze gescheitert, deshalb hätte Gott absolute Freiheit zu wählen, was passieren und wie das Universum beginnen sollte.” [8] Eine kurze Geschichte der Zeit gibt eine andere Antwort:

Wenn wir Quantenmechanik mit der allgemeinen Relativität kombinieren, scheint es, daß es eine neue Möglichkeit gibt, die nicht früher entstanden ist: das Raum und Zeit zusammen einen begrenzten vierdimensionalen Raum ohne Singularitäten und Grenzen bilden könnten ... Aber wenn das Universum völlig selbstgenügsam ist mit keinen Singularitäten oder Grenzen, und völlig von einer Einheitlichen Theorie beschrieben wird, hat das tiefgreifende Implikationen für die rolle Gottes als Schöpfer. [9]

Mit anderen Worten, Hawkings Schlußfolgerung ist, daß es in Wirklichkeit bedeutungslos ist, über einen Anfang oder ein Ende des Universums zu reden. Das alte Problem [Rätsel], ob das Universum sich unendlich in die Zeit zurückdehnt, oder ob es zu irgendeinem Zeitpunkt einen Anfang hätte haben müsen, wird zerstört. Das alles mag sehr interessant klingen, aber warum sollten wir überhaupt erstaunt sein, daß Gott aus einer Erklärung des Universums ausgeschnitten worden ist? Die Lösung dieses Problem bedarf kaum der großen Fortschritte der modernen Physik. Engels z.B. bestand vor über 100 Jahren darauf, daß es keinen Anfang des Universums gebe aus dem überaus vernünftigen Grund, daß jede andere Lösung der göttlichen Einmischung bedürfte. [10] Trotzdem reagiert man auf Hawkings Buch abwechselnd mit Kontroverse oder mit verblüfftem Erstaunen seitens Rezensenten, die es als irres Raumabenteuer pushen wollen. Das wirkliche Interessante dabei ist jedoch nicht dieses oder jenes Ergebnis, obwohl diese wichtig sind, sondern deswegen, weil es ein Schlaglicht auf das große Dilemma der modernen Physik wirft.

Trotz der großen Fortschritte dieses Jahrhundert gibt es gerade im Kern der modernen Physik eine Krise, die aus dem Mangel an einem radikalen konsequenten Materialismus. folglich haben gerade die Erfolge der theoretischen Physik aufeinanderfolgende Krisen für die Physik selbst verursacht. Die beiden bestenBeispiele davon liefert das Schicksal der beiden größeren Theorien, der allgemeinen Relativität und der Quantenmechanik, die die Basis für Hawkings Arbeit bilden.

 

 

Die Kontroverse in der Physik des 20. Jahrhunderts

Für über zwei Hundert Jahre hielt ein naturwissenschaftliches Werk kanonischen Status, Newtons Principia. Es war das erste Versuch, eine systematisches Verständnis des Universums zu schaffen. Und trotz der Tatsache, daß Newton ein fester Gläubiger an einem Absoluten Gott blieb, haben seine Theorien durchaus materialistische Implikationen. Die Bewegung von Körpers, nach dem Newtonschen system, werden als Ergebnis ihrer vergangenen Geschichte der Wechselwirkungen mit anderen Körpern, die durch einen Satz von einfachen gesetzen geregelt werden. Diese Weltanschauung war mit der Entwicklung der Klassengesellschaft verbunden. Sie war laut Hobsbawm

ein Verständnis des Universums im Bild des Architekten oder der Ingenieurs: ein Gebäude, noch nicht fertig, aber dessen Fertigstellung nicht lange verzögert würde; ein Gebäude, das auf “die Tatsachen” beruhte, zusammengehalten durch den festen Rahmen von Ursachen und bestimmenden Wirkungen und “den Naturgesetzen” und aufgebaut mit den zuverlässigen Werkzeugen der Vernunft und der wissenschaftlichen Methode; ein Gebilde des Intellekts, aber eins, das auch in immer genaueren Annäherungen die objektiven Realitäten des Kosmos ausdrückte.

In den Köpfen der siegreichen bürgerlichen Welt verursachte der riesige statische Mechanismus des Universums, der vom 17. Jahrhundert vererbt, aber durch Ausdehnung in neue Bereichen verstärkt wurde, nicht nur Permanenz [Beständigkeit] und Vorhersagbarkeit, sondern auch Verwandlung. Er verursachte Evolution (die sich leicht mit säkularem “Fortschritt” mindestens in menschlichen Angelegenheiten ließe). Es waren dieses Modell des Universums und Weise, wie die menschliche Denkweise es verstand, die jetzt zusammenbrachen. [11]

Aber solange dieses System dauerte, schien es, als ob immer komplexere Systeme sich durch ein einfaches Wachstum solcher Kenntnisse verstehen ließen. Diese konnte den Materialismus stützen, konnte aber auch zu einem äußerst rigiden Determinismus führen. Vielleicht die stärkste Äußerung davon kam von Pierre Simon de Laplace:

Wir können den gegenwärtigen Stand des Univdersums als die Wirkung seiner Vergangenheit und die Ursache seiner Zukunft betrachten. Eine Intelligenz, die zu einem gegebenen Augenblick die ganzen Kräfte, die die Natur animieren, und die relativen Positionen der Wesen, aus denen sie besteht, kennt und die weiter die Fähigkeit besitzt, diese Daten zu analysieren, könnte die Bewegung der größten Körper des Universums und des kleinsten Atoms in eine Gleichung zusammenfassen: für eine solche Intelligenz würde nichts unsicher sein, Vergangenheit sowie Zukunft würden vor ihren Augen sein. [12]

Es gibt zwei Gründe, warum dieser Determinismus einen umfassenden Idealismus, mit dem Newton ganz zufrieden gewesen wäre, nicht ausschließen kann. Hawking erkennt einen, verpaßt den anderen, zu dem wir später zurückkehren werden. Hawking sagt:

Der Laplacesche Determinismus ist zweierlei unvollständig. Er sagte nicht, wie die Gesetze gewählt werden sollten, und er bestimmte nicht die ursprüngliche Konfiguration des Universums. Diese wurden Gott überlassen. Gott würde wählen, sie das Universum anfing und welche Gesetze es gehorchen würde, aber er würde nicht ins Universum einmischen, wenn es einmal angefangen hätte. Praktisch wurde Gott auf die Bereiche beschränkt, die die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts nicht verstand. [13]

Bis zu den 1880er Jahren wurde dieses einfache mechanische Modell der Physik bedroht, als neue Technologien gebraucht wurden, um die Beschränkungen der alten zu überwinden. Die Thermodynamik z.B. hängt nicht von einer schrittweise gesammelten Anhäufung des Wissens über das Verhalten einzelner Moleküle in einer Flüssigkeit, sondern von einer “holistischen” Beschreibung der Nettowirkung des wahrscheinlichen Verhaltens einer großen Anzahl von Molekülen. [14] Es war jedoch die Entwicklung der beiden großen Ecksteine der modernen Physik, die die größten Krisen der newtonschen Orthodoxie schufen. Das Jahr 1905 zeugte die Vorstellung sowohl der Quantenphysik als auch der speziellen Relativität, unter Einsteins drei größeren Referaten jenes Jahres. [15]

Zuerst spezielle Relativität. Das Zeichen dafür war eine Krise, die durch die Entwicklung der elektromagnetischen Feldtheorie aufgeworfen wurde. Laut Maxwells Theorien müßten elektromagnetische Wellen (wie Licht) sich bei einer konstanten Geschwindigkeit relativ zu jedem Beobachter bewegen. [16] Deshalb wurde die Vorstellung entwickelt, daß irgendein Medium auch im Raum existierte, die ein absolutes Bezugssystem bzw. ein stabiles Medium für Wellen sowie Partikeln lieferte: der Äther. Wiederum war dies im Einklang mit Newton, der auf einem absoluten Bezugssystem bestanden hatte. Aber darauffolgende Experimente, die qualvoll versuchten, Beweise für einen Äther zu finden, wodurch die Erde sich bewegte oder den die Erde mit sich schleppte, bewiesen sich als nutzlos.

Einsteins Theorie, die, sagte er, “eine erstaunlich einfache Zusammenfassung und Verallgemeinerung von Hypothesen” sei, “die vorher voneinander unabhängig gewesen sind”, wurde einfach den Äther vollständig los. Daraus floß die Thesen, daß nichts schneller als Licht fahren kann, daß Masse mit Energie austauschbar ist (ein Photon z.B. hat Masse, woraus die berühmte Gleichung e = mc2 kommt) und die Zeit nach der Geschwindigkeit, womit ein Körper sich bewegt, verzerrt werden kann. Diese Theorien und andere, die folgten, sind für die moderne Physik wesentlich. Ohne die hätte z.B. die Mondflüge ihr Ziel verpaßt. [17]

Ohne die spezielle Relativität hätte die durch den Zusammenstoß zwischen der konventionellen Mechanik und der elektromagnetischenTheorie zu einer riesigen Krise an der wahren Grundlage der Physik geführt. Einsteins Werk war deshalb unverzichtbar für die Rettung jeder Hoffnung nach einemmaterialistischen Verständnis der Welt.

Aber auch mit der speziellen Relativität wurde die Physik in eine Krise gestürzt. “Raum und Zjet”, sagte Bertrand Russell 1914, “haben für die Relativitätsphysik aufgehört zu sein, ein Teil der Grundzüge der Welt besteht, so wird jetzt zugegeben, aus Konstruktionen.” [18] Gerald Holton argumentiert, daß, um einen Durchbruch zu erringen,

Man mußte nur die Vorstellung eines absoluten Bezugssystem aufgeben und damit den Äther. Aber ohne diese änderte sich die gewohnte Landschaft plötzlich, drastisch und in jedem Detail. Die Physik wurde ohne ihre alte Hoffnung gelassen, die zum Teil und manchmal erfreulicherweise erfüllt worden war, nämlich alle Erscheinungen mittels einer konsequenten mechanistischen Theorie zu erklären. [19]

Mit anderen Worten, als die Physik gezwungenermaßen den sicheren Ankergrund des newtonschen Systems verlassen hatte, betrat sie ein ideologisches Schlachtfeld, auf dem viele wissenschaftsfeindliche Ideen um ihre Loyalität kämpften.

 

 

Der Machismus

Die entstehende Krise in der Physik hatte schon einen neuen Helden erzeugt, der fast fast als ebenbürtig mit Newton betrachtet wurde bis zum Zeitpunkt, als Einstein seine Referate veröffentlichte. Während der 1880er Jahre hatten die Neokantianer, Ernst Mach und seine Anhänger, die Physiker dazu aufgerufen, “die endgültigen Prinzipien aller physikalischen Argumentation erneut zu überlegen, besonders den Ausmaß und die Gültigkeit der Newtonschen Bewegungsgesetze und der Vorstellungen Kraft und Aktion, absoluter und relativer Bewegung”. [20] In der Einleitung zu seinem wichtigsten Werk Wissenschaft der Mechanik, die 1883 veröffentlicht wurde, sagte Mach: “... seine Absicht ist ... eine antimetaphysische.” [21]

Aber die Methode, wodurch er hoffte die Metaphysik aus der Naturwissenschaft auszutreiben, hatte keine Erfolgschancen. Letzten Endes erreichte er bloß ihre Auferstehung. Einer seiner Anhänger Moritz Schlick sagte:

Mach hielt, daß wir diese Gefühle und Gefühlskomplexe als die einzigen Inhalte dieser Aussagen können und müssen und daß deshalb es keinen Bedarf gab, zusätzlich eine unbekannte Realität anzunehmen, die hinter den Gefühlen verborgen war. Damit wird das bestehen der Dinge an sich als ungerechtfertigte und unnotwendige Voraussetzung entfernt. Ein Körper, ein physikalischer Gegenstand, niest nicht anderes als ein Komplex, ein mehr oder weniger festes (wir würden sagen unveränderliches) Muster von Gefühlen ... [22]

Diese sich entwickelnde Krise fand ihr deutlichster Ausdruck in der Mathematik. Wie Eric Hobsbawm angedeutet hat:

Irgendwann in der Mitte des 19. Jahrhunderts fing der Fortschritt des mathematischen Denkens an, nicht nur (wie auch früher) Ergebnisse zu erzeugen, die der wirklichen Welt, wie von den Sinnen betrachtet, widersprachen, wie die nicht-euklidsche Geometrie, sondern Ergebnisse, die auch den Mathematikern schockierend schienen ... Was Bourbaki “die Pathologie der Mathematik” nannte, fing an ..., aber die dramatischste und “unmöglichste” Entwicklung war vielleicht die Untersuchung der unendlichen Größen durch Cantor, die eine Welt erzeugte, in der intuitive Vorstellungen von “größer” und “kleiner” nicht mehr galten und die Regeln der Arithmetik nicht mehr ihre erwarteten Ergebnisse gaben. Es war ein aufregender Fortschritt, ein neues mathematisches “Paradies”, um Hilberts Phrase zu nutzen, aus dem die Avantgarde der Mathematiker ihre Verbannung ablehnte.

Eine Lösung – danach von der Mehrheit der Mathematiker verfolgt – bestand darin, die Mathematik von jeder Entsprechung der wirklichen Welt zu befreien und sie zu einer Ausarbeitung von Postulaten, allen möglichen Postulaten, die nur das Bedürfnis hatten, daß sie genau definiert und durch das Bedürfnis, daß sie nicht widersprüchlich seien, verbunden werden sollten ... Ihre Grundlagen wurden durch den rigorosen Ausschluß jeder Berufung auf die Intuition neu formuliert. [23]

Praktisch hatten diese Entwicklungen eine beschränkte Wirkung auf die wirkliche Entwicklung des naturwissenschaftlichen Verständnisses. Nichtsdestotrotz hatten diese Ideen eine tiefgreifende Wirkung auf die jungen Physiker jener Zeit. Laut Einstein “wissen auch diejenigen, die sich als Machs Gegner betrachten, kaum, wie viele von Machs Ansichten sie sozusagen mit dem Muttersmilch in sich aufgesaugt haben”. [24] Machs Anziehungskraft lag darin, daß er anscheinend eine radikale Alternative zur erschöpften Kraft des mechanischen Materialismus bat. Machs Ideen drängten auch in die Reihen der Bolschewistischen Partei ein. Bogdanow z.B. nahm die Theorien in seinem Buch Empiriomonismus auf, das 1904 zum 100. Todestag des Philosophen Immanuel Kant veröffentlicht wurde. Kants erneute Popularität [Beliebtheit] war das Ergebnis seiner Ansicht, daß

Bisher ist angenommen worden, daß unser Wissen den Gegenständen entsprechen muß ... Deshalb versuchen wir einmal zu sehen, ob wir nicht eine Lösung zu den Aufgaben der Metaphysik erreichen können, indem wir annehmen, daß die Gegenstände unserem wissen entsprechen müssen.

Kants Erkenntnistheorie nahm eine unüberbrückbare Trennung zwischen Geist und Realität an. Während der Periode der brutalen Reaktion, die dem Scheitern der 1905er Revolution folgte, begannen viele der Mitläufer Bogdanows, die logische Schlußfolgerung zu ziehen. Bogdanow gehörte einem Kreis von begabten jungen Bolschewiki an, die politisch vom modernen westlichen Denken beeinflußt wurden. Sie verachteten die rückständigen russischen Umstände und eifrig die kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen des Westens schluckten. Aber ihre Ungeduld stellte auch den Linksradikalismus in der russischen Bewegung dar. Als der Klassenkampf zurückging und die Reaktion einsetzte, waren sie die ersten, die den Glauben aufgaben, daß die Arbeiterklasse dazu fähig sei, die Welt zu ändern. Auf der Suche nach einer intellektuellen Rechtfertigung für diesen Schwenk zogen sie unter anderem auf ihre Interpretation der neuen Physik.

Lunatscharski z.B. sprach für den Fideismus, eine Doktrin, die das Wissen durch den Glauben ersetzt. [25] Er benutzte religiöse Metapher und sprach von “Gottsuche” und “Gottesaufbau”. Obwohl Bogdanow selbst nicht so weit ging, glaubte er doch, daß die Revolution in der Physik dazu führte, daß wir nicht hoffen könnten, daß wir das verstehen könnten, was über unsere Gefühle hinaus lag. Es Gang eine politische Parallele. In der Periode der Reaktion konnten viele keinen Weg finden, durch die oberflächliche Erscheinung der ehernen Herrschaft der zaristischen Autokratie [Selbstherrschaft] zu durchbrechen. Lenin trat energisch gegen die kantsche Interpretation der neuen Physik in seinem Buch Materialismus und Empiriokritizismus ein. [26]

Trotzdem, wenn viele bereit waren, Einsteins Durchbruch als den Ihrigen zu beanspruchen – Einstein war sicherlich kein Gegner des Machismus –, war er nicht mit den von ihnen gezogenen Schlußfolgerungen einverstanden. Er fand es “besonders ironisch, daß viele Leute glauben, daß in der Relativitätstheorie man Unterstützung für die antirationalistische Tendenz unserer Zeit finden könnte”. Später kam Einstein zum bewußten Bruch mit dem Machismus, aber auch während der ersten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts war die Lehre für ihn wenig von Nutzen. Aber Einstein betrachtete nie die Masse eine Photons oder die Verzerrung der Raum-Zeit. Die Durchbrüche machte man jetzt genau in jenen Bereichen, wo die Erfahrung wenige Hinweise, wenn überhaupt, zu liefern hoffen könnte.

Einsteins ambivalentes Verhältnis mit dem Machismus zeigt sich deutlicher mit der Entwicklung der allgemeinen Relativität. Die voll entwickelte Relativitätstheorie kam nicht, bis Einstein 1915 sein Referat über die allgemeine Relativität veröffentlichte. Jetzt sagte er, indem er ein Thema des früheren Werks entwickelte, daß die Zeit nicht nur durch Geschwindigkeit verzerrt werde, sondern durch Masse. Indem er annahm, daß nur die Laufbahn des Lichts und seine Geschwindigkeit die einzigen zuverlässigen Konstante im Universum seien, kam er zum Schluß, daß das Licht durch die Anwesenheit von massiven Körpern gebogen werden könne. Aber man sollte nicht es so vorstellen, daß das Licht gebogen werde, sondern die Dimensionen der Raum-Zeit selbst.

Wiederum liefert Einstein selbst die beste Erklärung [27], aber ihre logische Ableitung ist erstaunlich einfach, erscheint fast durch einen Taschenspielertrick. Er merkt, daß genau wie Beschleunigung die Laufbahn eines Lichtstrahls verzerrt und die Beschleunigung durch Gravitation unter anderem verursacht wird, dann so auch die Laufbahn des Lichts durch die Gravitation verzerrt wird. Das Bild von Einstein dem Machisten bricht zusammen. Die allgemeine Relativität beruhte auf kaum welche beobachteten Ergebnissen. Sie löste erfolgreich bloß eine Anomalie, die “Präzession” des Merkurs. Erst 1919 wurde die Wirkung der Masse der Sonne bei der Biegung des Lichts experimentell bestätigt.

Nicht alle liebten die Vorstellung, aber viele. Einige schlugen über die Stränge und verwendeten die allgemeine Relativität in ganz ungerechtfertigten Umständen. In 1916 z.B. berief sich einer von Einsteins Freunden, der “Machist-Marxist” Friedrich Adler, auf Relativität zu seiner Verteidigung, nachdem der den österreichischen Staatskanzler erschoß. Idealisten fühlten sich besonders zur Implikation angezogen, daß durch die Relativität irgendeinen Sonderstatus dem Beobachter verliehen habe. Die “wirkliche Welt”, so stellten sie sich vor, könne jetzt endgültig die Konstruktion eines individuellen Geistes sein.

Aber die wirkliche Beziehung zwischen der Entwicklung der Einsteinschen Theorie und seine Loyalität gegenüber Mach war kompliziert [komplex]. Mach hatte Berkeley gefolgt, indem er darauf bestand, daß die Zentrifugalkraft durch Bewegung relativ zu den Sternen verursacht werde. Schon im 17. Jahrhundert war das schwache Physik. Als Mach diese Idee aufnahm, hatte sie keine experimentelle bzw. theoretische Rechtfertigung mehr, trotzdem gefiel sie ihm. Dann ging er weiter, indem er sagte: “Es macht nichts, wenn wir es so vorstellen, daß die Erde um ihre Achse dreht, oder daß sie ruht, während die fixen Sternen um sie drehen.” Die Ausbeulung am Äquator der Erde ließe sich ebenso leicht dadurch erklären, daß die Sterne um die Erde drehen, als daß die Erde um die eigenen Achse umdrehe. Diese extreme Form des Relativismus wurde begeistert von Einstein aufgenommen, der das “Machsche Prinzip” die Vorstellung nannte, daß es wirklich um die Wechselwirkung aller Körper im Verhältnis miteinander gehe. Obwohl Mach die allgemeine Relativität äußerst verabscheute, nahm Einstein es sich vor, eine mathematische Version des Machschen Prinzips in seine Theorie einzuverleiben. Seltsamerweise schien es zu jenem Zeitpunkt, als ob man das Machsche Prinzip nur in eine besondere Art Universum einschließen könnte, nämlich ein geschlossenes ohne Anfang und ohne Ende.

Ob Einstein recht habe oder nicht, war das Thema einer intensiven Debatte für Jahrzehnte. Die Gleichungen, mit denen Einstein seine Theorie aufbaute, wurden nicht von ihm selbst gelöst. Er wußte nur, daß, wenn es eine Lösung gebe, seine Theorie richtig sei. Eine Lösung, die Einstein bestätigt, ist erst viel kürzlicher gefunden worden. [28] Jetzt scheint es nach dem Hawkingschen Universum, als ob Einstein recht hatte und daß das Universum dem Machschen Prinzip entspricht.

Doch diejenigen, die das Problem während der 1950er und 1960er Jahre lösten, hatten kein besonderes Interesse daran, dieses Element des Machismus zu retten. In Wirklichkeit wurden Einsteins Theorien weder durch eine bloße Ordnung der beobachteten “Tatsachen” noch durch Berufung auf die Gottheit des Machschen Prinzips entwickelt, sondern durch eine kreative Synthese der Gesamtheit eines Verständnisses der Naturwelt. Viel später schrieb Einstein:

Ich sah seine Schwäche darin, daß er mehr oder weniger glaubte, daß die Naturwissenschaft aus einer bloßen Ordnung des empirischen Materials bestehe; d.h. er erkannte nicht das frei konstruktive [schöpferische] Element bei der Formierung von begriffen. In einer Weise dachte er, daß Theorien durch Entdeckungen entstehen und nicht durch Erfindungen. Er ging sogar so weit, daß er “Empfindungen” nicht nur als Material betrachtete, die man untersuchen müßte, sondern sozusagen als die Bausteine der realen Welt; dabei glaubte er, er könne den unterschied zwischen der Psychologie und der Physik überwinden. Wenn er die vollen Konsequenzen gezogen hätte, hätte er nicht nur den Atomismus, sondern auch die Vorstellung eine physikalischen [physischen] Realität ablehnen müssen. [29]

Die Physiker um die Jahrhundertwende fanden Mach nützlich als Bruch mit der mechanistischen Vergangenheit, aber nichts mehr. “Er kann nicht irgendetwas lebendiges gebären, er kann nur schädliche Ungeziefer ausrotten” [30], um Einsteins Worte zu benutzen.

 

 

Wissenschaft und Gesellschaft 1: Weimar und Kausalität

Die vom Erfolg der Einsteinschen Relativität verursachte Revolution in der Physik verblaßt neben dem, was folgte. Die Relativität ist im wesentlichen eine Anpassung der alten Physik und enthält immer noch die Newtonsche Mechanik in sich als Sonderfall. Die Annahme der Theorie und ihre Implikationen verursachten bittere Debatte., aber es war möglich, die Relativität zu akzeptieren und sich immer noch fest an den alten Determinismus des 19. Jahrhunderts zu klammern. In der Tat wurde der Determinismus in einigen Hinsichten jetzt gerettet und verstärkt.

Man kann nicht dasselbe über die Entwicklung der Quantenmechanik sagen, die wirklich den Bruch zwischen der klassischen und der “neuen” Physik (wie sie immer noch 60 Jahre später benannt wird) darstellt. Die Grundlage für die Vorstellungen war wie bei der speziellen Relativität 1905 entstanden. Einstein suchte wieder eine Lösung für ein grundsätzliches Problem, das dieses Mal von Max Planck erhoben worden war.

Er wollte erklären, warum es schien, als ob Strahlung, die von einem Körper ausgesendet wurde, unendliche Energie hätte. Einstein brachte die Erklärung vor, daß elektromagnetische Strahlung nicht, wie vorher gedacht, als Energiekontinuum freigesetzt werde, sondern in Wirklichkeit in kleinen diskreten Paketen, die als “Quanten” bekannt sind. Als Ergebnis des Verhaltens dieser Quanten kam man zur Betrachtung, daß das Licht partikelähnlichen sowie wellenähnlichen Merkmale habe.

Die 1905er Theorie war nur der Anfang. die Quantenmechanik als ausgearbeitete Theorie wurde nicht bis in die 1920er Jahre entwickelt und wurde erst durch Paul Diracs Gleichungen von 1930 systematisiert. Eine Seite der Revolution bedurfte einer Revision [Neugestaltung] des Verständnisses der Physik im kleinsten Maßstab. Aber noch brisanter für die Anschauung der Physiker war die Entdeckung, daß zwei weitere ehemalige “Sicherheiten” am Ende waren. Unter der allgemeinen Relativität, wie bei der Newtonschen Physik, läßt sich mindestens theoretisch die Position und das Moment eines Partikels mit endloser Genauigkeit geben. Aber nach dem Heisenbergschen Unsicherheitsprinzip kann das nie so sein. Er gibt eine systematische Begrenzung zur Genauigkeit solcher Kenntnisse. Man kann entweder wissen, wo ein Elektron ist, oder wie es sich bewegt, aber nicht beide absolut. [31] Zweitens ist das Verhalten von Partikeln unvorhersehbar. Niemand kann z.B. vorhersagen, wann ein radioaktiver Partikel zerfallen wird. Während die Anwendung von Wahrscheinlichkeit und Statistik in der Thermodynamik gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein günstiges Werkzeug war, mit dem man die Notwendigkeit von unmöglich komplizierten [komplexen] mechanischen Systemen umgehen konnte, wurden sie jetzt zum möglichst nahen Mittel für die Beschreibung des Zustands eines Systems. Absolute Bestimmung überhaupt war am Ende.

Diese These läßt sich am besten durch das Gedankenexperiment mit dem “Schrödingerschen Katze” zusammenfassen. Darin wird eine Katze in einer Kiste mit einer radioaktiven Quelle und einem Fläßchen Gift geschlossen. Die Quelle könnte verfallen, das Fläßchen aufbrechen und die Katze vergiften. Oder es könnte nicht. Aber wenn die Kiste einmal abgedichtet wird, gibt es absolut keine Weise, wie wir wissen können, was geschehen ist. Man könnte statisch ausarbeiten, daß z.B. die Katze eine Chance aus drei hat, tot zu sein. Aber das erzählt uns nichts. Entweder ist die Katze tot oder lebendig, sie kann nicht ein Drittel tot sein. Als Ergebnis dieser Entwicklungen gab Schrödinger 1922 die Kausalität auf und bald folgten viele andere ihm und machten die neue Physik zur eigenen. Sie fühlten sich jedoch nicht notwendigerweise mit ihren Implikationen wohl. Schrödinger sagte: “Wenn dieses gesamte Quantenspringen wirklich bleiben sollte, würde es mir leid tun, daß ich mich je mit der Quantentheorie beschäftigt habe.” [32] Und Bohr dachte: “Jemand, der nicht von der Quantentheorie schockiert ist, hat sie nicht begriffen.” [33]

Und obwohl Einstein der Wissenschaft zur Gründung verholfen hatte, war er nie über die Ergebnisse glücklich. Er fand es “ganz unerträglich, daß ein Elektron vom eigenen freien Willen nicht nur dem Augenblick zum Abspringen wählen sollte, sondern auch in welche Richtung”. [34] “Gott würfelt nicht”, sagte er. Trotzdem ist die Quantenmechanik äußerst erfolgreich gewesen und sie liegt fast der gesamten modernen Wissenschaft und Technik zugrunde, von Transistoren und integrierten Schaltkreise bis zur modernen Chemie und Biologie.

Die Quantenmechanik stellte die größte Revolution in der Physik seit über 250 Jahren dar. In einer Periode von wenigen Jahren wurde die gesamte Orthodoxie auf den Kopf gestellt, als die meisten großen Physiker der Zeit die Gesamtheit oder einen Teil davon akzeptierten. Deswegen ist das Wesen der Revolution zum Thema vieler Debatte geworden. Sie liefert eine klassische Musterprobe vom Verhältnis zwischen Entwicklungen in der Naturwissenschaften und jenen der Klassengesellschaft.

Einer der einflußreichsten Beiträge ist Paul Formans 1971er Aufsatz, “Weimarer Kultur, Kausalität und Quantentheorie 1918–27: Anpassung durch deutsche Physiker und Mathematiker an eine feindselige intellektuelle Umgebung”. [35] Darin argumentiert er:

Das Ergebnis ist ... überwältigendes Beweismaterial dafür, daß in den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aber vor der Entwicklung einer nichtkausalen Quantenmechanik unter dem Einfluß von “Denkströmungen” große Zahlen von deutschen Physikern – aus Gründen, die nur nebenbei mit ihrem eigenen Fach verbunden waren – sich von der Kausalität in der Physik distanzierten bzw. sie explizit zurückweisen.

Max Jammer [36] hat auch argumentiert:

daß bestimmte philosophische Ideen des späten 19. Jahrhunderts nicht nur das intellektuelle Klima für die Bildung der neuen Vorstellung der modernen Quantentheorie lieferten, sondern auch entscheidend dazu beitrugen.

Das Argument lautet, daß ein besonderes Zusammentreffen der Umstände in der Gesellschaft (der Weimarer Republik) eine entscheidende Auswirkung auf die Entwicklung der Physik hatte. Forman argumentiert:

nach der Niederlage Deutschlands bestand die vorherrschende intellektuelle Tendenz in der Weimarer Akademie aus einer neoromantischen existentialistischen “Lebensphilosophie”, die Krisen genoß und von einer Feindseligkeit gegen die analytische Rationalität im allgemeinen und die bestehenden Naturwissenschaften und ihre technischen Implikation im besonderen gekennzeichnet wurde. Implizit oder explizit war der Naturwissenschaftler der Prügelknabe der unaufhörlichen Ermahnung zur geistigen Erneuerung, während der Begriff – oder das bloße Wort – “Kausalität” alles symbolisierte, was im wissenschaftlichen Unternehmen widerwärtig war. [37]

Mit anderen Worten, die wissenschaftsfeindliche Kultur konnte in die Labors eindringen und einen massiven Einfluß auf die Arbeit der Physiker haben. Selbstverständlich stimmt das teilweise, Naturwissenschaftler werden vom intellektuellen Milieu beeinflußt, in dem sie arbeiten, und sind nicht völlig davon abgeschnitten. Leider wird die These von Forman und Jammer, anziehend wie er scheinen mag, nicht völlig von den Tatsachen unterstützt.

Als Anfang war der Begriff Kausalität, wie gesehen, seit Jahrzehnten vor der Niederlage Deutschlands im Krieg angegriffen worden. Der Philosoph Bertrand Russell hatte vor dem Ersten Weltkrieg argumentiert, daß der Begriff Kausalität veraltet sei. John Hendry argumentiert:

Bis zur Weimarer Periode war der Begriff Kausalität seit langen ein Diskussionsthema in der Physik gewesen und mit der Entwicklung der Quantentheorie war er schon unter ziemlich starken inneren Druck geraten. Das wesentliche Element Eigenständigkeit, die in im Planckschen Strahlungsgesetz offenkundig war, hatte Jeans 1910 und Poincaré 1912 dazu gefördert, die Frage zu stellen, ob Differentialgleichungen immer noch das richtige Werkzeug für die Physik seien. [38]

Außerdem wurde die neue Physik nicht von allen akzeptiert, Einstein, der während dieser ganzen Zeit in Deutschland und unter den am meisten nach außen Gerichteten des Milieus war, war mit den Implikationen der Quantenmechanik unzufrieden. Er arbeitete die letzten drei Jahrzehnten seines Lebens lang, um das Unsicherheitsprinzip zu entfernen. Eine Erklärung für diese Anomalie lautet, daß Einstein ein altes Fossil gewesen sei, der nicht mit den neuen Wunderkinder wie Schrödinger und Heisenberg habe standhalten können. Das reicht nicht aus. Die Situation war viel komplizierter. Sowohl Pauli als auch Eddington wollten eine Änderung in den Begriffen der Physik sehen, waren aber mehr oder weniger im Einsteinschen Lager, indem sie den Sonderstatus des Partikels und damit die Kausalität retten wollten. Aber Pauli war auch mit Bohr einverstanden über die Notwendigkeit einer Änderung in den begriffen Raum und Zeit. Pauli hatte der Reihe nach einen großen Einfluß auf Heisenberg sowie Max Born, den engsten Freund Einsteins. Wie Hendry sagt:

Jeder Versuch, die deutsche Quantenphysik unter dem Aspekt Kausalität zu polarisieren, ist deshalb unvermeidlich etwas künstlich. [39]

Also lassen sich Gruppen von Physikern nicht auf eine statische Ansammlung von Menschen reduzieren, die sich einheitlich zu einer einzigen theoretischen Schlußfolgerung bewegen. Hendry kommt zur Schlußfolgerung:

Physiker wurden vom Krisenbewußtsein in Europa nach dem Krieg und von den das Weimarer Milieu kennzeichnenden Einstellungen beeinflußt, andererseits hat Formans Werk auch die Gefahren einer rein externen Behandlung und die Armut jedes naiven sozialen Reduktionismus demonstriert. [40]

Um zu verstehen, wie und warum diese große Revolutionen in der Physik entstanden sind, und um die relative Wichtigkeit der natürlichen und der gesellschaftlichen Einflüsse zu begreifen, müssen wir allgemeiner die Position der Naturwissenschaft unter dem Kapitalismus untersuchen.

 

 

Naturwissenschaft und Gesellschaft 2: Die neue Metaphysik

Zum Höhepunkt der Revolution in der Quantenmechanik ließ sich Max Born hinreißen und er erklärte einer Gruppe von Besuchern bei seiner Universität: “Die Physik, wie wir sie kennen, wird in sechs Monaten vorbei sein.” Wenn man nach einem großen Teil der Besprechungen von Hawkings Buch beurteilen sollte, würde es scheinen, daß seine Theorien ähnliche Implikationen enthalte. Eine etwas bescheidener Schätzung seines Werks kommt von John Gribben, der zum Schluß kommt:

Vielleicht wäre es genauer zu sagen, daß Hawking schon auf ein Ende hingewiesen hat, nicht zur Physik, sondern zur Metaphysik. Es ist jetzt möglich, eine gute wissenschaftliche Antwort zu geben auf die Frage: “Woher kommen wir?”, ohne ohne sich Gott oder besondere Grenzbedingungen für das Universum im Augenblick der Schöpfung zu berufen. [41]

Bevor wir zu unserem ursprünglichen Problem – dem Fortbestehen der Metaphysik in der Naturwissenschaft – zurückkehren, sollten wir nebenbei sagen, das der “Gott” in Einstein bzw. Hawking kein allmächtiges Wesen ist, das über unsere tagtäglichen Existenz herrscht. Ihre Universen sind geordnete Gebilde, in denen das bewußte menschliche Tätigkeit eine große Rolle zu spielen hat. Aber man bedarf immer noch letzten Endes einer übernatürlichen logischen Grundlage. Wie gesehen verkörpert dieser unsichere Materialismus die Hauptrichtung der modernen naturwissenschaftlichen Tradition. Warum sollte eine solche metaphysische Erkenntnislehre immer noch unter Physiker grassieren? Macht es überhaupt etwas aus? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir auf das Verhältnis zwischen dem Kapitalismus und der Naturwissenschaft schauen.

Das Niveau des naturwissenschaftlichen Verständnisses ist mit der Produktionsweise in einer jeden gegebenen Gesellschaft verbunden, ist aber nicht einzigartig dadurch bestimmt. Die Naturwissenschaft ist Teil des Überbaus der Gesellschaft, aber ein äußerst besonderer Teil. Die Naturwissenschaft wird nicht einfach nach den Bedürfnissen eines gegebenen Niveaus der ökonomischen Entwicklung hinterher geschleift. Wie mit den anderen Elementen des Überbaus der Gesellschaft besteht ein viel komplexeres, dialektisches Verhältnis zwischen der Naturwissenschaft, der Technik und den Produktivkräften. (Leonardo da Vinci z.B. entwarf einen Hubschrauber, mindestens auf Papier, obwohl es überhaupt kein Bedürfnis für einen im 16. Jahrhundert hätte geben können.) In Wirklichkeit ist es auch ganz leicht zu sehen, daß naturwissenschaftliche Entwicklungen selbst bewirken organisch, um die Produktivkräfte zu ändern. Außerdem unterscheiden sich die Naturwissenschaften von den Gesellschaftswissenschaften, indem sie einen weit größeren Ausmaß der Autonomie von einfacher Klassenbestimmung haben aus dem einfachen Grund, daß sie sich mit Sachen beschäftigen, die außerhalb der Sphäre der menschlichen Tätigkeit liegen. Die menschliche Tätigkeit kann den Antlitz des Planeten ändern. Wir können sogar neue Atome in Physiklabors schaffen, aber wir können nicht die grundsätzlichen Gesetze ändern, die ihr Verhalten regeln. Trotz diesen Qualifikationen ist der Naturwissenschaft stark von der Klassengesellschaft beeinflußt. Wie?

Die Anwendung der Naturwissenschaft ist relativ eindeutig. Naturwissenschaft und Technik sind allein weder der Retter noch das Schreckgespenst der Gesellschaft. Sowohl fabelhafte Impfungsmittel als auch schreckliche Vernichtungswaffen werden von der Naturwissenschaft unter dem Kapitalismus entworfen. Ohne die von der technischen Entwicklung verursachte riesige Zunahme in der Produktivität würde der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ganz undenkbar sein. Aber dieses Potential für die Mobilisierung dieser Ressourcen auf einer konsequenten Basis liegt ungenützt. Unheimlich viel mehr Ressourcen werden für Methoden der Massenvernichtung ausgeschüttet als z.B. für den Versuch, Menschen zu ernähren. Aber wie ist es mit der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Theorie?

Hier sollten wir einen Mythos widerlegen. Die Naturwissenschaft ist nicht, wie viele sie vorstellen, eine untergeordnete Disziplin, die darin besteht, Tatsachen in einer Ordnung zu stellen. Alle arbeitenden Naturwissenschaftler müssen Theorien und Forschungsprogramme verwenden, um überhaupt einen Sinn aus den Ergebnissen der Experimente zu ziehen. In dieser Hinsicht beeinflußt die Ideologie der Naturwissenschaftler einigermaßen ihre Praxis. Aber wiederum ist noch eine Qualifikation nötig. Es ist sehr leicht, diesen Einfluß zu überschätzen. [42] Zu seiner Lebenszeit wurde Einstein von den Stalinisten sowohl als zügellosen Idealisten angegriffen als auch danach als “spontaner Dialektiker” vergöttert, je nach den Bedürfnissen des Augenblicks.

Dieser Irrtum wird auch von modernen Schriftstellern über radikale Naturwissenschaft wiedergegeben, die dazu neigen, eine große Betonung auf die erklärte Meinungen und das Arbeitsmilieu der Naturwissenschaftler zu legen eher als auf die Naturwissenschaft selbst. Das Beispiel der Weimarer Republik und der Entwicklung der Quantenmechanik zeigt die gefahren eines solchen Ansatzes. Zweifellos stimmt es, daß die Kultur der Zeit einige Wissenschaftler der Zerstörung der Kausalität zugänglicher machte, aber sie war nicht der entscheidende Faktor. Die Entdeckung von diskreten Aussendungen [Abstrahlungen] und die Konsequenzen davon hatte eine enorm größere Auswirkung. Aber der Aufbau der Forschungsprogramme der Naturwissenschaftler, der grundsätzliche Wirkungen auf die Interpretation ihrer Ergebnisse, ist nicht vor der Ideologie in der Klassengesellschaft geschützt.

Um sagen zu können, welche Wirkung solche Ideologie hat, müssen wir anfangen, indem wir darauf schauen, wie das Verständnis sich im allgemeinen unter der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Wenn es eine bedeutende Parallele zwischen der Form der Klassengesellschaft und der naturwissenschaftlichen Theorie gibt, besteht es nicht in diesen oder jenen Ergebnissen, sondern im Wesen des vorherrschenden Wissenssystems. Es gibt zum ersten mal in der Geschichte die Möglichkeit, daß die Menschen die Welt beherrschen können, wie sie wollen. Die Bourgeoisie bedarf mindestens eines Mindestmaßes an naturwissenschaftlichem Verständnis der physischen Welt, um sie zu beherrschen. Die Kapitalakkumulation bedarf technischer Erneuerung und naturwissenschaftlichen Verständnisses, während die weiterbestehende politische Rolle des Kapitals der systematischen Mystifizierung der gesellschaftlichen Welt bedarf. Die Bourgeoisie braucht Wissen über die physische Welt, nicht aber über die gesellschaftliche Welt. Es gibt jedoch grundsätzliche Hindernisse zur vollen Entwicklung dieses Verständnisses. Wie Lukacs sagt:

... der Kapitalismus ist einerseits die erste Produktionsordnung, die der Tendenz nach die ganze Gesellschaft ökonomisch vollständig durchdringt; so daß die Bourgeoisie demzufolge befähigt sein müßte, von diesem zentralen Punkt aus ein (zugerechnetes) Bewußtseins über die Gesamtheit des Produktionsprozesses zu besitzen.

Aber fährt er fort:

Andererseits jedoch machen die Stellung, die die Kapitalistenklasse in der Produktion einnimmt, die Interessen, die ihr Handeln bestimmen, es ihr trotzdem unmöglich, ihre eigene Produktionsordnung – selbst theoretisch –zu beherrschen. [43]

Es gibt gut Gründe dafür. Der einfachste ist, daß die Wahrheit systematisch in den Augen derjenigen Menschen mystifiziert wird, die sonst gefährliche Schlußfolgerungen ziehen könnten. Newton, der bald nach der Englischen Revolution schrieb, hatte das Selbstbewußtsein einer neuen Bourgeoisie, die auf ihrer revolutionären Rolle stolz war. Heute hat die Bourgeoisie, eine Klasse, die an die Macht durch eine Revolution kam und die für ihr Überleben von der ständigen Revolutionierung der Produktionsmittel abhängt, mehr Angst vor neuen Revolution, als Stolz über die eigene. Statt dessen versucht sie, die Stabilität und den Status quo zu erheben. Die Geschichte z.B. betrachtet man als chaotischen, endlosen Machtkampf oder als Anordnung von Daten und Zahlen, eher als Prozeß des Klassenkampfs. Wenn es je ein dynamischer Prozeß sein sollte, dann in der lagst verstorbenen Vergangenheit.

Es gibt auch einen noch tiefer liegenden Grund, warum die Bourgeoisie unfähig sein sollte, die Wahrheit auszufinden. Sie ist definitionsgemäß die stärkste Klasse in der Gesellschaft, trotzdem kann auch sie nicht die Anarchie ihres Systems zähmen. Jeder einzelne Kapitalist steht vor dem Markt als etwas, an dessen Entwicklung er sich beteiligt hat, und trotzdem kann er ihn nur passiv erfahren. Wiederum Lukacs:

... der Mensch der kapitalistischen Gesellschaft steht der von ihm selbst (als Klasse) – “gemachten” Wirklichkeit als einer ihm fremden “Natur” ... auch in dieser “Tätigkeit” verbleibt er – dem Wesen der Sache nach –Objekt und nicht Subjekt des Geschehens. [44]

Dieser verschlossene bürgerliche Standpunkt bedeutet, daß man die Ökonomie nicht dadurch versteht, daß man sich ins Wesen der Gewinnung der Profite aus den Arbeitern vertieft, sondern aus den oberflächlichen Erscheinungen von Indizes wie der Inflations- bzw. Zinsrate. Jeder einzelne Kapitalist z.B. betrachtet die Rate des Kapitalgewinns als das wichtigste Index. so es überrascht kaum, daß diese dann zur Triebkraft der Produktion in der bürgerlichen Ökonomie erhoben wird. Leider verwirrt dies die wirklichen Weise, wie die Ökonomie funktioniert, eher als sie zu klären. Diese Position der Macht sowie der Impotenz und der Wunsch, das revolutionäre, sich immer verändernde Wesen der Welt zu leugnen, bat eine tiefgreifende Wirkung auf die angenommene Methode, sowohl die Gesellschaft als auch die Natur zu verstehen.

Im Falle der Naturwissenschaften steht politisch weit weniger auf dem Spiel in den meisten Untersuchungsbereichen als z.B. in der Geschichte bzw. der Ökonomie. Und es ist sicherlich nicht der Fall, daß die großen Physiker alle bewußte Kämpfer für die Bourgeoisie gewesen sind. Ganz im Gegenteil, viele betrachteten sich als Sozialisten. Aber – wie ich zu zeigen hoffe – der allgemeine Ansatz zum Verständnis in der bürgerlichen Gesellschaft erhebt Kosten in den Naturwissenschaften.

In Hegel kommt die Bourgeoisie am nächsten zum Verständnis des dialektischen, komplexen, sich verändernden Wesens der Welt., aber er gibt die Hoffnung auf, ein Subjekt zu finden, das fähig ist, sie in einer bewußten Weise zu verwandeln. Hegel kann diese Rolle nur entweder Gott, oder praktischer dem bestehenden preußischen Staat gewähren. Nichtsdestoweniger konnte er wegen des zusammenhängenden Wesens seines Systems auf Kants verzweifelten letzten Ausweg verzichten, der darauf bestand, daß man nur die Gebilde des Geistes als wirklich betrachten könne.

Fst zwei Jahrhunderte später ist die Degeneration wirklich kraß. Rechte Akademiker leugnen z.B., daß auch die Bourgeoisie überhaupt Revolutionen durchgeführt habe. In der Naturwissenschaft ist der Versuch, Erscheinungen als Teil einer komplexen, sich immer verändernden Gesamtheit zu verstehen, durcheinandergebracht worden von der Trennung der Naturwissenschaft in verschiedene Bereiche, die je besondere Methoden haben, die nur für sie gelten. Lukacs sagte, das Ziel der Philosophie bestehe jetzt darin:

die Phänomene einzelner, genau spezialisierter Teilgebiete vermittels ihnen genau angepaßten abstrakt-kalkulatorischen Teilsystemen zu begreifen, ohne selbst den Versuch zu unternehmen, ja diesen Versuch als “unwissenschaftlich” ablehnend, das Ganze des Wißbaren von hieraus einheitlich zu bewältigen ... Man darf aber nicht vergessen, daß ... die Entstehung der genau voneinander getrennten, von einander sowohl dem Gegenstand wie der Methode nach völlig unabhängigen, spezialisierten Einzelwissenschaften schon Anerkennung der Unlösbarkeit dieses Problems [der Suche nach einem Gesamtverständnis der Welt] bedeutet; daß jede Einzelwissenschaft ihre “Exaktheit” gerade aus dieser Quelle schöpft. [45]

Die vorherrschende Methode in britischen Universitäten besteht z.B. entweder im Versuch, die Tatsachen anzuschauen, oder in der Anwendung von Theorien, die als gültig bzw. ungültig betrachtet werden je nach dem Ausmaß, wie sie den Tatsachen passen. Diese Methode funktioniert für verhältnismäßig einfache Erscheinungen, aber wenn eine gegebene Methode für die Interpretation einer gegebenen Klasse von Daten und ihre Übertragung in die Theorie angenommen [angepaßt ?] wird, neigt sie dazu verknöchert zu werden. Aber wenn es dazu kommt, sich mit unterschiedlichen, komplexeren Systemen zu beschäftigen, wenn radikal neue Formen von Daten radikal verschiedener Interpretationsformen bedürfen, dann wird die Naturwissenschaft oft in eine Krise geworfen – wie wir mit der Thermodynamik, der Relativität, der Quantenmechanik und jetzt selbstverständlich der Quantengravitation gesehen haben.

Ein anderes Beispiel der Beschränkungen dieser Kategorisierung könnte die Unterschlagung [?] der Darwinschen Evolutionstheorie. Man kann nicht die Evolution einfach aus dem Standpunkt des Verhältnisses zwischen Atomen in einem Chromosom verstehen. Eine breiteres naturwissenschaftliches Bild ist nötig. Die Weise, wie die Evolution verstanden wird, ist nicht als Teil einer Gesamtheit von Erscheinungen, sondern fest innerhalb des Rahmens der “Regeln der Biologie”. Die Krise kommt, wenn man versucht, über die langfristige Entwicklung von Spezies hinaus zum Funktionieren von menschlichen Gesellschaften zu verallgemeinern. Um das richtig zu machen, würde man der Einverleibung anderer Faktoren wie der Rolle des menschlichen Bewußtseins bedürfen. Wenn dies wirklich gemacht wird, dann kommt man sehr rasch zum Schluß, daß das Gesetz des Überlebens der Stärkeren einfach nicht in modernen Gesellschaften paßt. Wo man den Übergang über die langfristige Entwicklung nichtmenschlicher Spezies hinaus vollgebracht hat, ohne diese breiteren Faktoren anzuschauen, hat es nur zu einer Pseudowissenschaft wie Soziobiologie geführt, den ganzen Gegenteil von dem, womit Darwins Theorie sich beschäftigt.

Ohne den breiteren, dialektischen Ansatz führen Krisen entweder zum Versuch, das neue System nach einer überholten [veralteten] mechanischen Methode weiter zu interpretieren, oder zu einem verzweifelten Griff zum Mystizismus. Starres Denken wird immer in einen Zustand der Verwirrung geworfen, wenn man das stört, was man früher für Sicherheiten gehalten hat. Aus dieser Starrheit entstehen zahlreiche Spannungen zwischen den festen Kategorien für das Verständnis des sich verändernden Wesen des Objekts der Untersuchung. Trotzdem halten diese Krisen und Irrtümer an wegen der Weise, wie das naturwissenschaftliche Denken organisiert wird. Solche Krisen können drei Ergebnisse haben. Das eine besteht im Versuch, die Starrheiten der modernen Naturwissenschaft niederzubrechen, eine Methode zu entwickeln, die der Komplexität und der Gesamtheit der wirklichen Welt paßt. Ein anderes besteht darin, einfach “sicherzugehen” und so nah wie möglich an den “beobachteten” Tatsachen zu kleben. Das dritte besteht darin, den Materialismus aufzugeben und eine Erklärung für die Krise in irgendwelcher göttlichen Intervention zu suchen.

In Wirklichkeit haben Naturwissenschaftler schließlich eine Kombination der beiden letzteren gewählt. Die Mathematik z.B. ging durch eine grundsätzliche Krise Mitte des 19. Jahrhunderts. Bis dann nahm man an, daß die Mathematik einfach eine leicht verständliche “Kopie [Nachahmung]” der wirklichen Welt sei. Trotzdem, als Entwicklungen in der Mathematik einem einfachen räumlichen Verständnis widerstanden, kam diese Ansicht unter Bedrohung. Als Ergebnis entwickelten viele ihre Mathematik weiter, betrachteten sie als in ihrer Gesamtheit das Gebilde des menschlichen Geistes mit keinem dynamischen Verhältnis mit der Außenwelt.

Oder während der allgemeinen Krise der Naturwissenschaft um die Jahrhundertwende suchten Naturwissenschaftler einen Ausweg aus ihrem Dilemma, indem sie die Verbindung zwischen einzelnen Ergebnissen und einer breiteren Weltanschauung schnitten. Wie Eric Hobsbawm sagt:

Einerseits schlugen sie einen Wiederaufbau der Naturwissenschaft vor auf einer rücksichtslos empirizistischen oder sogar phänomenalistischen Basis, andererseits eine rigorose Formalisierung und Axiomatisierung der Grundlagen der Naturwissenschaft. Diese schloß Spekulation aus die Verhältnisse zwischen der “wirklichen Welt” und unseren Interpretationen davon, d.h. über die “Wahrheit” im Gegensatz zur inneren Konsequenz und Nützlichkeit von Thesen, ohne in Konflikt mit der eigentlichen Praxis der Naturwissenschaft zu geraten. Naturwissenschaftliche Theorien, wie Henri Poincaré glatt sagte, seine “weder wahr noch falsch” sondern einfach nützlich. [46]

Im großen und ganzen kann die Naturwissenschaft weitergehen trotz der Tatsache, daß die Köpfe der Naturwissenschaftler mit dem unsäglichsten Müll gefüllt sind. Davies z.B. denkt: “Die Weltanschauung des gesunden Menschenverstandes, was Objekte betrifft, die wirklich ‚draußen‘ unabhängig von unseren Beobachtungen existieren, bricht völlig zusammen angesichts des Quantenfaktors.” [47]

Aber wie wir bei Einstein gesehen haben, entwickelt sich eine gähnende Kluft zwischen der eigentlichen naturwissenschaftlichen Praxis und das Engagement des Naturwissenschaftlers für eine breitere Ideologie. Diese Kluft führt der Reihe nach zum ständigen Wiederaufbau einer metaphysischen Anschauung vom Universum. der Machismus ist das deutlichste Beispiel dieser Schwäche ins Prinzip übertragen. Wie Lenin merkte: “Die Phänomenologie à la Mach & Co. wird unvermeidlich zum Idealismus.” [48] Lenin machte eine einfache Forderung, als er sagte: “die einzige Eigenschaft der Materie, mit deren Erkennung der philosophische Materialismus verbunden ist, ist die Existenz außerhalb des Geistes” [49], und trotzdem ist sie eine, die vielen der größten Physiker des 20. Jahrhunderts nicht klar gewesen ist.

Hawkings Buch ist ein erstaunliches typisches Beispiel. Seine Beherrschung eines partiellen (obwohl zugegebenermaßen sehr raffinierten) Verständnisses der Natur führt dazu, daß es sehr inspirierend liest. Trotzdem bleibt sein Verständnis partiell, denn es trägt mit sich das gesamte Rüstzeug des bürgerlichen Denkens. Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft würde nicht über Nacht alle innersten Gänge der Natur enthüllen, er würde aber uns mindestens auf den Weg dahin setzen, einen großen Teil der ideologischen Trümmer wegzuräumen, die zwischen uns und einem Verständnis der Naturwelt stehen.

 

 

Anmerkungen

1. Hawking, A Brief History of Time, London 1988, S.x.

2. s. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus oder Engels, Dialektik der Natur.

3. Paul Davies, God and the New Physics, Harmondsworth 1983.

4. Er enthüllte seine Theorie zum ersten Mal 1981 bei einer Veranstaltung im Vatikan, nach der er eine Audienz mit dem Papst hatte, der “uns erklärte, daß es in Ordnung sei, die Entwicklung des Universums nach dem Urknall zu untersuchen, aber daß wir nicht den Urknall selbst untersuchen sollten, weil es der Augenblick der Schöpfung und deshalb das Werk Gottes sei”; s. Hawking, a.a.O., S.116.

5. ebenda, S.11.

6. ebenda, S.163.

7. ebenda, S.135-6.

8. ebenda, S.173.

9. ebenda, S.173-4.

10. “Das absolut Veränderungslose, noch dazu, wenn es von Ewigkeit in diesem Zustand war, kann durch sich selbst unmöglich aus diesem Zustand herauskommen, in den der Bewegung und der Veränderung übergehn. Es muß also von außen her, von außerhalb der Welt, ein erster Anstoß gekommen sein, der sie in Bewegung setzte. Der ‚erste Anstoß‘ ist aber bekanntlich nur ein andrer Ausdruck für Gott.” Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in Marx u. Engels, Werke (später MEW), Bd. 20, S.49.

11. Hobsbawm, Age of Empire, S.244.

12. Powers, Philosophy and the New Physics, London 1985, S.138.

13. zit. In Hawking, a.a.O., S.172.

14. Laut einer rigiden Interpretation der vorherrschenden mechanischen Methode, wird, sagen wir, der Druck eines Gases von der Anzahl und der Geschwindigkeit von den gegen eine Oberfläche in einer Zeiteinheit stoßenden Molekülen bestimmt. Aber die Berechnung einer solchen Menge auf der Basis der Information über jede Molekül ist offensichtlich fast unmöglich.

Erstens gibt es viele Moleküle, die man in Betracht ziehen müßte. Zweitens läßt die Information über sogar eine der Moleküle nicht leicht herausfinden. Statt dessen leitet man die Nettowirkung von einer großen Anzahl von Molekülen daraus ab, daß man die wahrscheinlichen durchschnittlichen Momenten zusammenrechnet (was eine äußerst genaue Verfahrensweise ist für Studien dieser Art).

15. Er hatte auch ein Referat über brownsche Bewegung produziert, wofür er später den Nobelpreis bekam.

16. Wir haben hier einige Etappen übersprungen, von denen keine einfach sind, aber hier sind die wichtigen Teile, als das Argument sich entfaltete: James Maxwell systematisierte das grundsätzliche Verhalten davon, was man später elektromagnetische Wellen nannte. Indem er eine Reihe von Gleichungen lieferte, die quantitativ die Variationen in elektrischen und magnetischen Feldern und ihre Wechselwirkungen beschrieb, sagte er vorher, daß elektromagnetische Strahlung sich in einem Vakuum verbreiten könnte und daß sie das mit einer Geschwindigkeit von 300.000 km pro Sekunde, der Lichtgeschwindigkeit, machte.

Heute klingt das vielleicht langweilig, aber zu jenem Zeitpunkt wußte niemand, daß das Licht eine elektromagnetische Welle sei. Noch konnten sie ernstlich die Vorstellung erwägen, daß eine Welle sich in einem Vakuum propagieren könnte. Die Lösung, die die Physiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (einschließlich Maxwell) vorbrachten, bestand darin, darauf zu schließen, daß es eigentlich einen “Äther” gäbe, wodurch die Wellen sich bewegten.

Maxwell selbst schrieb in A Dynamic Theory of the Electromagnetic Field (Philosophical Transactions, 155, 1865): “Wir haben deshalb aus den Erscheinungen Licht und Wärme etliche Gründe zu glauben, daß es eine ätherisches Medium gibt, das den Raum füllt und Körper durchdringt, die sich in Bewegung setzen läßt und die Bewegung von einem Teil zum anderen vermitteln und diese Bewegung zur groben Materie übertragen kann, so daß sie letztere erhitzt und darauf in verschiedenen Weisen bewirkt.”

17. Die beste Erklärung dieser Ideen liefert Einstein selbst in seinem kurzen Buch Relativity.

18. Hobsbawm, a.a.O., S.245.

19. Gerald Holton, Thematic Origins of Scientific Thought, Harvard 1973, S.307.

20. J.T. Merz, A History of European Thought in the Nineteenth Century, New York 1965) Bd.VII, S.199, zit in Colin Chant u. John Fauvel, Darwin to Einstein, Historical Studies in Science and Belief, Milton Keynes 1980, S.236.

21. Chant u. Fauvel, a.a.O., S.237.

22. Moritz Schlick, Ernst Mach, der Philosoph, zit. in Holton, a.a.O., S.222.

23. Hobsbawm, a.a.O., S.245.

24. Albert Einstein, Ernst Mach, in Physikalische Zeitschrift, Nr.17, 1916, S.101-4; zit. in Holton, a.a.O., S.222.

25. s. Tony Cliff, Lenin, Bd.1, S.187-91.

26. Dieses ist nicht eins der größten seiner Werke; Lenin kniet sich in die Arbeit hinein, um die Welt von Kant und Bogdanow umzukippen. Sie sagten, die Realität sei eine Schöpfung des Geistes. Lenin bestand darauf, daß es umgekehrt sei, aber dabei versäumte er zu betonen, wie die bewußte menschliche Tätigkeit der Reihe nach die physikalische Welt ändern kann. Der Empiriokritizismus ist politisch eine Donnerbüchse von einem Buch, er zeigt aber akute Empfindlichkeit gegenüber den neuesten Entwicklungen in den Naturwissenschaften.

27. Einstein, Relativity.

28. s. John Gribben, In Search of the Big Bang, London 1986, S.105.

29. Chant u. Fauvel, a.a.O., S.245.

30. Holton, a.a.O., S.267.

31. Diese Unsicherheit entsteht, da jedes Wesen eine eigenständige Masse Hunde Moment hat. Um das Verhalten eines Partikels zu beobachten, muß man ein Photon davon abprallen.

Aber das Photon selbst hat ein Moment, deshalb beeinträchtigt es das Moment des Partikels, den es messen sollte, was die Messung ungültig macht. Ein Photon mit höher Frequenz wird eine genaue Position für den Partikel geben, aber es hat hohe Energie, die das Moment im großen Ausmaß stören wird. Ein Photon mit niedriger Frequenz wird andererseits genauer das Moment des Partikels erhalten, aber eine weniger genaue Beschreibung seiner Position geben.

32. Powers, Philosophy and the New Physics, S.130.

33. Davies, a.a.O., S.100.

34. Chant u. Fauvel, a.a.O., S.313.

35. ebenda, S.267.

36. Jammer, The Conceptual Development of Quantum Mechanics, New York 1966), S.166-7 (Hervorhebung hinzugefügt).

37. Chant u. Fauvel, a.a.O., S.303.

38. ebenda, S.309.

39. zit. in ebenda, S.310-1.

40. ebenda, S.317.

41. Gribben, a.a.O., S.392. Dieses Buch wurde vor der Veröffentlichung von A Brief History of Time veröffentlicht, aber nachdem Hawkings Werk in akademischer Form erschienen hatte.

42. Die Gefahr, daß man einfach von der herrschenden Ideologie der Gesellschaft auf die Naturwissenschaft ablesen kann, wird am spektakulärsten in den Händen der Stalinisten gezeigt.

Nachdem z.B. Eddington darauf hingedeutet hatte, daß das Universum mit dem Verlauf der Zeit zu immer größerer Unordnung führe, was eine wohl etablierte Vorstellung ist mit ausgezeichneter Unterstützung in der Theorie und in den experimentellen Beweisen, bekam er die Antwort: “Für uns Marxisten-Leninisten ist es offensichtlich, daß diese physikalische Theorie einfach die allgemeine Tendenz in der bürgerliche Ideologie widerspiegelt, die das herannahende und unvermeidliche Ende des kapitalistischen Systems als die Annäherung der Anarchie interpretieret”; s. dafür und für weitere Beispiele N. Bukharin (Hrsg.), Science at the Crossroads.

43. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, London 1997, S.74.

44. ebenda, S.149.

45. ebenda, S.132-3.

46. Hobsbawm, a.a.O., S.257.

47. Davies, a.a.O., S.107.

48. Lenin, Philosophical Notebooks, S.276.

49. Lenin, Materialism and Empiriocriticism, S.241.

 


Zuletzt aktualisiert am 2.5.2002