John Molyneux

 

Ist der Marxismus deterministisch?

(Teil 2)

 

Basis und Überbau

Zu diesem Zeitpunkt ist es möglich einige allgemeine Bemerkungen über die heftig umstrittene Frage der Bestimmung des Überbaus der Gesellschaft durch die ökonomische Basis zu machen. Als er Marx’ Grabrede hielt, erklärte Engels:

Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetze der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, Ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen – nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt. [37]

Das Bestehen auf dem Vorrang der ökonomischen Basis im Verhältnis zum Überbau, auf der Erklärung des letzteren durch die erstere, „nicht umgekehrt“, auf der Bestimmung des Bewußtseins durch das gesellschaftliche Sein ist allen klassischen Darstellungen des Historischen Materialismus von seinen Gründern gemeinsam und ist eindeutig grundsätzlich für den Marxismus als Ganzen.

Trotzdem, wenn wir das merken, sollen wir auch bemerken, daß in der großen Mehrheit dieser Erklärungen Marx und Engels das Verhältnis zwischen Überbau und Basis eher mit Begriffen wie „entsprechen“, „bedingen“ oder „erheben auf“ formulieren, als im Sinne der strengen Bestimmung. So finden wir im 1859er Vorwort:

... die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftlichen Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt ... Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. [38] [Meine Hervorhebung – JM]

Außerdem betont Engels in seinen späten Briefen wiederholt, daß weder er noch Marx es beabsichtigte, auf eine mechanische oder absolute Bestimmung des Überbaus durch die Basis anzudeuten:

Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen , und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. [39]

Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte gibt Marx selbst lebhaften Ausdruck der Weise, wie Ideen die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen überleben können, aus denen sie entstanden sind:

Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. [40]

In seinem Vorwort zur Geschichte der Russischen Revolution zieht Trotzki die Verbindung zwischen diesem Mangel an mechanischem Determinismus und der Tatsache der Revolution:

Die Gesellschaft ändert nämlich ihre Einrichtungen nicht nach Maßgabe des Bedarfs, wie ein Handwerker seine Instrumente erneuert. Im Gegenteil, sie nimmt die über ihr hängenden Institutionen praktisch als etwas ein für allemal Gegebenes ...

Schnelle Veränderungen von Ansichten und Stimmungen der Massen in der revolutionären Epoche ergeben sich folglich nicht aus der Elastizität und Beweglichkeit der menschlichen Psyche, sondern im Gegenteil aus deren tiefem Konservativismus. Das chronische Zurückbleiben der Ideen und Beziehungen hinter den neuen objektiven Bedingungen, bis zu dem Moment, wo die letzteren in Form einer Katastrophe über die Menschen hereinbrechen, erzeugt eben in der Revolutionsperiode die sprunghafte Bewegung der Ideen und Leidenschaften, die den Polizeiköpfen als einfache Folge der Tätigkeit von „Demagogen“ erscheint. [41]

Es ist deshalb offensichtlich, daß jede Beschuldigung des Marxismus wegen des mechanischen bzw. groben ökonomischen Determinismus völlig fehl am Platz ist. In der Frage „Basis-Überbau“, wie in der Frage „Produktivkräfte-Produktionsverhältnisse“ steht der historische Materialismus für den relativen Determinismus und hier gelten wieder die Begriffe „Zwang“ und „Anstoß“.

Einerseits setzt das Wesen der ökonomischen Basis bestimmte Schranken auf das Wesen des Überbaus, so daß z.B. eine feudale Basis mit dem allgemeinen Wahlrecht und der parlamentarischen Demokratie unvereinbar ist und könnte nie die Philosophie von John Stuart Mill, die Ökonomie von Adam Smith, den Roman als vorherrschende literarische Form oder die Gemälden von Rembrandt bzw. Jackson Pollock entstehen lassen. Andererseits erzeugen Entwicklungen an der Basis, in den Produktivkräften sowie in den Produktionsverhältnissen, ständig Druck zur Änderung des Überbaus. So erzeugten die ersten Bewegungen des Kapitalismus in Europa Druck zur Herausforderung der Katholischen Kirche, die sowohl ein größerer feudaler Landbesitzer aus eigenem Recht war, als auch die ideologische Legitimation der feudalen Gesellschaft als Ganzer lieferte. Das schließliche Ergebnis dieses Drucks war die Reformation im 16. Jahrhundert und die Entstehung des Kalvinismus als neuer Form des Christentums, die den Bedürfnissen der frühen kapitalistischen Akkumulation positiv gegenüberstand, während die Industrielle Revolution in Großbritannien einen Anstoß für die Erweiterung des Wahlrechts zuerst auf die industrielle Bourgeoisie und die Mittelschichten und dann auf die industrielle Arbeiterklasse lieferte (daß Ergebnis war die Reformgesetze von 1832, 1867 und 1884). In ähnlicher Weise lieferte eine Änderung an der Basis – der massive Anstieg der bezahlten Beschäftigung der Frauen während der Nachkriegsbooms – den Anstoß für eine bedeutende, obwohl partielle, Änderung in der vorherrschenden Haltung in der Gesellschaft zu Frauen. Obwohl, man muß sofort hinzufügen, keiner von diesen Anstößen automatisch oder ohne bitteren Konflikt verwirklicht wurde, dessen Ergebnis anders hätte sein können.

Zu diesem Zeitpunkt können wir die schwierige und komplizierte Frage des Ausmaßes in Betracht ziehen, wozu verschiedene Elemente mehr oder weniger streng durch die Basis bestimmt werden. Im allgemeinen kann man sagen, daß diejenigen Elemente des Überbaus, die unmittelbare praktische Implikationen haben, wie das Recht, die Richterschaft, die Polizei, das Militär, das Bildungswesen usw., enger mit der Basis und insbesondere mit den ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse verbunden sind als die ideologischeren Elemente wie religiöse Lehren, die Philosophie und die Kunst. So könnte eine moderne kapitalistische Wirtschaft nicht neben Gesetzen bestehen, die antikapitalistisch wären, entweder insofern sie auf den Feudalismus zurückblickten, indem sie z.B. Wucher (das leihen von Geld und das Verlangen von Zinsen) verböten, oder insofern sie den Sozialismus vorwegnähmen, indem sie die Einstellung von Lohnarbeit verböten oder die Enteignung der Reichen durch die Armen für gesetzlich erklärten. Eine kapitalistische Wirtschaft kann aber neben einer Kunst bestehen, die nach der feudalen Vergangenheit sehnt (die Prä-Raphaeliten in England während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Dichtung von Ezra Pound, die Phantasieromane von J.R.R. Tolkien), oder Propaganda für die sozialistische Zukunft macht (die Schauspiele von Brecht, die Gemälden von Leger usw.). Es ist auch möglich zwischen Kunstformen zu unterscheiden, wobei die Architektur z.B. von der Wirtschaft unmittelbarer beeinflußt und strenger beschränkt wird als die Dichtung. Sicherlich kann der Kapitalismus neben einer großen Vielfalt von Religion bestehen, was er auch tut, deren Ursprünge lange vor dem Kapitalismus zurückliegen (obwohl natürlich die Religionen sich dem Kapitalismus anpassen müssen, um zu überleben).

Alle solchen Verallgemeinerungen bedürfen jedoch beträchtlicher Einschränkungen. Engels erklärt sehr sorgfältig die relative Autonomie des gesetzlichen Bereichs:

Sowie die neue Arbeitsteilung nötig wird, die Berufsjuristen schafft, ist wieder ein neues, selbständiges Gebiet eröffnet, das bei aller seiner allgemeinen Abhängigkeit von der Produktion und dem Handel doch auch eine besondre Reaktionsfähigkeit gegen diese Gebiete besitzt. In einem modernen Staat muß das Recht nicht nur der allgemeinen ökonomischen Lage entsprechen, ihr Ausdruck sein, sondern auch ein an sich zusammenhängender Ausdruck, der sich nicht durch innere Widersprüche selbst ins Gesicht schlägt. Und um das fertigzubringen, geht die Treue der Abspiegelung der ökonomischen Verhältnisse mehr und mehr in die Brüche. [42]

In ähnlicher Weise behandeln Marx’ Analyse des Bonapartismus und Trotzkis Analyse des Faschismus Situationen, wo der kapitalistischen Staatsapparat aus der unmittelbaren Kontrolle der kapitalistischen Klasse geht und deshalb bestimmte Politiken auferlegen kann, die nicht im Interesse jener Klasse sind: z.B. der Holocaust der Nazis, die sich durch weder die ökonomischen noch die politischen Bedürfnisse der deutschen Bourgeoisie erklären läßt. [43]

Während dessen gewinnen viele der feinsten Errungenschaften in der Philosophie und in der Kunst ihre Größe gerade aus ihrem engen Verhältnis mit der ökonomischen Basis. Der Marxismus selbst ist ein Beispiel davon, indem seine Kraft nicht in seiner Autonomie oder Unvoreingenommenheit besteht, sondern in seiner genauen Widerspiegelung der grundsätzlichen Widersprüche in der ökonomischen Basis der Gesellschaft und in seinem genauen Ausdruck der Interessen der wichtigsten Produktivkraft in der Gesellschaft, nämlich des Proletariats. [44] In der Kunst kann man solche Gemälden nennen wie Rembrandts zahlreiche Porträts der neu aufgestiegenen holländischen Bourgeoisie (z.B. Der Anatomieunterricht des Dr. Tulps, Die Nachtwache und Die Syndiken) oder Turners Regen, Dampf und Geschwindigkeit, das dramatisch jene große Triebkraft des Kapitalismus im 19. Jahrhundert heraufbeschwört, oder die Manifesten, Gedichte und Gemälden der Futuristen, die selbstbewußt die Ankunft des Autos, des Stroms und der Metropole des 20. Jahrhunderts feiern, während in der Literatur die Romane von Defoe, Austen, Balzac und Dickens (um nur wenige zu nennen) zeigen alle ein unmittelbares Verhältnis mit ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen.

Es ist jedoch offensichtlich eine Folge der relativ deterministischen Position, daß im ganzen Gebiet „Basis-Überbau“ und besonders im ideologischen Bereich alle Verallgemeinerungen, alle schematischen Darstellungen – obwohl notwendig – nur von beschränktem Wert sind und rasch vor der konkreten Analyse weichen müssen.

 

 

Die Bewegungsgesetze des Kapitalismus

Ein bedeutender Aspekt des Gesamtproblems des Determinismus und der Frage „Basis-Überbau“ ist der Ausmaß der Bestimmung des menschlichen Verhaltens durch die ökonomischen Bewegungsgesetze des Kapitalismus. Die Tatsache, daß Marx den größeren Teil seines Lebens der Aufdeckung dieser Gesetze in seinem Meisterwerk, Das Kapital, widmete, zeigt, daß er betrachtete, daß sie von größter Bedeutung bei der Gestaltung der gegenwärtigen und der künftigen Aktionen der Menschen sind. Außerdem impliziert gerade die Vorstellung eines ökonomischen Bewegungsgesetze ein hohes Niveau des Determinismus.

Eigentlich, wenn es um das ökonomische Verhalten der Individuen und noch mehr der Klassen geht, ist der Marxismus am meisten deterministisch. Der Marxismus besteht darauf, daß die Arbeiterklasse als Ganze keine Wahl hat, außer ihre Arbeitskraft den Unternehmern zu verkaufen [45], und kaum eine Wahl darüber hat, welchem Unternehmer sie ihre Arbeitskraft verkauft. Im gleichen Maße besteht er darauf, daß Kapitalisten, wie auch kapitalistischen Manager, wegen der Konkurrenz keinen Wahl haben, außer danach zu streben, ihre Ausbeutungsrate zu maximieren. Er argumentiert, daß die Werte der Waren, einschließlich dem Wert der Arbeitskraft, und deshalb langfristig ihre Preise, eher objektiv als subjektiv bestimmt werden und sicherlich nicht willkürlich sind. [46]

Er argumentiert weiter, daß die von der Konkurrenz geprägte Kapitalakkumulation auf der Basis der Wertgesetz unvermeidlich zu einer Tendenz zum Fall der Profitrate führt [47], die der Reihe nach zur ökonomischen Krise in der Form von Rezession von zunehmender Häufigkeit und Heftigkeit führt.

Die Gültigkeit oder nicht der marxistischen ökonomischen Analyse und ihrer Krisentheorie lassen sich nicht hier debattieren. [48] Ich möchte bloß ihren hoch deterministischen Charakter betonen.

Auch hier sprechen wir nicht vom absoluten oder mechanischen Determinismus. Einzelne Arbeiter könnten vielleicht Aussteiger [3*] oder Berufsrevolutionäre werden. Einzelne Kapitalisten könnten vielleicht Menschenfreunde [Philanthropen] werden und sie machen sicherlich Fehler in ihrem Jagd nach dem Profit. Verschiedene Faktoren, vorhergesehen und nicht vorhergesehen, können dem Fall der Profitrate entgegenwirken und deshalb die Krise aufschieben. [49] Es gibt nichts in der marxistischen Theorie, das die Möglichkeit eines kosmischen Zufalls [Unfalls] ausschließt, der den ganzen Prozeß umstößt. Nichtsdestotrotz ist das Element des Determinismus in diesem Bereich offensichtlich sehr stark.

Dieser starke Determinismus in bezug auf die Bewegungsgesetze des Kapitalismus führt zu einem heftig umstrittenen Streitpunkt zwischen dem Marxismus und allen Arten des Reformismus. Reformisten aller Färbungen glauben, oder mindesten behaupten zu glauben, daß Regierungen, die von Menschen des guten Willens und der Klugheit (nämlich von sich selbst) belegt sind, dazu fähig werden, ohne zuerst die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu stürzen, das funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft so zu manipulieren, daß sie ihre Krise heilen, ihre Krise mäßigen und sie im allgemeinen dazu zwingen können, im Interesse der Werktätigen zu funktionieren. Marxisten argumentieren, daß diese eine verhängnisvolle Illusion ist und daß die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus bei weitem stärker sind als die guten Absichten der reformistischen Politiker. Wenn sie vor den Realitäten der kapitalistischen Wirtschaft stehen, entweder geben reformistische Regierungen ihre Reformprogramme auf und sich widerstandslos den kapitalistischen Prioritäten anpassen (was das häufigste Szenario ist), oder, wenn sie unter dem Massendruck von unten hartnäckiger sind, werden sie rasch ins Chaos und Wirrwarr gestürzt. Die einzige Sache, die sie nicht machen können, ist, beträchtlich entweder die Logik des Systems oder seine Tendenz zur Krise zu modifizieren. Noch einmal ist es hier nicht die Ort, wo man das marxistische Argument über die sozialdemokratischen Regierungen irgendwie detailliert darstellen kann. Es reicht aus, zu sagen, daß die historische Erfahrung –einschließlich der Erfahrung von sieben Labour-Regierungen in Großbritannien seit 1924, von der Weimarer Republik, von der Unidad Popular [?] in Chile, von Mitterrand in Frankreich und Gonzalez in Spanien – stark für den marxistischen Determinismus ausspricht.

Gleichzeitig mit der Betonung dieser Bestimmungskraft der Bewegungsgesetze des Kapitalismus nimmt trotzdem der Marxismus auf einem anderen Niveau des Arguments eine antideterministische Position in bezug auf diese Gesetze an. Die allgemeine Tendenz unter offenen Anhängern und Ideologen des Kapitalismus – unter seinen Berufsökonomen, Politikern usw. wie auch unter den Kapitalisten selbst – besteht darin, diese Gesetze, die Gesetze des Marktes, wie sie sie nennen, als etwas Ewiges und Unveränderliches zu behandeln. Manchmal werden sie unmittelbar als Naturgesetze betrachtet – es war Margaret Thatcher, die sagte: „Man kann sich ebensowenig den Gesetzen des Marktes widersetzen, wie man sich den Schweregesetzen widersetzen kann.“ Oder aber man betrachtet sie als etwas, das von einer zeitlosen und festen menschlichen Natur ausgehen – aus dem egoistischen, atomisierten, Vorteil maximierenden homo oeconomicus der klassischen Ökonomen. In den beiden Fällen werden sie als etwas dargestellt, das außerhalb und jenseits der Möglichkeit der menschlichen Kontrolle steht, und jeder Versuch, die man unternimmt, um sich ihnen zu widersetzen oder sie herauszufordern, wird als etwas dargestellt, das gleichzeitig utopisch, schädlich und niederträchtig ist.

Der Marxismus lehnt das ab. Er besteht darauf, daß die gegenwärtigen ökonomischen Gesetze weder aus der Natur noch aus der menschlichen Natur, sondern ausschließlich aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen entsteht, die Produkte der Geschichte, d.h. der vergangenen Aktionen der Menschen, sind und die durch die Aktionen der Menschen verändert werden können. Solange kapitalistische Produktionsverhältnisse vorhanden bleiben, werden jedoch die Bewegungsgesetze des Kapitalismus weiter funktionieren und sich langfristig gegen allen Widerstand und Opposition durchsetzen. [50]

Bevor wir die Frage der bestimmende Rolle der Gesetze des Kapitalismus lassen, ist es notwendig, die relative Aktionsfreiheit der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen in Betracht zu ziehen. Hier stehen wir vor einem offenbaren Paradox. Wenn es eine Frage des persönlichen bzw. individuellen Verhaltens ist, ist es offensichtlich, daß Mitglieder der Kapitalistenklasse weitaus mehr Freiheit haben als Mitglieder der Arbeiterklasse. Sie können wohnen, Urlaub nehmen, essen, trinken und spielen, wo auch immer sie wollen. Im Gegensatz dazu haben Arbeiter kaum eine oder wenige Wahl in diesen Bereichen. Aber wenn es um gesellschaftliche und politische Aktion geht, um Aktion als Klasse, gibt es einen entscheidenden Sinn, worin die Arbeiterklasse freier, weniger bestimmt ist als die Bourgeoisie. Historisch gesehen sind die Bourgeois im System eingesperrt [eingeklemmt], dem sie vorstehen, Gefangene seines Triebes zur Akkumulation und seiner Widersprüche. Sie sind in ihrer Entfremdung zu Hause und, wie Marx es ausdrückt: „Der Kapitalist ist nur das personifizierte Kapital, fungiert im Produktionsprozeß nur als Träger des Kapitals ...“ [51] Die Arbeiterklasse kann sich den Zwängen des Kapitals widersetzen, was sie auch macht. Und ab dem Augenblick, wo sie Widerstand leisten, werden die Arbeiter zu mehr als bloß Personifizierungen der Arbeitskraft. Sie treten auf den Weg zur Aufhebung ihrer Entfremdung, wobei sie bewußte Leiter der Produktion, der Gesellschaft und der Geschichte werden.

Der Gegensatz zwischen der Gefangenschaft der Bourgeoisie und der (relativen) Freiheit des Proletariats hat auch Implikationen für die Zwischenschichten, die man normalerweise den Mittelstand bzw. das Kleinbürgertum nennt. Innerhalb des linken Flügels dieser Schicht wird die politische Strategie des Reformismus eng mit der persönlichen Strategie des Aufstiegs in der Hierarchie der Berufe und der Einrichtungen. Der Sozialarbeiter, der Beamte in der Kommune, der Lehrer und der Journalist erzählen sich und anderen, daß sie durch die Leitungsstruktur aufsteigen müssen, um ihre Abteilung, ihre Schule, ihre Zeitung oder was auch immer zu leiten, so daß sie ihre Vorstellungen in die Praxis umsetzen können und die Macht dafür gewinnen, Sachen zu ändern. In Wirklichkeit, je höher das Individuum aufsteigt, je mehr sie durch die Logik des Kapitals eingeschränkt werden, je mehr sie ihre Freiheit verlieren, sich dieser Logik zu widersetzen, und in diesem Sinne je mehr ihr Verhalten bestimmt wird.

 

 

Determinismus und Klassenkampf

Die größere relative Freiheit des Proletariats, seine Fähigkeit, die Wahl zu treffen, sich den Zwängen des Kapitals zu widersetzen. führt unmittelbar zur Frage des Determinismus im Klassenkampf. Inwieweit werden die Existenz, der Verlauf und das Ergebnis des Klassenkampfs objektiv, unabhängig vom Willen, vom Bewußtsein und von der absichtlichen Einmischung von Arbeitern und revolutionären Sozialisten bestimmt? Diese Frage bzw. Fragenreihe ist politisch der wichtigste Aspekt [die wichtigste Seite] der ganzen Frage des Determinismus. Gerade bei diesem Punkt steht die philosophische Debatte am unmittelbarsten im Zusammenhang mit der sozialistischen Praxis.

Die Behauptung, daß der Klassenkampf während der ganzen Geschichte aus den ausbeuterischen Produktionsverhältnissen entsteht, ist einer der zentralen Pfeiler des historischen Materialismus. In der Tat ist es die Ausbeutung, die Aneignung der aus den unmittelbaren Produzenten erpreßten Mehrarbeit, die den Konflikt erzeugt, worin der Klassenkampf sich gestaltet. Als G.E.M. de Ste. Croix es ausgedrückt hat: „Klasse (im wesentlichen ein Verhältnis) ist der kollektive gesellschaftliche Ausdruck der Tatsache der Ausbeutung, der Weise, wie die Ausbeutung in einer Gesellschaftsstruktur verkörpert ist.“ [52] In der kapitalistischen Gesellschaft ist es die Gewinnung des Mehrwerts, der innerhalb des Lohnarbeitsverhältnisses verborgen ist, der zum Antagonismus und zum Konflikt zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat führt. Es gibt einen objektiven Interessenkonflikt zwischen den Klassen, worin die von der Konkurrenz getriebenen Kapitalisten ständig danach streben, die Ausbeutungsrate zu steigern (durch Kürzung der Löhne, durch Verlängerung des Arbeitstages und durch die Steigerung der Produktivität), und die von naturgegebenen und gesellschaftlich entwickelten Bedürfnissen getriebenen Arbeiter danach streben, sie zu beschränken. Dieser ist ein Kampf, der jeden Arbeitstag von jeder Arbeitswoche in jedem Arbeitsplatz überall in der kapitalistischen Welt während der ganzen kapitalistischen Epoche stattfindet, und der in einer mehr oder minder vermittelten Form jeden anderen Aspekt und Ebene der Gesellschaft durchdringt. Das Bestehen des Klassenkampfs ist deshalb nicht etwas, das von Marx oder Marxisten, oder von Agitatoren und Unruhestiftern erfunden, geschaffen, entfacht oder wie auch immer ins Leben gerufen geworden ist. Es ist ein ökonomisch bestimmtes und unvermeidliches Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft.

Das Niveau der Heftigkeit des Klassenkampfs schwankt jedoch gewaltig. Die bürgerliche Gesellschaft geht durch Perioden des angeblichen Klassenfriedens, wo der Klassenkampf, obwohl er weiter besteht, unter der Oberfläche vergraben ist, und durch Perioden des offenen Klassenkriegs im buchstäblichen Sinne der Revolution und der Bürgerkriegs, wie auch durch jede Zwischenstufe zwischen diesen beiden Extremen.

Wenn man den Ausmaß analysiert, wozu das Niveau des Klassenkampfs ökonomisch oder anderswie bestimmt wird, ist es notwendig, kurz zur früher zwischen der relativen Handlungsfreiheit der Bourgeoisie und des Proletariats gemachten Unterscheidung zurückzukehren. Die bürgerliche und die proletarische Seiten des Klassenkampfs sind offensichtlich miteinander verbunden, aber sie sind weder identisch noch genau symmetrisch. Die bürgerliche Seite ist stark ökonomisch bestimmt. Offensichtlich spielen politische, historische und auch individuelle psychologische Faktoren wirklich eine Rolle bei der Beeinflussung der Taktik sowie der Schärfe, mit denen sie ihre Interessen verfolgt. Nichtsdestotrotz ist der Zwang der Ökonomie sehr mächtig und die Bourgeoisie hat einen sehr starken „Klasseninstinkt“ entwickelt, d.h. ein sehr klares praktisches Bewußtsein davon, wo ihre Interessen liegen. Es ist deswegen möglich, die allgemeine Regel oder „Gesetz“ zu formulieren, daß in Zeiten der ökonomischen Krise, wo Profitraten fallen und die Konkurrenz zwischen Kapitalien sich steigert, die Bourgeoisie ihren Angriff gegen den Lebensstandard der Arbeiterklasse verstärken wird.

Wenn es jedoch um die proletarische Seite geht, können wir nicht à la Newton sagen, daß jede (bürgerliche) Aktion eine gleiche und gegensätzliche Reaktion verursacht. Es ist eine empirische Tatsache, daß es immer Widerstand gegen die Ausbeutung und die Unterdrückung gegeben hat, auch in den schwierigsten Umständen (auch in Nazi-Deutschland und im stalinistischen Rußland, auch in den Vernichtungslagern und im Gulag). Aber es ist nicht weniger eine Tatsache, daß es immer auch Ergebenheit und sogar Kollaboration gibt. Die relativen Proportionen dieser verschiedenen Reaktionen unterscheiden sich untereinander gewaltig und steht in keinem festen bzw. mechanischen Verhältnis zu den ökonomischen Zuständen.

Offensichtlich bildet das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte und ihrer begleitenden Produktionsverhältnisse zusammen mit der unmittelbaren ökonomischen Zusammenhang den Anfangspunkt für das Niveau des Klassenkampfs der Arbeiterklasse. Der Grad und das Wesen der Industrialisierung in der Gesellschaft bestimmen die Größe der Arbeiterklasse und ihr objektives Gewicht innerhalb der Wirtschaft. Daher bestimmen sie auch die potentielle Stärke der Arbeiterklasse im Kampf, bestimmen aber überhaupt an sich nicht den Ausmaß, wozu dieses Potential tatsächlich verwirklicht wird. Anfang dieses Jahrhunderts waren die Arbeiterklassen in den ökonomisch fortgeschrittenen Ländern Deutschland und Großbritannien größer und potentiell mächtiger als die Arbeiterklasse im rückständigen Rußland, aber das Niveau des Kampfs war in Rußland viel höher. Die unmittelbare ökonomische Lage kann mächtige Anstöße dem Kampf liefern – die Inflation gibt z.B. dem Kampf um höhere Löhne starken Auftrieb –, aber noch einmal ist die Reaktion nicht automatisch.

Trotzki diskutierte diese Frage mehrere Male. [53] Er argumentierte, daß der Aufstieg einer revolutionären Massenarbeiterbewegung und ein erfolgreicher Kampf um die Staatsmacht zweifelsohne als Voraussetzung eine verallgemeinerte Krise der kapitalistischen Ordnung hatten, d.h. eine Verschärfung des grundsätzlichen Widerspruchs zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, die eine verlängerte Periode der Instabilität und den raschen Wechsel von Booms und Slumps [Auf- und Abschwüngen] erzeugt. Aber er lehnt jede Vorstellung einer „automatischen Abhängigkeit der proletarisch-revolutionären Bewegung von einer Krise. Es gibt nur eine dialektische Wechselwirkung.“ [54] Trotzki betont insbesondere, wie unter bestimmten Umständen, besonders wo die Arbeiterklasse nach größeren Kämpfen erschöpft ist, verlängerte Arbeitslosigkeit ihre Kämpfe demoralisieren und schwächen kann, während eine vorläufige ökonomische Wiederbelebung das Niveau des Kampfs erhöhen kann.

Im Gegensatz dazu, wird die industrielle Wiederbelebung an erster Stelle ganz bestimmt das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse erhöhen, das durch das Scheitern und durch Uneinigkeit in den eigenen Reihen unterminiert wurde: sie wird ganz bestimmt die Arbeiterklasse in den Fabriken und Betrieben zusammenschmelzen und den Wunsch nach Einmütigkeit in militanten Aktionen erhöhen. [55]

... Im Augenblick, wo der Betrieb damit aufhört, alte Arbeiter zu entlassen, und neue einstellt, wird das Selbstvertrauen der Arbeiter verstärkt: sie sind wieder notwendig. [56]

Diese Bemerkungen sind äußerst nützliche Hinweise oder Richtlinien, aber man kann sie ebensowenig als allgemein gültige Verallgemeinerungen behandeln wie die mechanische Vorstellung, daß Abschwung gleich Revolte ist. Erstens deswegen, weil auch rein ökonomisch gesehen keine zwei Aufschwünge bzw. Abschwünge gleich sind. Zweitens deswegen, weil das Verhältnis zwischen ökonomischen Umständen und dem Arbeiterkampf durch mehrere Faktoren vermittelt wird – das Niveau und die Qualität der gewerkschaftlichen Organisation, das Niveau und die Qualität der politischen Organisation, das Niveau des allgemeinen politischen Bewußtseins, das Niveau der Wut, das Verhalten der gewerkschaftlichen und politischen Führung und die Stärke, das Selbstvertrauen, die Klugheit usw. der kapitalistischen Klasse – die alle nicht bloß durch die aktuelle Lage sondern auch durch die unmittelbare und sogar durch die fernere Vergangenheit bestimmt werden, und die alle in einer komplizierten Wechselwirkung verwickelt sind.

Daher muß jede zufriedenstellende Darstellung des Niveaus und des Verlaufs des Klassenkampfs entweder in der Vergangenheit oder in der Gegenwart eine konkrete Analyse sein, die die ökonomischen Umstände als Anfangspunkt annimmt, aber all diese Elemente einschließt. Die Komplexität davon heißt, daß man jeden Versuch, die Gestalt des Arbeiterkampfs auch in der unmittelbaren Zukunft und sicherlich darüber hinaus vorherzusagen, mit großer Vorsicht unternehmen muß. Gramscis Warnung ist nützlich:

In Wirklichkeit kann man „wissenschaftlich“ nur den Kampf vorhersehen, aber nicht die konkreten Momente des Kampfs, die nur das Ergebnis der gegensätzlichen Kräfte in ständigen Bewegungen, die nie auf feste Quantitäten reduzierbar sind, da in ihnen Quantität ständig Qualität wird. [57]

Der Endzweck aller marxistischen Analyse des Klassenkampfs ist jedoch weder seine Zukunft vorherzusagen noch eine ausreichende Erklärung seiner Geschichte zu liefern, sondern darin zu intervenieren, um bei der Gestaltung seiner Richtung zu helfen. Und es ist gerade vom Standpunkt der Intervention, daß das Niveau des Klassenkampfs innerhalb bestimmter Grenzen entweder vom individuellen sozialistischen Militanten oder von der revolutionären Partei als Gegebenes betrachtet werden muß, d.h. als etwas, das objektiv unabhängig vom Willen des Individuums und der Partei bestimmt wird. Wie jeder Vertrauensperson bzw. Betriebsrat weiß (oder bald lernt), kann man Streiks nicht nach Belieben in der Abwesenheit eines echten Wunsches seitens der betroffenen Arbeiter aufrufen. Das gilt noch stärker für Generalstreiks bzw. Aufstände und jeder Verstoß gegen dieses Gesetz der revolutionären Strategie hat unvermeidlich verheerende Folgen [Konsequenzen]. (Das klassische negative Beispiel dieser Regel ist die Märzaktion von 1921, wo die KPD künstlich versuchte, die deutsche Arbeiterklasse zur Revolution anzustacheln, es ihr nur gelang, die eigenen Mitgliedschaft und Autorität zu zerschlagen. [58]) Ebenso gibt es Zeiten, wo Teile der Arbeiterklasse oder auch die Mehrheit der Klasse sich ohne Rücksicht auf die Einwände oder Bedenken auch ihrer fortgeschrittensten Führer in den Kampf bewegt. Eine solche Bewegung war die Februarrevolution von 1917, als die Massenrevolte anfing, die den Zarismus stürzte, trotz einer ursprünglich unwilligen Bolschewistischen Partei. Wie Trotzki berichtet:

Der 23. Februar war internationaler Frauentag. In sozialdemokratischen Kreisen war geplant, ihn in üblicher Weise, durch Versammlungen, Reden und Flugblätter, auszuzeichnen. Keinem kam in den Sinn, daß der Frauentag zum ersten Tag der Revolution werden sollte. Nicht eine einzige Organisation rief an diesem Tage zu Streiks auf. Mehr noch, die bolschewistische Organisation, und zwar eine der aktivsten, das Komitee des durchweg proletarischen Wyborger Bezirks, hielt entschieden vor Streiks zurück.

... Am andern Morgen jedoch traten den Direktiven zuwider die Textilarbeiterinnen einiger Fabriken in den Ausstand und entsandten Delegierte zu den Metallarbeitern mit der Aufforderung, den Streik zu unterstützen ...

Die Tatsache bleibt also bestehen, daß die Februarrevolution von unten begann nach Überwindung der Widerstände der eigenen revolutionären Organisationen ... [59]

In diesen beiden Umständen müssen möchtegern-revolutionäre Führer auf lokaler bzw. nationaler Ebene sich der objektiv bestimmten Wirklichkeit anpassen.

Diese Erkennung der Notwendigkeit ist jedoch nur der Anfangspunkt der Aktion. Führung, die dazu beabsichtigt wird, um den Kampf zu konzentrieren und sein Niveau weiter zu erheben, ist notwendig, um ihren Erfolg zu sichern. Es ist ebenso Teil der Erfahrung jedes Militanten an der Basis und jeder politischen Führung, daß es Momente gibt, wo eine einzige Rede bei einer Massenversammlung, eine kühne Initiative durch einen Betriebsrat oder eine konzertierte Intervention durch eine politische Partei eine bedeutende oder sogar eine entscheidende Differenz zum Verlauf des Kampfs machen kann, entweder positiv oder negativ. So machte die Entscheidung der Führung der NUM und des TUC [4*] im Oktober 1992, die erste große Demonstration gegen Zechenschließungen um den Hyde Park zu marschieren, anstatt sie direkt zum Parlament zu führen, eine gewaltige Differenz für die Fähigkeit der Konservativen Regierung, die Krise zu überstehen. Umgekehrt machte die Entscheidung, oder eher die Reihe von Entscheidungen, der Socialist Workers Party in 1977 sich der National Front bei Lewisham gegenüberzustellen und die Anti-Nazi League [5*] zu gründen eine gewaltige Differenz im Kampf gegen den Faschismus in Großbritannien.

Das bringt uns zur Frage, ob man das Endergebnis des Klassenkampfs als bestimmt betrachten kann, das ist die alte Frage der „Unvermeidlichkeit des Sozialismus“. Man muß zugeben, daß es innerhalb der klassischen marxistischen Tradition eine bestimmte Zweideutigkeit über diese Frage gibt. Auch im Kommunistischen Manifest finden wir gegensätzlichen Formulierungen. Einerseits:

Sie [die Bourgeoisie] produziert vor allem ihren eignen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich. [60]

Andererseits:

Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen ... einem Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen. [61]

Selbstverständlich gibt es ein Element der rhetorischen Ausschmückung in der Phrase „gleich unvermeidlich“, ebenso wie es eine Mangel an Detail in der Phrase „gemeinsamer Untergang der kämpfenden Klassen“ gibt. Aber fast 150 Jahre nach der Veröffentlichung des Manifests, klingt die Rhetorik über die Unvermeidlichkeit etwas hohl, während die konkrete des „gemeinsamen Untergangs“ allzu deutlich geworden ist. Vom Augenblick, wo der Kapitalismus sich mit nuklearen Waffen bewaffnete und dadurch seine Fähigkeit demonstrierte, sich und mit sich die Menschheit zu vernichten, wurde alle Rede über die Unvermeidlichkeit des Sozialismus absurd. [62]

Es ist jedoch nicht bloß eine Frage der Möglichkeit des nuklearen Holocausts, die Erfahrung der Arbeiterrevolutionen des 20. Jahrhunderts hat denselben Punkt demonstriert. Nach der Russischen Revolution, der Deutschen Revolution, der Spanischen Revolution und anderen ist es offenkundig falsch, die sozialistische Revolution als völlig bestimmten oder garantierten Prozeß zu betrachten. Das anzuerkennen, heißt nicht, den Sozialismus zu einer Utopie zu reduzieren, noch den Sieg der Arbeiterklasse als Zufallssache zu betrachten. Ganz im Gegenteil, wie der Marxismus immer argumentiert hat, gibt es mächtige und objektiv bestimmte historische Kräfte die zugunsten eines Sieges des Proletariats arbeiten. Diese schließen folgende ein: seine riesige zahlenmäßige Überlegenheit gegenüber der Bourgeoisie; seine Konzentration in Betrieben und Städten; die Abhängigkeit der Bourgeoisie von der Arbeiterklasse für seine ganzen Vorgänge, einschließlich das Funktionieren ihres Staats; und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse die Gesellschaft ohne die Bourgeoisie herrschen kann, aber die Bourgeoisie nicht ohne die Arbeiterklasse existieren kann, was heißt, daß die Bourgeoisie immer wieder auf unbegrenzte Zeit die Arbeiterklasse niederschlagen muß, aber das Proletariat die Bourgeoisie einmal niederschlagen muß (in einem welthistorischen Sinne). Diese Faktoren machen den endgültigen Sieg des Proletariats zu einer realistischen Möglichkeit. Vielleicht machen sie ihn wahrscheinlich. Sie garantieren ihn aber nicht.

Sie garantieren ihn nicht, weil, um den Übergang von der untergeordneten zur herrschenden Klasse zu machen, das Proletariat eine akute Konfrontation mit der Bourgeoisie durchgehen muß, wo für eine Zeitlang die Macht der beiden Klassen fast gleich ist und zu welchem Zeitpunkt die Bourgeoisie, wenn sie die Chance bekommt, gegen die Arbeiterklasse mit gewaltiger Kraft zurückschlagen wird. Zu diesem Zeitpunkt dann die Geschichte deswegen entweder dem einen oder dem anderen Weg folgen. als Trotzki am Vorabend der Triumphe von Hitler in Deutschland schrieb, benutzte er eine treffende Metapher, um eine solche Situation zu beschreiben:

Deutschland geht jetzt durch eine derjenigen großen historischen Stunden, von der das Schicksal des deutschen Volkes, das Schicksal Europas und im bedeutenden Maße das Schicksal der ganzen Menschheit jahrzehntelang abhängen werden. Wenn man einen Ball an der Spitze einer Pyramide stellt, kann der kleinste Anstoß ihn dazu bringen, nach links oder nach rechts hinunterzurollen. Das ist die Lage, die in Deutschland heute mit jeder Stunde nähert. Es gibt Kräfte, die möchten, daß der Ball nach rechts hinunterrollt und den Rücken der Arbeiterklasse bricht. Es gibt Kräfte, die möchten, daß der Ball an der Spitze bleibt. Das ist Utopie. Der Ball kann nicht an der Spitze der Pyramide bleiben. Die Kommunisten wollen, daß der Ball nach links hinunterrollt und den Rücken des Kapitalismus bricht. [63]

Die Russische Revolution ging durch einen ebensolchen Augenblick im September und im Oktober 1917. Die Konterrevolution in der Form vom General Kornilow hatte versucht, die Revolution in Blut zu ertrinken, und ist zurückgeschlagen worden. Sie bereitete einen neuen Schlag vor. Die Bolschewiki hatten eine Mehrheit in den Sowjets gewonnen und die Arbeiterklasse erwartete, daß sie ihre Worte in Taten umwandeln sollten. Die Provisorische Regierung unter Kerenski war lahmgelegt und zerbröckelte. Das Schicksal der Revolution stand auf Messers Scheide zwischen der Diktatur des Proletariats und der Diktatur der Konterrevolution.

Niemand verstand das besser als Lenin. In einer merkwürdigen Reihe von Reden, Artikeln und Briefen bombardierte Lenin das Zentralkomitee der Bolschewistischen Partei mit immer dringenderen Forderungen, daß es „die Zeit ergreifen“ und die Revolution organisieren sollte. Das Thema dieser Texte, das immer und immer wieder wiederholt wird, lautete, daß die Revolution eine entscheidende Wendepunkt erreicht hatte und daß „die Saumseligkeit dem Tode ähnelt“. [64] Am 29. September 1917 schreibt Lenin:

Die Krise hat gereift. Die ganze Zukunft der Russischen Revolution ist auf dem Spiel. Die Ehre der Bolschewistischen ist in Frage. Die Zukunft der internationalen Arbeiterrevolution um den Sozialismus ist auf dem Spiel ...

Es zu unterlassen, die Macht jetzt zu ergreifen, zu „warten“ ..., heißt, die Revolution zum Scheitern zu verurteilen. [Hervorhebung im Originaltext] [65]

Am 24. Oktober schreibt er:

Die Situation ist äußerst kritisch ...

Ich ermahne meine Genossen mit meinem ganzen Herzen und Stärke, zu verstehen, daß alles jetzt von einem Faden hängt ... die Regierung schwankt. Es muß auf jeden Preis zerstört werden!

Zu verzögern, wird tödlich [verhängnisvoll?] sein. [66]

Als er über diese Periode und auch über die ebenso wichtigen Apriltage nachdachte, als Lenin die Bolschewistische Partei eine neue Orientierung weg von der Vervollständigung der bürgerlichen Revolution und für die Sowjetmacht gab, kam Trotzki zum Schluß, daß Lenins Rolle im Sieg der Revolution unvermeidlich gewesen war. Ohne Lenin, schrieb er, „hätte es keine Oktoberrevolution gegeben; die Führung der Bolschewistischen Partei hätte ihr Stattfinden verhindert“. [67]

Die Bedeutung dieser Schlußfolgerung für die Frage des Determinismus als Ganze wird von Isaac Deutscher hervorgehoben, der Trotzki gerade über diesen Punkt kritisiert. Im Ausgestoßenen Prophet wirft Deutscher Trotzki vor, daß er die Rolle Lenins überbetont, daß er in diesem Fall dem „Leninkult“ erliegt und daß er ein Argument darstellt, „das stark gegen den Strich der marxistischen intellektuellen Tradition geht“. [68] Er zitiert als seine Autorität und als „typischer Vertreter dieser Tradition“ Plechanows Broschüre Die Rolle des Individuums in der Geschichte, die argumentiert: „Einflußreiche Individuen können die einzelnen Details der Ereignisse und einige ihrer besonderen Folgen ändern können, aber sie können nicht ihren allgemeinen Trend ändern, der von anderen Kräften bestimmt wird“ (Hervorhebung im Original). [69]

Was die Einzelheiten der Frage betrifft, unterstützt das Beweismaterial Trotzki stark, insofern es äußerst unwahrscheinlich ist, daß ein anderer revolutionärer Führer in Rußland in 1917 das hätte machen können, was Lenin machte, d.h. die bolschewistische Führung für die Perspektive eines Aufstands gewinnen. [70] Aber was wichtig ist, besteht darin, daß die Logik des Arguments von Plechanow/Deutscher über den besonderen Fall Lenin hinaus zur ganzen historischen Rolle der Parteiführung hinzieht, denn es war nicht als einzelner Inspirator der Massen, daß Lenin seinen entscheidenden Beitrag leistete, sondern in und durch die Bolschewistischen Partei. Wie ich anderswo geschrieben habe:

Wenn die Entscheidungen bzw. der Einfluß von Individuen nicht entscheidend werden können, dann wie ist es mit den Entscheidungen von Parteiführungen, die aus Individuen bestehen, oder von Parteien als Ganzen, die im Vergleich mit den Grundkräften der Revolution, d.h. Klassen, immer noch relativ kleine Gruppen sind? Deutscher meint, daß eine solche Ansicht die grundliegende marxistische Ansicht widerspricht, daß größere historische Änderungen durch gesellschaftliche Massenkräfte bewirkt werden. Was er nicht bemerkt, ist der dialektische Punkt, daß die historische Entwicklung ein Produkt der Widersprüche, der großen gesellschaftlichen Kräfte ist, die sich in gegensätzlichen Richtungen bewegen, und daß zu entscheidenden historischen Wendepunkten diese gesellschaftliche sich fast genau im Gleichgewicht halten können.

Es ist gerade in solchen Situationen, daß offenbar kleine Faktoren wie die Qualität der Führung bzw. die Entscheidungen eine Zentralkomitees entscheidend das Gleichgewicht und deshalb den Verlauf der Geschichte in die eine oder andere Richtung verschieben können. Was gefährlich bei der deterministischen Ansicht ist, besteht darin, daß nur in solchen Situationen die proletarische Revolution stattfinden kann. Anders als die Bourgeoisie kann das Proletariat nicht ständig Kraft zusammensammeln [akkumulieren], bis es ökonomisch, politisch und kulturell mächtiger als sein Gegner ist. Seine Situation als schuftende, ausgebeutete und besitzlose Klasse bedeutet, daß eine Situation des „Gleichgewichts“ die beste und die höchste Position ist, die das Proletariat unter dem Kapitalismus erreichen kann. Wenn dieser „Augenblick“ verloren geht, wird die Macht der Bourgeoisie und des Kapitals sich unvermeidlich erneut bekräftigen. [71]

Plechanow und Deutscher stehen hier wie anderswo als Vertreter eine stark deterministischen Interpretation des Marxismus, die allzu leicht in den passiven Fatalismus rutscht und deren Ablehnung einer der Hauptzwecke dieses Artikels ist. [72]

Weitere Bestätigung der antideterministischen Position liefert das Schicksal der Deutschen Revolution. Die Deutsche Revolution, betrachtet als ganzen Prozeß, dauerte fünf Jahre ab Ende 1918 bis ende 1923, aber es war in 1923, daß sie zuspitzte. Im Sommer und im Herbst jenes Jahres kamen alle objektiven Kräfte zusammen, die zu einer akuten revolutionären Krise führen: eine verallgemeinerte ökonomische, gesellschaftliche und politische Krise, die beträchtlich durch die französische Besatzung des Ruhrgebiets verschärft wurde, führte zu einer katastrophalen Inflation; plötzliche und massive Verelendung der Mehrheit der Bevölkerung; eine große und mächtige Arbeiterbewegung; rasche Desillusionierung mit den reformistischen Führern und Organisationen; eine massive spontane Streikwelle; eine revolutionäre Massenpartei (die KPD), die rasch die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiterklasse gewann. Und trotzdem ließ man diese hervorragende revolutionäre Möglichkeit verlorengehen. Während des ganzen Sommers 1923 versäumte es die KPD, irgendwelchen zusammenhängenden Aktionsplan für den Kampf um die Macht zu entwerfen bzw. ein starkes revolutionäres Beispiel zu geben. Sie verließ sich ständig auf Moskau für Ratschläge, schwankte weiter zwischen einer Politik der Bildung von Koalitionsregierungen mit den Sozialdemokraten in den Ländern und dem Spielen mit dem Aufstand bis zum Fiasko in Hamburg im Oktober, wo einige Hundert Kommunisten in einen isolierten Aufstand traten, der innerhalb von 48 Stunden niedergeschlagen wurde. Wie Trotzki bemerkte: „Wir haben dort [in Deutschland] ... ein klassisches Beispiel vor Augen gehabt, wie man eine ganz außergewöhnliche revolutionäre Situation von welthistorischer Bedeutung verpassen kann.“ [73]

Es ist unmöglich, den Sieg in Rußland und die Niederlage in Deutschland mittels einer Theorie des absoluten ökonomischen bzw. gesellschaftlichen Determinismus zu erklären. Der Unterschied liegt im subjektiven Faktor, in der Qualität der revolutionären Führung, in der Tatsache, daß Heinrich Brandler und die anderen Führer der KPD es versäumten, die Initiative im entscheidenden Augenblick zu ergreifen. Natürlich ist es möglich im nachhinein Gründe anzubieten, warum die deutsche Führung scheiterte – sie wurden zurückgehalten und bekamen falschen Rat von Sinowjew (und Stalin) in Moskau; sie waren demoralisiert und konservativ als Ergebnis ihrer Fehler in der Märzaktion. Die Untersuchung jeder dieser Gründe führt jedoch zurück zu Ereignissen und Umständen, die leicht anders hätte sein können: Wenn Lenin nicht einen Schlaganfall gehabt hätte und immer noch in Moskau am Steuer gewesen wäre; wenn die russische Führung der bitte Brandlers zugestimmt hätte, daß Trotzki nach Deutschland fahren sollte; wenn Luxemburg, bei weitem die größte der Führer der KPD, nicht 1919 ermordet gewesen wäre. Aber die Möglichkeit des revolutionären Sieges in 1923 zu akzeptieren, heißt, die Möglichkeit zu akzeptieren, daß die folgende Weltgeschichte ganz anders hätte sein können – kein Faschismus in Deutschland, kein Stalinismus in Rußland und die wirkliche Möglichkeit der Weltrevolution. [74]

Zusammenfassend können wir sagen, daß in der Frage des Klassenkampfs der Marxismus die gleiche relativ deterministische Position annimmt, die ich aus abstrakten Gründen frühe in diesem Artikel argumentiert habe. Er behandelt das Bestehen des Klassenkampfs als äußerst stark bestimmt, sein allgemeines Niveau als stark, aber keineswegs völlig bestimmt und sein Ergebnis als etwas, das in der Schwebe ist.

Es ist jedoch in der schwebe zwischen stark bestimmten Alternativen, schließlich zwischen dem Sozialismus und der Barbarei. Der Kapitalismus ist natürlich ständig barbarisch – man denkt an der Somme, an Auschwitz, an Hiroshima, am Golfkrieg, an Ruanda und an vielen anderen Beispielen –, aber in der sozialistischen Tradition hat die Barbarei eine andere, verwandte aber unterschiedliche, Bedeutung. „Sie kann die totale Zerstörung der Zivilisation durch den Niedergang der Gesellschaft in eine unhistorische Ära bezeichnen“ [75], oder Marx’ „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“. [76] Es ist im letzteren Sinne, den ich sie hier benutze, denn die hoch bestimmte Dynamik und Widersprüche des Kapitalismus solche sind, daß, wenn der Kapitalismus erlaubt wird, unbegrenzt weiterzubestehen, er uns alle zerstören wird.

Diese Analyse hat sehr deutliche Implikationen für die sozialistische Praxis. Sie bedeutet, daß in jeder konkreten Situation es eine bestimmte Einschränkung darauf gibt, was wir durch unsere bewußte Aktion erreichen können. Gleichzeitig trägt jede Aktion, egal wie klein, die dem Kampf der Arbeiterklasse hilft, auch , obwohl nur im kleinen Ausmaß, dazu bei, ihren endgültigen Sieg wahrscheinlicher zu machen. Die bei weitem wirksamste Aktion, die Sozialisten unternehmen können, besteht darin, ihre Anstrengungen in einer politischen Partei zu kombinieren und zu koordinieren, die darauf arbeitet, sowohl den Klassenkampf hier und jetzt aufs Maximum zu fördern als auch für den Augenblick bzw. die Augenblicke der entscheidenden Konfrontation in der Zukunft vorzubereiten.

Offensichtlich ist es nicht möglich, im voraus zu „organisieren“, daß man einen Lenin oder einen Trotzki oder eine Luxemburg zur passenden Zeit vorhanden hat, aber der Aufbau einer starken revolutionären Partei ist immer noch die wirksamste, oder eher die einzige wirksame, Weise, wie man eine wirksame Führung erringen kann.. Denn wie Lenin schreibt:

Gerade darin besteht unter anderem die Bedeutung der Parteiorganisation und der Parteiführer, die diesen Namen verdienen, daß man durch langwierige, hartnäckige, mannigfaltige, allseitige Arbeit aller denkenden Vertreter der gegebenen Klasse die notwendigen Kenntnisse, die notwendigen Erfahrungen, das – neben Wissen und Erfahrung – notwendige politische Fingerspitzengefühl erwirbt, um komplizierte politische Fragen schnell und richtig zu lösen. [77]

Und wie Trotzki es ausdrückt:

Der Bolschewismus ist keine Doktrin (vielmehr: nicht nur Doktrin), sondern ein System revolutionärer Erziehung zum proletarischen Umsturz. Was heißt es, die Bolschewisierung der kommunistischen Parteien? Das heißt: eine derartige Erziehung und eine solche Auswahl der Führer, daß sie nicht im Augenblick ihrer Oktoberrevolution versagen. „Das ist Hegel und Bücherweisheit und der Sinn aller Philosophie!“ [78]

 

 

Schlußfolgerung: die lange Sicht

Die bürgerliche Ideologie, wie wir im ersten Teil dieses Artikels bemerkt haben, schwankt zwischen dem idealistischen Voluntarismus, der die bestimmende Rolle der materiellen Bedingungen und der gesellschaftlichen Verhältnisse ablehnt, und dem mechanischen Materialismus, die die Menschen als passive Gegenstände betrachtet und die Rolle der bewußten menschlichen Praxis ablehnt. Diese beiden Denkweisen sind Verallgemeinerungen, die aus widersprüchlichen Aspekten des gesellschaftlichen Seins der Bourgeoisie und dem gesellschaftlichen Wesen des Kapitalismus stammen. Der idealistische Voluntarismus widerspiegelt die Position der Bourgeoisie als herrschende Klasse, die von der Arbeit anderer lebt, die sich vorstellt, ihre Ideen und ihr Wille der Demiurg der Geschichte sind. Der mechanische Materialismus widerspiegelt die Unterordnung der Bourgeoisie selbst den ökonomischen Gesetzen des Kapitalismus und seine Betrachtung der werktätigen Massen als einfache Faktoren der Produktion.

Der Marxismus lehnt diese beiden Positionen ab, indem er als seinen Anfangspunkt das gesellschaftliche Sein der Arbeiterklasse annimmt. Die Arbeiterklasse begegnet unmittelbar und unausweichlich die bestimmenden Wirkungen sowohl der physischen Natur – das Gewicht des Steins, den Widerstand des Metalls, die Kälte des Winters, die Hitze der Sonne – als auch der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse – den Druck der Armut, Die Notwendigkeit, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, die Auswirkungen des Arbeitslosigkeit, die unsichtbaren, aber wirklichen Hindernisse zum gesellschaftlichen Aufstieg. Trotzdem ist die Arbeiterklasse gleichzeitig ständig am bewußten Versuch beteiligt, die Natur sowie die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verwandeln. Potentiell hat sie die kollektive Macht dazu, das ganze Gesellschaftssystem zu stürzen und eine neue Gesellschaft zu gründen, worin sie gleichzeitig produzieren und die Produktion bewußt lenken wird. Gerade auf dieser Basis geht der Marxismus über die Grenzen des Idealismus und des mechanischen Materialismus hinaus [übertrifft der Marxismus den Idealismus und den mechanischen Materialismus] im dialektischen Materialismus, der seinen höchsten Ausdruck in der bewußten revolutionären Praxis findet. Die bewußte revolutionäre Praxis ist Aktivität, die das weitmöglichste Verständnis aller natürlichen und gesellschaftlichen Kräfte nutzt, die das menschliche Verhalten einschränken und gestalten, um das den Ausschlag zugunsten der Arbeiterklasse zu geben und die Menschheit vor dem Abgrund zu retten.

In jeder historischen Situation gibt es eine Spannung zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen dem, was objektiv bestimmt wird, und dem, was wir bewirken bzw. ändern können, aber das Gleichgewicht zwischen Notwendigkeit und Freiheit ist nicht fest und stabil. In der Morgenröte der menschlichen Geschichte und für eine lange Zeit danach war das Element der Notwendigkeit stark vorherrschend. Das menschliche Verhalten wurde massiv von Kräften außerhalb unserer Kontrolle dominiert, durch die Wechselwirkung zwischen der äußeren Natur und der eigenen physischen Konstitution. Aber auch anwesend von Anfang an – eigentlich kennzeichnet es den Anfang – war das Embryo der menschlichen Freiheit, nämlich die bewußte gesellschaftliche Arbeit. Die ganze Geschichte besteht im Kampf darum, die menschliche Freiheit durch die Entwicklung der Kraft der menschlichen Arbeit auszudehnen. [79]

Diese Entwicklung ist jedoch weder reibungslos noch harmonisch gewesen. Sie ist dialektisch verlaufen, d.h. durch Widersprüche. Die Hebung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit bedeutete die Spaltung der Gesellschaft in gegensätzliche Klassen und die Unterordnung der Arbeit der Mehrheit der Leitung einer kleinen Minderheit und der Ausbeutung durch diese Minderheit. Dieser Prozeß spitzt unter dem Kapitalismus zu, der zu einer beispiellosen Entwicklung der Produktivkräfte führt und dadurch zur Beherrschung der Natur, trotzdem unterwirft er die ganze Welt, einschließlich insbesondere der kapitalistischen Klasse selbst, den unpersönlichen und unmenschlichen Gesetzen des Marktes, deren erstes die Akkumulation um der Akkumulation willen lautet.

Die sozialistische Revolution ist die Lösung dieses Widerspruchs. Sie ist, mit Engels’ Phrase, „der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“. [80] Das Reich der Notwendigkeit wird nicht natürlich abgeschafft. Naturgesetze und -kräfte wirken weiter auf die Menschen und zwingen sie zu arbeiten [81], und in der ersten Phase ist der Sozialismus „ noch behaftet ... mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt“. [82] Nichtsdestotrotz fängt mit der Gründung der Arbeitermacht die entscheidende Verschiebung des Gleichgewichts zwischen der Notwendigkeit und der Freiheit zugunsten der Freiheit an. Mit jedem Schritt in Richtung der internationalen Abschaffung der Klassen und der Vereinigung der Menschheit übernehmen die Menschen zunehmende Kontrolle über das eigene Schicksal. Als die materielle Not Schritt für Schritt überwunden wird, so wird die „Tyrannei des Ökonomie“ beendet. Was vorher der „endgültig bestimmende Faktor“ in der Geschichte war, nämlich die Herstellung der Notwendigkeiten des menschlichen Lebens, während er nicht verschwinden wird, eine ständig abnehmende Rolle in der Gestaltung des menschlichen Verhaltens spielen. Eine neue Gesellschaft wird gegründet, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. [83] Zu diesem Zeitpunkt erreicht der historische Materialismus, der sein Ziel errungen hat, auch seine Grenze.

 

 

Anmerkungen

37. Engels, Das Begräbnis von Karl Marx, MEW, Bd.19, S.335-6.

38. Karl Marx, Vorwort, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in MEW, Bd.13, S.8.

39. Engels an Joseph Bloch, 21./22. September 1890, MEW, Bd.37, Berlin 1967, S.463. Für Alternative Formulierungen und Ergänzungen derselben Vorstellungen s. Engels an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890 (MEW, Bd.37, S.488ff.) und Engels an Franz Mehring, 14. Juli 1893 (MEW, Bd.39, S.96ff.).

40. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in MEAW, Bd.II, Berlin 1979, S.308.

41. L. Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Bd.I, Frankfurt/M. 1973, S.8.

42. Engels an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890, MEW, Bd.37, S.491.

43. Obwohl diese Autonomie immer noch sehr eng beschränkte Grenzen hat. Der Nazi-Staat blieb ein kapitalistischer Staat, indem er einer kapitalistischen Wirtschaft vorstand, kapitalistische Produktionsverhältnisse aufrechterhielt und nicht hätte verwendet werden können, um die kapitalistische Klasse zu enteignen.

44. Diese Analyse des Marxismus, im Gegensatz zur althusserianischen Ansicht darüber als autonomer Theorie oder Wissenschaft, wird vollständiger in J. Molyneux, What is the Real Marxist Tradition Was ist Marxismus? dargestellt. Die Entwicklung des Marxismus während der Jahre 1843-48 war hoch bestimmt, indem er nicht in einer früheren Periode hätte entstehen können, bevor der Kapitalismus einen bestimmten Grad an Reife erreicht hatte und das Proletariat mindestens angefangen hatte, seine Anwesenheit spürbar zu machen. Aber man kann ihn nicht als absolut bestimmt betrachten. Ohne die individuelle Genie von Marx hätte es vielleicht beträchtlich länger gebraucht, bis der wissenschaftliche Sozialismus eine zusammenhängende Formulierung bekommen hätte.

45. Man könnte argumentieren, daß, obwohl das zu Marx’ Zeiten stimmte, als es darum ging, zu arbeiten oder zu verhungern, es im Zusammenhang des Sozialstaats aufhört zu stimmen. Es ist jedoch klar, daß keine kapitalistische Gesellschaft es erlauben würde bzw. könnte, daß die Unterstützung zum Punkt Stiege, wo mehr als eine winzige Minderheit der Arbeiterklasse freiwillig wählen würde, nicht zu arbeiten.

46. Marx’ Arbeitswerttheorie heißt, daß der wert der Ware von der Menge der gesellschaftlich notwendigen Arbeit bestimmt wird, die für ihre Herstellung gebraucht wird. Das Verhältnis des Preises zum Wert ist kompliziert, aber im wesentlichen ist der Wert einer Ware der theoretische Durchschnitt, um den ihr eigentlicher Preis schwankt.

47. s. Marx, Kapital, Bd.3, Teil III.

48. Für die beeindruckendste Erklärung, Verteidigung und Anwendung der marxistischen Krisentheorie in bezug auf den heutigen Kapitalismus s. C. Harman, Explaining the Crisis, London 1987.

49. s. Marx, Das Kapital, Bd.3, Kap.XIV.

50. Obwohl selbstverständlich nicht in jedem spezifischen Fall.

51. Marx, Das Kapital, Bd.3, S.827.

52. G.E.M. de Ste. Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World, London 1981, S.51.

53. Die Schlüsselpassagen in seinen Schriften sind gesammelt und veröffentlicht worden in L. Trotsky, The interaction between booms, slumps and strikes, International Socialism 2:20.

54. ebenda, S.135.

55. ebenda, S.139.

56. ebenda, S.142.

57. A. Gramsci, a.a.O., S.438.

58. Für eine Darstellung dieser Episode und der Auswertung Lenins davon s. T. Cliff, Lenin, Bd.4, London 1979, Kap.5 u. Kap.7.

59. L. Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, S.94-5.

60. Marx u. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in MEAW, Bd.I, S.429.

61. ebenda, S.416.

62. Diese Tatsache hat selbstverständlich solches Gerede nicht verhindert. Am bemerkenswertesten verband die Posadistische Tendenz – ein Splitter der Vierten Internationale – die „Unvermeidlichkeit“ des Sozialismus mit der „Unvermeidlichkeit“ des imperialistischen Kriegs und schloß daraus, daß die Sowjetunion einen Präventativangriff gegen den Westen durchführen sollte, sicher im Wissen, daß der Sozialismus „unvermeidlich“ aus der Asche entstehen würde.

63. L. Trotsky, The Struggle Against Fascism in Germany, New York 1971, S.137.

64. Lenin, Selected Works, Bd.6, London 1936, S.297.

65. ebenda, S.230-2.

66. ebenda, S.334-5.

67. L. Trotsky, Diary in Exile, London 1958, S.534. Diese war keine zufällige bzw. beiläufige Beurteilung; s. seine Geschichte der russischen Revolution, S.280-1, und seinen Brief an Preobraschenski, der in I. Deutscher, The Prophet Outcast, S.241, zitiert wird.

68. ebenda, S.242.

69. zit. in ebenda, S.244.

70. Trotzki selbst ist der stärkste Alternative Kandidat für diese Rolle, aber sein Status als Neuling in der Partei hätte ihn fast sicherlich die Möglichkeit verwehrt. Man soll sich daran erinnern, daß diese Tatsache immer noch gegen ihn sechs Jahre später in 1923 zählte.

71. J. Molyneux, Leon Trotsky’s Theory of Revolution, Brighton 1981, S.64-5.

72. Für eine Darstellung der Weise, wie Deutschers passiver fatalistischer Marxismus zu seiner Kapitulation vor dem Stalinismus führte s. T. Cliff, The End of the Road: Deutscher’s Capitulation to Stalinism, in T. Cliff, Neither Washington nor Moscow, London 1982.

73. L. Trotzki, Lehren des Oktobers, S.??. Für eine vollständige Darstellung der deutschen Katastrophe s. C. Harman, The Lost Revolution: Germany 1918-23, London 1982. (Verlorene Revolution)

74. Dieses Beispiel scheint mir, dem Argument von Ralph Miliband zu widerlegen, daß Individuen eine wichtige Wirkung auf der „erzeugten“ Geschichte hat, aber nicht auf der „transgenerationellen“ [?] Geschichte; s. R. Miliband, a.a.O., S.143–52.

75. T. Cliff, Russia – A Marxist Analysis, London ohne Datum, S.128.

76. Marx u. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in MEAW, Bd.I, S.416.

77. Lenin, Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in Lenin, Ausgewählte Werke, Moskau 1982, S.606.

78. Trotzki, Lehren ..., S.??.

79. Es ist eine schreckliche Ironie und Merkmal der menschlichen Entfremdung, daß die zutiefst wahre und zutiefst marxistische Äußerung: „Arbeit macht frei“, die Tore der Vernichtungslager der Nazis geschmückt hat.

80. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wirtschaft (Anti-Dühring), in MEW, Bd.20, Berlin 1978, S.264.

81. „Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen.“ K. Marx, Das Kapital, 3. Bd., S.828.

82. Marx, Kritik des Gothaer Programms, in MEW, Bd.19, Berlin 1962, S.20.

83. Marx u. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in MEAW, Bd.I, S.438.

 

 

Anmerkungen des Übersetzers

3*. Im englischen Text “new-age travellers”, eine Gruppe von Aussteigern, für die es in Deutschland keine genaue Entsprechung gibt.

4*. Die NUM (National Union of Mineworkers) ist die britische Gewerkschaft der Bergarbeiter; der TUC (Trades Unions Congress) ist der Dachverband der britischen Gewerkschaften.

5*. Im August 1977 wollte die National Front, die damals wichtigste faschistische Organisation in Großbritannien, eine Demonstration gegen die Kriminalität der schwarzen Jugendlichen durch die ethnisch sehr gemischten Gemeinde von Lewisham in Südlondon führen. Die Socialist Workers Party organisierte gemeinsam mit Organisationen in der Gemeinde eine Gegendemonstration. Nach heftigen Straßenschlachten hat die Polizei die vorzeitige Auflösung der faschistischen Demonstration gefordert. Diese war der erste große Erfolg des antifaschistischen Kampfs während der 1970er Jahre. Kurz danach wurde die Anti-Nazi League als breites Bündnis gegründet, die fast alle Elemente der antifaschistischen Bewegung zusammenbringen konnte, aber nicht auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern auf der Basis der gemeinsamen Aktion.

 


Zuletzt aktualisiert am 7.8.2001