Chris Harman

 

Basis und Überbau

(Teil 2)

 

Ideologie und Überbau

Was ist das Verhältnis zwischen einerseits Ideen und Ideologie und andererseits der Dichotomie „Basis-Überbau“?

Marx besteht hartnäckig darauf, daß man Ideen nicht vom gesellschaftlich Zusammenhang trennen kann, in denen sie entstehen. Es sagt: „bestimmte gesellschaftlichen Bewußtseinsformen entsprechen ... der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, der realen Basis“, „die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt“, „gesellschaftliches Sein ... bestimmt ... Bewußtsein“ [meine Hervorhebungen].

Um diese starke Behauptungen zu verstehen, muß man verstehen, wie Marx die Entwicklung der Ideen und der Sprache vorstellte.

Für ihn entstanden Ideen aus der materiellen Wechselwirkung der Menschen mit der Welt und miteinander:

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. [51]

Man kann zeigen, daß jede Idee ihren Ursprung in der materiellen Tätigkeit der Menschen hat:

... es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. [52]

Er impliziert hier, daß es mehrere Stufen in der Entwicklung des Bewußtseins gibt. Tiere besitzen kein Bewußtsein; höchstens sind sie unmittelbar von flüchtigen Eindrücke um sich bewußt. Menschen fangen an, über diese Stufe des unmittelbaren Bewußtseins hinaus zu bewegen, nur wenn sie damit anfangen, sich gegenseitig gesellschaftlich auf einer regelmäßigen Basis zu beeinflussen, indem sie kollektiv handeln, um ihre Umwelt unter Kontrolle zu bringen. Also argumentiert er, daß erst, als Menschen zur Stufe der „ursprünglichen, geschichtlichen Verhältnisse“ entwickelt hat, „finden wir, daß der Mensch auch ‚Bewußtsein‘ hat“. [53]

Im Prozeß des Zusammenhandelns, um einen Unterhalt zu gewinnen, schaffen Menschen für das erste Mal eine materielles Mittel, das ihnen ermöglicht, flüchtige Eindrücke als permanente Begriffe zu befestigen:

Der „Geist“ hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie „behaftet“ zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache Auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein – die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen. [54]

Oder wie er es anderswo ausdrückt: „Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache.“ [55]

Wissen ist also ein gesellschaftliches Produkt. Es stammt aus dem Bedürfnis nach Kommunikation, die der Reiche nach eine Produkt des Bedürfnisses danach, die gesellschaftliche Produktion durchzuführen. Das Bewußtsein ist der subjektive Ausdruck der objektiv bestehenden Verhältnisse. Es entsteht als das Bewußtsein derjenigen, die sich an diesen Verhältnissen beteiligen. Seine Verkörperung, die Sprache, ist ein materieller Prozeß, der eins der Bestandteile dieser Verhältnisse ist. „Die Ideen und Gedanken der Menschen waren natürlich Ideen und Gedanken über sich und ihre Verhältnisse ..., denn es war ein Bewußtsein nicht nur der einzelnen Person, sondern der einzelnen Person im Zusammenhänge mit der ganzen Gesellschaft ...“ [56]

Marx Materialismus beläuft auf folgendes. Der Geist entwickelt sich auf der Basis der Materie. Er hängt für sein Funktionieren von der Befriedigung der Bedürfnisse des menschlichen Körpers ab. Sie hängt für die Form seines Bewußtseins von den wirklichen Verhältnissen zwischen Individuen ab. Der Inhalt des individuellen Geistes hängt von der materiellen Wechselwirkung des Individuums mit der Welt und mit anderen Menschen ab.

Aber der menschliche Geist läßt sich nicht einfach auf die Materie reduzieren. Der einzelne Mensch, der denkt, hat die Fähigkeit, zu handeln. Das Subjektive entwickelt sich aus dem Objektiven, ist aber immer noch wirklich.

Wie Marx es in der ersten These über Feuerbach ausdrückt: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus ... ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv ... Feuerbach ... faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit.“ [57]

Wenn Marx die Wirklichkeit des individuellen Denkens und der individuellen Tätigkeit behauptet, betont er jedoch auch die Grenzen davon. Das Denken entsteht aus der Tätigkeit. Und sobald diese Verbindung mit der Tätigkeit gebrochen wird, wird betrachtet, daß das Denken Teil seines Inhalts verliert: „In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“ [58]

Also ist das Denken wirklich, insofern es eine praktische Anwendung hat, insofern es die Welt ändert. Es gibt eine objektive Wirklichkeit, getrennt vom menschlichen Bewußtsein. Aber erst durch ihre Tätigkeit können Menschen Kontakt mit dieser Wirklichkeit machen [verknüpfen], ihr Bewußtsein damit verbinden: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage ... Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ [59]

Es ist im Zusammenkommen der Menschheit und der Welt in der Tätigkeit, daß die Wirklichkeit der Welt sowie die Wahrheit des Denkens bestimmt werden.

Marx’ historischer Materialismus ist nicht der Ansicht, daß Wille, Bewußtsein und Absicht keine Rolle in der Geschichte spielen. Die menschliche Tätigkeit ändert ständig die Welt, worin die Menschen sich befinden, und ihre Verhältnisse miteinander.

Die mechanisch-materialistische kautskyanische Interpretation des Marxismus macht genau den Fehler, den Marx Feuerbach zuschreibt. Sie kann nicht sehen, daß die Geschichte die Geschichte der menschlichen Tätigkeit ist. Aber die gesellschaftliche Tätigkeit bringt das Bewußtsein mit sich.

Es sind Menschen mit bestimmten Ideen, die neue Werkzeuge erfinden, bestehende Lebensweisen herausfordern, revolutionäre Bewegungen organisieren oder kämpfen, um den Status quo zu verteidigen. Die Widersprüche zwischen Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, zwischen der Basis und dem Überbau, finden Ausdruck in Argumenten, organisierten Meinungsverschiedenheiten und bitteren Kämpfen zwischen Menschen. Diese sind Teil der wirklichen Entwicklung der Gesellschaft. Das zu leugnen, heißt, ein Bild der Gesellschaft darzustellen, wo explosive Gegensätze nicht mehr bestehen.

Aber das Bewußtsein entsteht nie in einer Leere. Es ist eine subjektive Verbindung zwischen objektiven Prozessen. Die Ideen eines Individuums oder einer Gruppe entwickeln sich auf der Basis der materiellen Wirklichkeit und wirken auf diese Wirklichkeit zurück. Sie lassen sich nicht auf diese Wirklichkeit reduzieren, noch aber lassen sie sich von ihr trennen.

Gerade diese Verbindung ermöglicht es uns, Sinn aus Marx’ Begriffen „falschem Bewußtsein“ und „Ideologie“ zu machen.

 

 

Falsches Bewußtsein. Wenn Menschen sich an der materiellen Praxis beteiligen, haben sie ein unmittelbares Bewußtsein ihrer Tätigkeit und des Teils, worauf sie Einfluß nimmt, das sehr unwahrscheinlich falsch ist. Wenn sie nicht blind oder geistesgestört sind, wissen sie, daß sie ins Boden graben oder mit Gewehren auf andere Menschen zielen oder was auch immer. Auf dieser Ebene stehen ihre Tätigkeit und ihr Bewußtsein in Übereinstimmung. Aber der Inhalt dieses Bewußtseins ist minimal. Eigentlich verdient es kaum den Namen „Bewußtsein“ überhaupt.

Aber neben diesem unmittelbaren Bewußtsein gibt es immer ein allgemeineres Bewußtsein. Dies versucht, über das, was die Menschen wissen, hinaus zu gehen und irgendwelche allgemeine Vorstellung des Zusammenhangs zu geben, worin sie sich befinden. Es erzählt ihnen z.B., daß sie nicht einfach graben, sondern sich einen künftigen Unterhalt besorgen, oder daß sie nicht einfach ihre Gewehre zielen, sondern daß sie ihr „Vaterland“ verteidigen.

Es gibt keine Garantie der „Wahrheit“ bzw. der „Wirklichkeit“ dieses allgemeinen Bewußtseins. Eine Wirtschaftskrise kann bedeuten, daß, egal wie hart man gräbt, man nicht die Ernte, die man züchtet, verkaufen kann, um einen Unterhalt zu verdienen; das Gewehr könnte vielleicht die Profite einer multinationalen Firma, nicht irgendwelches angebliche „Vaterland“ verteidigen.

Während das unmittelbare Bewußtsein ein wesentlicher Bestandteil der Tätigkeit ist und deshalb in einem bestimmten sehr begrenzten Sinn „wirklich“ sein muß, kann das allgemeine Bewußtsein nicht mehr als eine blinde Begleitung der Tätigkeit sein. In diesem Sinne findet es keinen Ausdruck in der Welt. Es hat, mit Marx’ Worten, keine „Diesseitigkeit“ und keine „Wirklichkeit“. Oder das Ergebnis der Tätigkeit, die es leitet, unterscheidet sich vom Erwarteten. Seine objektiver Inhalt unterscheidet sich von seinem subjektiven Inhalt. Höchstens ist es teilweise „wirklich“. [60]

Trotzdem besteht Marx darauf, daß auch „falsches“ allgemeines Bewußtsein entspringt der wirklichen Tätigkeit. Also schreibt er bei der Kritik einer bestimmten Form des „unwirklichen“ Bewußtseins, der „deutschen“ Ideologie der idealistischen Philosophen:

Die Philosophen hätten ihre Sprache nur in die gewöhnliche Sprache, aus der sie abstrahiert ist, aufzulösen, um sie als verdrehte Sprache der wirklichen Welt zu erkennen und einzusehen, daß weder die Gedanken noch die Sprache für sich ein eignes Reich bilden; daß sie nur Äußerungen des wirklichen Lebens sind ...

Für die Philosophen ist es eine der schwierigsten Aufgaben, aus der Welt des Gedankens in die wirkliche Welt herabzusteigen. Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache. wie die Philosophen das Denken verselbständigt haben, so mußten sie die Sprache zu einem eignen reich verselbständigen. Dies ist das Geheimnis der philosophischen Sprache, worin die Gedanken als Worte einen eignen Inhalt haben. Das Problem, aus der Welt der Gedanken in die wirkliche Welt herabzusteigen, verwandelt sich in das Problem, aus der Sprache ins Leben herabzusteigen. [61]

Wir haben gesehen, daß das ganze Problem, vom denken zur Wirklichkeit und daher von der Sprache zum Leben zu kommen, nur in der philosophischen Illusion existiert ... [62]

Eine solche Ansicht über das abstrakte philosophische Denken führt direkt zur Verachtung dafür, die in den „Thesen über Feuerbach“ ausgedrückt wird: „Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen der Praxis.“ [63]

Dem Anschein nach ist der von ihm vorgestellte Ansicht sehr nah zu den Philosophen, die jede Möglichkeit der allgemeinen philosophischen, gesellschaftlichen oder historischen Begriffe leugnen. Daher behauptet die linguistische Philosophie von Wittgenstein, daß alle traditionellen Probleme der Philosophie deswegen entstehen, weil Philosophen die Vorstellungen des normalen Lebens genommen haben und sie außerhalb des Zusammenhangs benutzt haben. [64]

In einer etwas ähnlichen Weise haben „historizistische“ Denker darauf bestanden, daß keine Idee bzw. gesellschaftliche Praxis sich außerhalb des bestimmten historischen und gesellschaftlichen Zusammenhangs verstehen läßt, worin sie sich befinden; jeder Versuch , eine breitere Erklärung zu finden, muß falsch sein.[65]

Aber Marx’ Ansicht unterscheidet sich sehr von diesen. Sie betrachten falsche Vorstellungen als etwas, das als Ergebnis des seltsamen Wunsches der Philosophen entsteht, Sachen zu verallgemeinern, das Ergebnis eines bizarren „geistigen Krampfes“, worunter Menschen leiden. Und sie folgern daraus, daß alle Verallgemeinerungen falsch sind.

Im Gegensatz dazu sieht Marx die falsche Verallgemeinerung, das Ergebnis der Trennung zwischen Theorie und Praxis, als etwas, das selbst materielle Wurzeln hat. Nur in einer Gesellschaft ohne Klassen können die allgemeine Vorstellungen sich direkt aus den unmittelbaren Erfahrungen der Menschen entwickeln, ohne Verzerrung. Denn jeder in der Gesellschaft ist dann an einer einheitlichen geteilten kooperativen Tätigkeit beteiligt.

 

 

Ideologie und Klassengesellschaft. Wenn es einmal eine Spaltung zwischen ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen und, darauf gestützt, eine wachsende Spaltung Zeichen der geistigen und der körperlichen Arbeit gibt, löst sich die einheitliche Praxis und damit die Möglichkeit einer einheitlichen Ansicht über die Welt auf.

In einer Klassengesellschaft wird das gesellschaftliche Ganze ständig durch den Zusammenstoß zwischen den Produktivkräften und den bestehenden Produktionsverhältnissen auseinandergerissen, einen Zusammenstoß, der Ausdruck im Kampf zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen findet.

Verschiedene Gruppen werden verschiedene praktische Ziele haben, einige in der Erhaltung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, einige in ihrem Sturz, der die Entwicklung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse ermöglichen wird, die sich auf neuen Produktivkräften stützen. Das Ergebnis ist, daß verschiedene Teile der Gesellschaft verschiedene Erfahrungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben. Jeder wird dazu neigen, die eine allgemeine Ansicht über die Gesellschaft zu entwickeln, die sich deutlich von denen unterscheiden wird, die von den anderen entwickelt werden.

Solche Ansichten sind nicht bloß Darstellungen davon, wie die Gesellschaft ist. Sie dienen auch dazu, Menschen für die praktische Aufgabe der Erhaltung bzw. der Umwandlung der Gesellschaft zusammenzubinden, denn jede gibt den Vorrang bestimmten Arten der praktischen gesellschaftlichen Tätigkeit zuungunsten anderer.

Es ist nur in den Köpfen bestimmter empirizistischer Philosophen, daß Beschreibung und Vorschrift, Tatsache und Wert sich voneinander unterscheiden. Was „gut“ bzw. „wertvoll“ vom Standpunkt einer gesellschaftlichen Gruppe und ihrer Tätigkeit ist, wird für eine andere gesellschaftliche Gruppe „schlecht“ sein. Was ein Teil der Gesellschaft als wesentlich für die Erhaltung des gesellschaftlichen Lebens betrachtet, weil es die bestehenden Produktionsverhältnissen erhält, wird als schlecht von einem anderen betrachtet, weil es die Entwicklung neuer Produktivkräfte verhindert. Kategorien, die früher unproblematisch waren, einfache Beschreibungen davon, was für die Aufrechterhaltung der Gesellschaft und des menschlichen Lebens notwendig war, werden zu Vorschriften, die die Wünsche von verschiedenen gegensätzlichen Gruppen ausdrücken.

Der Kampf zwischen den verschiedenen Gruppen um die gesellschaftliche Vorherrschaft ist teilweise eine Kampf jeder einzelnen, ihre Vorstellung der Gesellschaft , ihre Weise, die gesellschaftliche Tätigkeit zu organisieren, auf die anderen zu zwingen. Sie muß behaupten, daß ihre Vorstellungen „wahr“ sind und die anderen „falsch“; oder mindestens zeigen, daß die ihrer Tätigkeit von anderen gesellschaftlichen Gruppen gegebene Bedeutung sich den eigenen allgemeinen Visionen der Welt unterwerfen läßt.

Der Versuch der Philosophen, konkurrierende Vorstellungen der Welt gegen ein einziges Leitbild der „Wahrheit“ zu messen, ist Teil dieses Kampfes. Ihr Versuch, die Erfahrung einer bestimmten Klasse in so einer Weise zu verallgemeinern, daß es ihr ermöglicht, das Denken anderer Klassen zu dominieren. Aber wegen der wirklichen Widersprüche zwischen den Erfahrungen und Interessen verschiedener Klassen ist dieser ein endloses Streben.. Jede philosophische Ansicht läßt sich von einer anderen begegnen, da jede ihre Wurzeln in den widersprüchlichen Erfahrungen des materiellen Lebens hat. Das ist der Grund, warum jede große Philosophie schließlich in den Mystizismus rutscht.

Aber das heißt nicht, daß für Marx verschiedene Ansichten über die Welt gleichmäßig gültig (oder gleichmäßig falsch) sind. Den einige liefern eine umfassendere Sicht der Gesellschaft und ihrer Entwicklung als andere.

Eine gesellschaftliche Gruppe, die sich mit dem Weiterbestehen der alten Produktionsverhältnisse und der alten Einrichtungen des Überbaus identifiziert, muß notwendigerweise bloß eine partielle Ansicht (bzw. eine Reihe partieller Ansichten) über die Gesellschaft als Ganze haben. Ihre Praxis befaßt sich mit der Erhaltung des schon bestehenden, mit der „Heiligsprechung" der vollendeten Tatsache. Alles ahnde läßt sich bloß als Störung bzw. Zerstörung einer wertvollen harmonischen Anordnung vorstellen. Deswegen ist ihr Bild der Gesellschaft auch zu Zeiten der gewaltigen gesellschaftlichen Krise eins einer natürlichen ewigen wiederholten Harmonie, die irgendwie unter angriff von unverständlichen und unvernünftigen Kräften steht.

 

 

Ideologie und Wissenschaft. Eine aufsteigende gesellschaftliche Gruppe, verbunden mit einem Fortschritt der Produktivkräfte, hat einen ganz anderen Ansatz. Zuerst mindestens hat sie keine Angst vor neuen Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit, die die alten Produktionsverhältnisse sowie ihren Überbau stören. Sie identifiziert sich mit diesen neuen Formen der Tätigkeit und versteht sie. Trotzdem hat sie gleichzeitig, weil sie auch gegen die alte Ordnung zusammenstoßt, praktische Erfahrungen davon auch. Sie kann irgendeine Art Ansicht über die Gesellschaft entwickeln, die sieht, wie die ganzen unterschiedlichen Elemente zusammenpassen – die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse, die Basis und der Überbau, die unterdrückte Klasse und die Unterdrückerklasse.

Weil sie ein praktisches Interesse an der Umwandlung der Gesellschaft hat, muß ihre allgemeine Vorstellungen weder ein blinder Kommentar über Ereignisse noch ein Mystizismus sein, der sich einfach auf die Erhaltung des Status quo zielt. Sie können eine Quelle des wirklichen Wissens über die Gesellschaft sein. Sie können nicht bloß als Fahne dienen, hinter dem man die Menschen zusammensammelt, sondern auch eine Richtlinie zur wirksamen Handlung sein. Sie können wissenschaftlich sein, obwohl ihr Ursprung in der Praxis der einen gesellschaftlichen Gruppe liegt.

Sicherlich glaubte Marx, daß dies der Fall mit der klassischen politischen Ökonomie war. Immer und immer wieder spricht er vom „wissenschaftlichen“ Verdienst der Schriften von Adam Smith und David Ricardo, wie auch von einigen der merkantilistischen und der physiokratischen Ökonomen, die ihnen vorausgingen.

Sie waren „wissenschaftlich“, weil sie versuchten, durch die oberflächlichen Erscheinungsformen der Gesellschaft durchzubrechen, um die „den innren Zusammenhang der ökonomischen Kategorien oder den verborgnen Bau des bürgerlichen ökonomischen Systems“ zu begreifen, um zu versuchen, „in den innren Zusammenhang, sozusagen in die Physiologie des bürgerlichen Systems [einzudringen]“. [66]

Dieser „esoterische“ Ansatz, der zur unterliegenden gesellschaftlichen Wirklichkeit schaut, steht im deutlichen Gegensatz zu einem einfachen „exoterischen“ Ansatz, der die bestehenden Äußeren gesellschaftlichen Formen als Gegebene annimmt. Die klassischen politischen Ökonomen schafften es nie völlig, mit der „exoterischen“ Methode zu brechen, aber sie begannen, sich in diese Richtung zu bewegen, und dabei legten sie die Basis für ein wissenschaftliches Verständnis der inneren Struktur des Kapitalismus.

Ihre Fähigkeit, ein wissenschaftliches Verständnis zu entwickeln, ist mit der Klasse verwandt, womit sie sich identifizierten. Marx beschrieb Smith z.B. als jemanden, der „den offenherzig brutalen Bourgeois-Emporkömmling auslegte“ [67], der schrieb in der „Sprache der noch revolutionären Bourgeoisie, die sich die ganze Gesellschaft, Staat etc., noch nicht unterworfen hat“. [68]

Weil die industriellen Kapitalisten immer noch nicht die Kontrolle über die Gesellschaft hatten, mußten sie eine kritische Haltung zu ihren äußeren Merkmalen annehmen, um eine objektive Analyse des Ausmaßes zu bekommen, wozu diese Merkmale dem Trieb zur Akkumulation des Kapitals paßten. Dies führt zum Versuch, die Produktion des Reichtums im Arbeitsprozeß zu erörtern und die „produktive“ Arbeit, die Mehrwert schafft, den parasitären Funktionen des alten Staats, der Kirche usw. gegenüberzustellen.

 

 

Ideologie und Überbau. Die Situation ändert sich radikal, wenn die aufsteigende Klasse ihren Griff gefestigt hat. Dann hat sie kein Nutzen mehr für eine revolutionäre kritische Haltung gegenüber der Gesellschaft als Ganzer. Die einzige praktische Aktivität, woran sie sich interessiert, ist die, die die bestehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse reproduziert. Und daher verfällt ihre „Theorie“ auf Versuche, verschiedene oberflächliche Aspekte der bestehenden Gesellschaft anzunehmen und sie darzustellen, als ob sie allgemeine Gesetze darüber lieferten, wie alle Gesellschaften sein müssen.

Für Marx war „Ideologie“ ein Produkt dieser Situation. Die vorherrschende gesellschaftliche Klasse hat die Kontrolle über die Mittel, wodurch eine gesonderte Schicht von Menschen von der physischen Arbeit befreit werden können, um sich mit der intellektuellen Produktion zu beschäftigen. aber abhängig von der herrschenden Klasse für ihren Unterhalt werden diese „Intellektuellen“ dazu neigen, sich mit ihr zu identifizieren – die herrschende Klasse gründet Mechanismen aller Art, um das zu versichern.

Sich mit der herrschenden Klasse zu identifizieren, heißt, daß man vor jeder totalen Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zurückschreckt und die Form, in der sie sich vorstellen, als Gegebene annimmt. Die bestimmten Aspekte der bestehenden Gesellschaft betrachtet man dann als etwas Selbsttragendes, als etwas ohne eine gemeinsame Wurzel in der gesellschaftlichen Produktion.

Daher bekommt man eine Reihe von getrennten unabhängigen Disziplinen: „Politikwissenschaft“, „neoklassische Ökonomie“, „Psychologie“, „Soziologie“ usw. Jede von diesen behandelt Aspekte einer einheitlichen gesellschaftlichen Entwicklung, als ob sie unabhängig voneinander stattfanden. Die „Geschichte“ wird zu einer mehr oder weniger willkürlichen Zusammenbindung von Ereignissen und Persönlichkeiten. Und die Philosophie wird zum Versuch, die Trennung dieser Disziplinen dadurch zu überwinden, daß man auf die von ihnen benutzten Begriffe anschaut von einer immer größeren Entfernung von der Welt der materiellen Produktion und des Verkehrs.

Solche Weltanschauungen sind „ideologisch“ nicht deswegen, weil sie notwendigerweise bewußtes Apologetentum für die bestehende herrschende Klasse sind, sondern deswegen, weil gerade die Weise, wie sie strukturiert sind, sie daran hindert, über die Aktivitäten und Ideen, die die bestehende Gesellschaft – und deshalb auch die herrschende Klasse – wiederherstellen, hinauszusehen bis zu den materiellen Prozessen, worauf sie gegründet sind. Sie sprechen den Status quo heilig, weil sie die Begriffe, die er benutzt, für die bare Münze nehmen, anstatt sie als vergängliche Produkte der gesellschaftlichen Entwicklung zu betrachten.

„Ideologie“ in diesem Sinne ist mit dem Überbau verbunden. Sie spielt mit den Begriffen herum, die im Überbau entstehen, und versucht sie miteinander zu verbinden sowie sie auseinander zu leiten, ohne daß sie je durch die oberflächlichen Erscheinungen durchbricht, um den wirklichen Prozeß anzuschauen, worin der Überbau und seine Begriffe entstehen.

Es sind die Widersprüche solcher „ideologischen“ Argumente, die nur gelöst werden können, indem man „aus der Sprache ins Leben herabsteigt“.

Aber dieses Herabsteigen läßt sich nur von Denkern machen, die sich mit einer aufsteigenden Klasse identifizieren. Denn sie alleine sich mit einer Praxis identifizieren, die alle bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage stellt, indem sie versuchen, das zu kritisieren, was auf der Oberfläche der Gesellschaft passiert und es mit den unterliegenden Verhältnissen der materiellen Produktion und der Ausbeutung verbinden.

Während die Denker einer etablierten herrschenden Klasse auf die ständige Ausarbeitung im Bereich der Ideologie beschränkt sind, können die Denker einer aufsteigenden Klasse damit anfangen, ein wissenschaftliches Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung zu entwickeln.

 

 

Unsere Theorie und ihre. Die Denker einer aufsteigenden Klasse können nicht einfach erklären, daß sie die Wahrheit haben, sie müssen es beweisen.

Erstens müssen sie zeigen, daß sie die Einsichten aufnehmen und entwickeln können, die die Denker früheren aufsteigenden Klassen machten. Also z.B. versuchte Marx in seinen ökonomischen Schriften, nicht bloß die eigene Erklärung der Funktionierensweise des Kapitalismus zu geben, sondern auch zu zeigen, wie er die Arbeit der klassischen politischen Ökonomie vervollständigen könnte, indem er die Probleme löste, die sie sich selbst ohne Erfolg gestellt hatte.

Zweitens müssen sie zeigen können, wie die oberflächlichen gesellschaftlichen Merkmale, mit denen die Ideologie sich beschäftigt, sich aus den unterliegenden gesellschaftlichen Prozessen ausleiten lassen, die sie beschreiben. Wie Marx es ausdrückt, die Theorie muß das „Exoterische“ aus dem „Esoterischen“ herausleiten können. Also muß eine wissenschaftliche marxistische Analyse einer jeden Gesellschaft ein Verständnis der verschiedenen ideologischen Strömungen jener Gesellschaft liefern können, indem sie zeigt, wie sie aus der wirklichen Welt entstehen und bestimmte Aspekte davon ausdrücken, aber in einer verdrehten Weise.

Schließlich gibt es letzten Endes bloß eine wirkliche Prüfung einer Wissenschaft: ihre Fähigkeit, die Praxis zu leiten. Und daher können Argumente innerhalb des Marxismus selbst erst im Verlauf des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse schließlich gelöst werden.

Ein sehr wichtiger Punkt unterliegt diese ganze Diskussion. Nicht alle Vorstellungen über die Gesellschaft sind „ideologisch“. Das wissenschaftliche Verständnis, das die Denker einer aufsteigenden Klasse entwickeln, ist nicht ideologisch. Noch ist das unmittelbare Bewußtsein, das Menschen von ihren Taten haben. Das wird erst „ideologisch“, wenn es durch einen Rahmen von allgemeinen Ideen interpretiert wird, die von einer etablierten herrschenden Klasse geliefert werden. Im Gegensatz dazu, wenn es durch die Theorie einer aufsteigenden Klasse interpretiert wird, ist es auf dem Weg dahin, das wahre Selbstbewußtsein der Gesellschaft zu werden.

„Ideologie“ ist Teil des Überbaus im sinne, daß sie ein passives Element im gesellschaftlichen Prozeß ist und dabei hilft, die alten Produktionsverhältnisse zu reproduzieren. Aber das revolutionäre Selbstbewußtsein ist nicht so. Es ist ein aktives Element, das aus den materiellen Umständen der Menschen entsteht, aber auf sie zurückwirkt, um sie zu ändern.

In der wirklichen Welt gibt es alle Art von gemischten Vorstellungsarten [Vorstellungssätzen], die irgendwo zwischen Ideologie und Wissenschaft, zwischen wahrem und falschem Bewußtsein liegen. Die Erfahrung der Menschen kann aus partiellen Herausforderungen der bestehenden Gesellschaft bestehen. Sie gewinnen partiellen Einsichten in die wirkliche Struktur der Gesellschaft, versuchen aber, sie durch stückweise Anpassungen an alte ideologische Rahmen zu interpretieren.

Auch die Produktion der Ideologen der bestehenden Ordnung läßt sich nicht außer Hand abtun. Die schlimmsten von ihnen können nicht diejenigen Erfahrungen der Masse der Menschen ignorieren, die die Weltanschauung der herrschenden Klasse herausfordern.: Ihre ideologische Funktion bedeutet, sie müssen irgendwie zu beweisen versuchen, daß diese Erfahrungen mit der Anschauung der herrschenden Klasse kompatibel sind. Daher müssen die schlimmsten Schreiberlinge unter Journalisten bzw. Fernsehkommentatoren erkennen, daß es Widerstand gegen die herrschende Klasse gibt, über Streiks, Demonstrationen usw. berichten, auch wenn sie es nur machen, um solche Kämpfe zu verurteilen und die, die daran beteiligt sind, zu isolieren. Die schlimmsten Schreiber von Groschenromanen müssen von irgendwelchem Bild des Lebens der Durchschnittsmenschen, egal wie verzerrt, anfangen, wenn sie eine Massenleserschaft finden wollen. Die reaktionärsten Priester sind nur wirksam, insofern sie trügerische Entlastung für die wirklichen Probleme der Mitglieder ihrer Gemeinden liefern können.

Das führt zu Widersprüchen aller Art innerhalb der herrschenden Ideologie. Einige ihrer prominentesten Befürworter können diejenige sein, die die meisten Anstrengungen machen, sich auf die gelebten Erfahrungen der Menschen zu beziehen. Sie ermutigt selbst „Gesellschaftswissenschaftler“, Historiker, Schriftsteller, Künstler und sogar Theologen dazu, große Anstrengungen zu machen, um empirische Beobachtung und Erfahrung in ihre Darstellungen der Wirklichkeit zu passen. Aber das führt unvermeidlich zu widersprüchlichen Darstellungen, wobei einige der Ideologen damit anfangen, einige der Grundsätze der etablierten Ideologie in Frage zu stellen. Marx erkannte, daß ein großer Schriftsteller bzw. Künstler die ganzen widersprüchlichen Erfahrungen widerspiegeln kann, die die Menschen bedrängen, die in seiner bzw. ihrer Gesellschaft wohnen, und dabei fangen sie damit an, sich über die von seiner bzw. ihrer Klassenposition auferlegten Grenzen hinaus zu bewegen. In einigen wenigen Fällen führt das sie sogar dazu, mit der eigenen Klasse zu brechen und sich mit der revolutionären Opposition dagegen zu identifizieren.

Ein wissenschaftliches Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung erfordert einen vollständigen Bruch mit der ganzen Methode der Pseudogesellschaftswissenschaften derjenigen, die sich mit der bestehenden Gesellschaftsordnung identifizieren. Aber daß heißt nicht, daß wir die Elemente der Wahrheit vernachlässigen können, über die diejenigen stolpern, die diese Disziplinen praktizieren. Noch weniger können wir die oft ganz tiefe Beherrschung des gesellschaftlichen Prozesses ignorieren, die man in bestimmten nichtmarxistischen Historikern oder in großen Romanautoren wie Balzac oder Walter Scott findet.

Der Marxismus zeigt seine Überlegenheit über das bürgerliche Denken nicht dadurch, daß sie alle bürgerlichen Denker mit Verachtung behandelt, sondern dadurch, daß er die von bürgerlichen Denkern gemachten Fortschritte in die eigene totale Anschauung der Wirklichkeit einfangen kann – etwas, das kein bürgerlicher „Gesellschaftswissenschaftler“ machen kann und das kein bürgerlicher Denker seit Hegel versucht hat.

 

 

Die zentrale Rolle des Klassenkampfs

Der marxistische Ansatz beginnt dann, indem er auf die widersprüchlichen Weisen andeutet, wobei die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse, die Basis und der Überbau, die materiellen Wirklichkeit und die Ideen der Menschen sich entwickeln. Aber keiner von diesen Widersprüchen löst sich einfach von selbst, wie die mechanischen Materialisten behaupten. Ihre Lösung findet nur auf der Basis der Kämpfe der Menschen, der Klassenkämpfe statt.

Wenn man einmal Gesellschaften aufgeteilt hat zwischen denjenigen, die unmittelbar produzieren, und denjenigen, die von einem Mehrprodukt leben, führt jedes Wachstum der Produktivkräfte, egal wie langsam und stückweise, zu einer entsprechenden Änderung des objektiven Gewichts der verschiedenen Klassen in der Gesellschaft. Und einige Weisen, die Produktivkräfte zu entwickeln, führen zu qualitativen Veränderungen , zu neuen Weisen, einen Überschuß herauszuholen, zu den Embryonen neuer ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen (und schließlich zur Bildung einer Klasse, die die Gesellschaft führen kann, ohne jemanden auszubeuten).

Aber die neuen Produktionsmethoden werden immer mit Widerstand von mindesten einigen derjenigen konfrontiert, deren Interessen in der Erhaltung der alten Methoden liegen. Das Vorrücken jeder neuen Produktionsweise wird immer von bitteren Klassenkriegen gekennzeichnet (auch wenn, wie es der Fall mit den religiösen Kriegen des 16. und des 17. Jahrhunderts war, diese nicht immer einen klaren Bruch zwischen den Klassen, sondern oft komplizierte, überschneidende Bündnisse zwischen dem dynamischsten Teil der aufsteigenden Klasse und bestimmten Interessengruppen innerhalb der alten Ordnung bedeuten). Ob die neuen Produktionsmethoden durchbrechen, hängt davon ab, wer diese Kämpfe gewinnt. Ökonomische Entwicklungen sind dabei sehr wichtig. Sie bestimmen die Größe der verschiedenen Klassen, ihre geographische Konzentration (und deshalb die Leichtigkeit, womit sie sich organisieren lassen), den Grad ihrer Homogenität, die physischen Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen.

Solche unmittelbaren ökonomischen Faktoren können sicherlich eine Lage schaffen, wo die aufsteigende Klasse nicht einen Sieg gewinnen kann, egal was sie macht. Sie wird durch das objektive Kräfteverhältnis zu mächtig zugunsten der anderen Seite benachteiligt. Aber wenn die objektiven Faktoren eine Lage schaffen, wo die Kräfte der konkurrierenden Klassen mehr oder wenig gleich sind, zahlen andere Faktoren – die ideologische Homogenität, die Organisation und die Führung der konkurrierenden Klassen.

Für den mechanischen Materialisten sind Ideen bloß eine automatische Widerspiegelung des materiellen Seins. Aber in wirklichen historischen Prozessen der gesellschaftlichen Umwandlung ist es nie so einfach.

Die Einrichtungen der alten herrschenden Klasse versuchen ständig, die Weisen zu definieren, worein (wodurch) die Menschen in der ganzen Gesellschaft sich und ihre Verhältnisse mit anderen betrachten. Die Mitglieder der aufsteigenden Klasse akzeptieren am Anfang diese Definitionen als die einzigen, die zu ihrer Verfügung stehen: so z.B. akzeptierten die Bürger des frühen Mittelalters die ganzen Grundsätze des mittelalterlichen Katholizismus.

Aber die Mitglieder einer aufsteigenden Klasse beschäftigen sich in praktischer Aktivität, die sich nicht leicht durch die alten Definitionen umfassen lassen. Die Menschen fangen an, Sachen zu machen, die laut der alten Weltanschauung sie nicht machen sollten. Die Einrichtungen, die die alte Weltanschauung erzwingen, drohen ihnen dann Strafmaßnahmen an.

Zu diesem Punkt stehen zwei Möglichkeiten offen. Diejenigen, die sich in Drehern neuen Aktivitätsformen beschäftigen, geben dem Druck auf ihnen von der alten Ordnung nach, und die neuen Aktivitätsformen hören auf. Oder sie verallgemeinern ihren Zusammenstoß mit der alten Ideologie und entwickeln aus Elementen davon eine neue Gesamtweltanschauung, hinter der sie all diejenigen zu mobilisieren versuchen, die in einer ähnlichen objektiven Lage wie der ihrigen sind.

Ein neues System von Ideen ist nicht bloß eine passive Widerspiegelung der ökonomischen Änderungen. Es ist vielmehr ein wichtiges Bindeglied im Prozeß der gesellschaftlichen Umwandlung, indem es diejenigen, die durch kumulativen kleinen Änderungen in der Produktion betroffen sind, als eine Kraft mobilisieren, deren Ziel darin besteht, die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit zu ändern.

Nehmen wir z.B. die klassische Debatte über den Protestantismus und den Aufstieg des Kapitalismus. Laut den Gegnern des Marxismus wie Max Weber war es die autonome „nichtökonomische“ Entwicklung einer neuen religiösen Ideologie, die allein den Boden lieferte, worin neue kapitalistische Produktionsmethoden sich verwurzeln konnten. Der Puritanismus schuf den Kapitalismus.

Laut den mechanischen Materialisten war es umgekehrt. Der Protestantismus war einfach eine mechanische Widerspiegelung der Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse. Der Kapitalismus war Ursache, der Protestantismus Wirkung.

Jeder verpaßte ein äußerst wichtiges Bindeglied in der Kette der historischen Entwicklung. Der Protestantismus entwickelte sich, weil einige Menschen in der feudalen Gesellschaft damit anfingen, in Weisen zu arbeiten und zu leben, die sich nicht leicht mit der vorherrschenden Ideologie des mittelalterlichen Katholizismus versöhnen ließen. Sie fingen damit an, einige ihrer Grundsätze neu zu interpretieren, um Sinn aus ihren neuen Verhaltensformen zu machen. Aber das führte zu Zusammenstößen mit den ideologischen Hütern der alten Ordnung (der Hierarchie der Kirche). Zu diesem Zeitpunkt erschien eine Reihe von Persönlichkeiten, die versuchten, die Herausforderung gegen die alte Ideologie zu verallgemeinern – Luther, Calvin usw. Wo die Herausforderung nicht erfolgreich war bzw. wo die Herausforderer zum Kompromiß gezwungen wurden (wie in Deutschland, Frankreich und Italien), wurden die neuen Arbeits- und Lebensweisen nicht mehr als Randerscheinungen in einer weiterbestehenden feudalen Gesellschaft. Aber wo die Herausforderung erfolgreich war (in Großbritannien und in den Niederlanden), befreite sie die neuen Arbeits- und Lebensweisen von den alten Einschränkungen – sie verallgemeinerte bürgerliche Produktionsformen.

Das gleiche Verhältnis gilt zwischen dem Kampf der Arbeiter unter dem Kapitalismus und den Ideen des revolutionären Sozialismus.

Ursprünglich versuchen die Arbeiter, ihre Erfahrung des Zurückkämpfens gegen Aspekte des Kapitalismus in ideologische Rahmen zu passen, die ihnen von der Vergangenheit überliefert werden. Diese Rahmen gestalten die Formen, die ihre Kämpfe annehmen, so daß die Kämpfe nie eine einfache Widerspiegelung der materiellen Interessen sind. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“, wie Marx es ausdrückt. [69] Aber der Prozeß des Versuchens, ihre neue Erfahrungen durch alte Rahmen zu interpretieren, schafft eine Spannung innerhalb der alten Rahmen, der nur gelöst wird, wenn die Menschen versuchen, die Rahmen zu ändern.

Wie Antonio Gramsci es darstellte: „Der aktive Mensch der Massen arbeitet praktisch, aber er hat nicht ein klares theoretisches Bewußtsein seiner Aktionen, das auch ein Wissen über die Welt ist, insofern er sie ändert.“ Daher gibt es „zwei Arten des Bewußtseins“, dasjenige, das „in seiner Aktionen implizit“ ist, und dasjenige, daß „oberflächlich explizit [ist], das er von der Vergangenheit überliefert bekommen hat und die er ohne Kritik akzeptiert“. „Diese ‚wörtliche‘ Vorstellung ist nicht ohne folgen; sie bindet ihn zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, beeinflußt sein Moralisches Verhalten und die Richtung seines Willens in einer mehr oder weniger mächtigen Weise und kann den Punkt erreichen, wo der Widerspruch des Bewußtseins keine Aktion erlaubt ...“ Deshalb: „Die Einheit der Theorie und der Praxis ist keine gegebene mechanische Tatsache, sondern ein historischer Prozeß des Werdens.“ [70]

So versuchten die Chartisten der 1830er und 1840er Jahre mit neuen Erfahrungen durch ältere radikal-demokratische Vorstellungen zurecht zu kommen. Aber dieser schuf widersprüchliche ideologische Formulierungen aller Arten. Das ist der Grund, warum einige der beliebtesten Redner und Schriftsteller Menschen wie Bronterre O’Brien, Julian Harney und Ernest Jones waren, die damit anfingen, die Erfahrung der Menschen in neueren expliziter sozialistischen Weisen zu artikulieren.

Der Marxismus selbst war nicht ein Satz von Ideen, der voll gestaltet aus den Kopfes von Marx und Engels entstand und dann zauberhaft die Arbeiterbewegung ergriff. Das Geburt der Theorie hing von einer Destillation durch Marx und Engels der Erfahrungen der jungen Arbeiterbewegung in den Jahren vor 1848 ab. Sie ist von Arbeitern seitdem akzeptiert worden, insofern sie damit zusammenpaßte, was Kämpfe ihnen schon ansatzweise gelehrt hatte. Aber ihre Akzeptanz hat dann eine Rückwirkung auf die Kämpfe gehabt, um ihr Ergebnis zu beeinflussen.

Die Theorie spiegelt nicht einfach die Erfahrung der Arbeiter unter dem Kapitalismus wider; sie verallgemeinert einige Elemente dieser Erfahrung (diejenigen des Kampfs gegen den Kapitalismus) zu einem Bewußtsein des Systems als Ganzen. Indem sie das macht, gibt sie neue Einsichten darin, wie man den Kampf durchführen sollte, und eine neue Kampfentschlossenheit.

Die Theorie entwickelt auf der Basis der Praxis, wirkt aber auf die Praxis zurück, um ihre Wirksamkeit zu beeinflussen.

Dieser Punkt ist wichtig, weil die Theorie ist nicht immer richtige Theorie. In der Geschichte hat man sehr wichtige Arbeiterkämpfe unter dem Einfluß von unrichtigen Theorien durchgeführt: dem Proudhonismus und dem Blanquismus in Frankreich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; dem Lassalleanertum [Lassalleanismus] in Deutschland; der Volkstümelei [dem Narodismus] und sogar der Russischen Orthodoxie in Rußland während der Jahre vor 1905; dem Peronismus in Argentinien; dem Katholizismus und dem Nationalismus in Polen; und natürlich den schrecklichen [fürchterlichen] Zwillingen, der Sozialdemokratie und dem Stalinismus.

In all diesen Fällen sind die Arbeiter in den Kampf gegangen unter dem Einfluß von „gemischten“ Weltanschauungen – Anschauungen, die ein bestimmtes unmittelbares Verständnis der Bedürfnisse des Klassenkampfs mit einem allgemeineren Vorstellungssatz kombinieren, die Schlüsselelemente der bestehenden Gesellschaft akzeptieren. Ein solches falsches Verständnis der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit führt zu riesigen Fehlern – Fehlern, die immer wieder zu massiven Niederlagen geführt haben.

Angesichts solcher Verwirrung und solcher Niederlagen ist nichts gefährlicher als die Behauptung, daß Ideen die Wirklichkeit überholen müssen, daß der Sieg sicher ist. Denn das führt unvermeidlich dazu, daß man die Wichtigkeit der Kombinierung des praktischen und des ideologischen Kampfs herunterspielt.

 

 

Rolle der Partei in der Geschichte

Die andere Seite der Münze zum Herunterspielen des Ideologischen Kampfs durch den mechanischen Materialisten ist eine Tendenz seitens einiger sozialistischer Akademiker dazu gewesen, den ideologischen Kampf als etwas Getrenntes von praktischen Konflikten zu betrachten. Das stimmt besonders für die Reformisten von der Zeitschrift Marxism Today [2*] und der neuen Labour-Linken.

Aber der Kampf um Ideen wächst aus dem Kampf in der Welt der materiellen Praxis, wo Ideen ihre Wurzeln haben, und spitzt immer in weiteren solchen materiellen Kämpfen zu. Es war die tagtägliche Aktivität der Handwerker und der Händler unter dem Feudalismus, die ketzerische protestantische religiöse Formulierungen entstehen ließ. Und es war die allzu wirkliche Tätigkeit von Armeen, die überall in Europa kämpften, die letzten Endes den Erfolg oder das Scheitern der neuen Ideologie entschied.

Die neuen Idealisten behaupten oft, daß ihre theoretische Inspiration von Antonio Gramsci kommt, aber er bestand ausdrücklich auf der Verbindung zwischen dem theoretischen und dem praktischen Kämpft:

Wenn das Problem des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis entsteht, entsteht es in diesem Sinne: Um auf einer bestimmten Praxis eine Theorie zu bilden, die, indem sie mit den entscheidenden Elementen derselben Praxis übereinstimmt und identifiziert wird, den historischen Prozeß in der Tat beschleunigt, die Praxis homogener, zusammenhängender und wirksamer in all ihren Elementen macht, d.h. ihr die maximale Kraft gibt; oder aber , ein bestimmtes theoretisches Problem gegeben, die wesentlichen praktischen Elemente zu organisieren, um sie durchzuführen. [71]

Wenn man heute den ideologischen Griff des Kapitalismus herausfordern will, kann man es nicht machen, wenn man sich nicht auf Menschen bezieht, deren tagtäglichen Kämpfe sie dazu führen, bestimmte seiner Grundsätze herauszufordern. Und wenn man diese Herausforderung zum Ende durchführen will, muß man verstehen, daß der ideologische Kampf sich in den praktischen Kampf umwandelt.

Die Verwandlung der Praxis in die Theorie und der Theorie in die Praxis findet nicht von sich allein statt. „Eine Menschenmasse ‚unterscheidet‘ sich nicht und wird nicht unabhängig ‚von sich‘, ohne daß sie sich organisiert, und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, d.h. ohne Organisatoren und Führer ...“ [72]

Eine aufsteigende Klasse entwickelt einen klaren Satz von Ideen, insofern eine Polarisierung innerhalb der Klasse stattfindet, und das, was am Anfang eine Minderheit der Klasse ist, die Herausforderung der alten Ideologie zu ihrer logischen Schlußfolgerung durchführt.

Zu einer bestimmten Etappe im ideologischen und praktischen Kampf kristallisiert sich diese Minderheit als getrennte „Partei“ heraus (ob sie sich so nennt oder nicht). Gerade durch den Kampf solcher Parteien findet die Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse in neuen Ideen Ausdruck, und durch diesen Kampf werden die neuen Ideen benutzt, um Menschen zu mobilisieren, um den alten Überbau auseinanderzureißen. In einer berühmten Passage in Was tun? sagte Lenin, daß „politische Ideen“ zu der Arbeiterklasse von außen gebracht werden. Falls er meinte, die Arbeiter keine Rolle in der Ausarbeitung der revolutionären sozialistischen Weltanschauung spielten, hatte er unrecht. [73] Falls er meinte, die praktische Erfahrung eröffnet Arbeiter nicht für sozialistische Ideen, hatte er unrecht. [74] Aber falls er meinte, sozialistische Ideen erobern nicht die Klasse ohne die Abtrennung einer unterschiedlichen sozialistischen Organisation, die durch einen langen Prozeß des ideologischen und praktischen Kampfs aufgebaut wird, hatte er absolut recht.

Die berühmten Diskussion der mechanischen Materialisten waren über die „Rolle des Individuums in der Geschichte“. [75] Aber nicht das Individuum, sondern die Partei wurde für den nichtmechanischen, nichtvoluntaristischen Materialismus der revolutionären Jahre nach 1917 zentral.

Trotzki erklärt in seinem Meisterwerk, Die Geschichte der Russischen Revolution, daß Revolutionen gerade deswegen stattfinden, weil der Überbau sich nicht mechanisch mit jeder Änderung in der ökonomischen Basis ändert:

Die Gesellschaft ändert nämlich ihre Einrichtungen nicht nach Maßgabe des Bedarfs, wie ein Handwerker seine Instrumente erneuert. Im Gegenteil, sie nimmt die über ihr hängenden Institutionen praktisch als etwas ein für allemal Gegebenes. Jahrzehntelang bildet die oppositionelle Kritik nur das Sicherheitsventil für die Massenunzufriedenheit und eine Bedingung für die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaftsordnung ... [76]

„Die im Verlauf einer Revolution stattfindenden radikalen Umwälzungen“, sind nicht einfach das Ergebnis der „episodischen Erschütterungen der Wirtschaft“. „[Es] wäre der gröbste Fehler, zu glauben, die zweite Revolution [von 1917] habe acht Monate nach der ersten stattgefunden infolge des Umstandes, daß die Brotration in dieser Zeit von anderthalb auf dreiviertel Pfund gesunken war“ Ein Versuch, die Sachen mit diesen Begriffen zu erklären, „enthüllt ... am besten die Unzulänglichkeit der vulgär-ökonomischen Erklärung der Geschichte, die nicht selten als Marxismus ausgegeben wird“. [77]

Was entscheidend wird, ist die „schnellen, gespannten und stürmischen Veränderungen der Psychologie der vor der Revolution herausgebildeten Klassen“. [78] „Vergessen wir nicht, daß Revolutionen vollbracht werden von Menschen, wenn auch von namenlosen. Der Materialismus ignoriert nicht den fühlenden, denkenden und handelnden Menschen, sondern erklärt ihn.“ [79]

Parteien sind ein wesentlicher Bestandteil des revolutionären Prozesses:

Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf. [80]

Aber Parteien beinhalten immer ein subjektives Element in einer Weise, wie ökonomische Kräfte und die Bildung von Klassen es nicht beinhalten. Parteien müssen um bestimmte ideologische Voraussetzungen organisiert werden, und das bedarf der Anstrengung, der Aktivität und der Argumentation von Individuen.

In Rußland in 1917 konnten die Widersprüche in der materiellen Realität nicht gelöst werden, ohne daß die Arbeiterklasse die Macht eroberte. Aber die Arbeiterklasse konnte nicht von dieser Notwendigkeit bewußt werden, ohne daß eine Minderheit in der Klasse sich von den Ideen der Mehrheit abtrennte. Es war notwendig daß es einen „Bruch der proletarischen Avantgarde mit dem kleinbürgerlichen Block“ [81] gab. Viele Arbeiter begannen sich unter dem Druck der Ereignisse zu bewegen, diesen Bruch durchzuführen. „Sie wußten nicht, wie sie die Voraussetzung des bürgerlichen Charakters der Revolution und der Gefahr der Isolation des Proletariats widerlegen sollten.“ [82] „ Die Diktatur des Proletariats ergab sich aus der ganzen Situation. Aber man mußte sie erst errichten. Sie war ohne die Partei nicht zu errichten.“ [83]

Die Tatsache, daß die menschliche Materie zum Aufbau einer Partei vor 1917 existierte, war ein Ergebnis der objektiven historischen Entwicklungen. Aber diese Entwicklungen mußten einen Ausdruck in der Tätigkeit und in den Vorstellungen von Individuen finden. Und als einmal die Revolution angefangen hatte, war die Aktivität der Partei keine blinde Widerspiegelung der Realität. Es stimmt, „die Partei ... konnte ihre Mission nur erfüllen, nachdem sie sie erkannt hatte.“ [84], aber das hing von der Fähigkeit von verschiedenen Individuen ab, Ideen über die objektive Lage zu artikulieren und Mitglieder der Partei dazu zu gewinnen.

Gerade da spielte laut Trotzki ein Individuum, Lenin, eine Rolle ohne Parallelen. Er war „ notwendig“, so daß die Partei die Ereignisse verstehen und wirksam handeln konnte. „ Bis zu seiner Ankunft war nicht einer der bolschewistischen Führer imstande gewesen, die Diagnose der Revolution zu stellen.“

Er war kein „ Schöpfer des revolutionären Prozesses“, der auf ihn als willkürliches Element von außen wirkte. Er hat „sich nur in die Kette der objektiven historischen Kräfte eingegliedert. Doch war er in dieser Kette ein großes Glied.“ Ohne Lenin fingen viele Arbeiter an, nach einem Kenntnis darüber zu suchen, was zu tun war. Aber ihre Suche mußte verallgemeinert werden, um Teil einer neuen Gesamtbetrachtung der Revolution zu werden. „ Er zwang den Massen seinen Plan nicht auf. Er half den Massen, ihren eigenen Plan zu erkennen und zu verwirklichen.“ [85]

Die Argumente hätten ohne ihn stattgefunden. Aber es gibt keine Garantie, daß sie in einer Weise wären gelöst worden, die es der Partei ermöglicht hätte, entschlossen zu handeln:

Der innere Kampf in der bolschewistischen Partei war vollkommen unvermeidlich. Lenins Ankunft hat den Prozeß nur beschleunigt. Sein persönlicher Einfluß hat die Krise verkürzt. Kann man aber mit Bestimmtheit sagen, die Partei würde auch ohne ihn ihren Weg gefunden haben? Dies zu behaupten, könnten wir uns keinesfalls entschließen. Der Faktor Zeit entscheidet hier, und hinterher läßt sich schwer auf die Uhr der Geschichte blicken. Dialektischer Materialismus hat jedenfalls nichts mit Fatalismus gemein. Die Krise, die die opportunistische Leitung unvermeidlich hervorrufen mußte, würde ohne Lenin einen besonders scharfen und langwierigen Charakter angenommen haben. Die Bedingungen des Krieges und der Revolution ließen aber der Partei für die Erfüllung ihrer Mission keine langen Fristen. Es ist deshalb ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß die desorientierte und zerrissene Partei die revolutionäre Situation auf viele Jahre hinaus verpassen konnte. [86]

Das Individuum spielt eine Rolle in der Geschichte. Aber nur insofern das Individuum Teil des Prozesses ist, wodurch eine Partei es der Klasse ermöglicht, von sich bewußt zu werden.

Eine individuelle Persönlichkeit ist Produkt einer objektiven Geschichte (der Erfahrung der Klassenverhältnisse der Gesellschaft, in der er bzw. sie aufwächst, früherer Versuche mit der Rebellion, der vorherrschenden Kultur usw.). Aber wenn er bzw. sie eine rolle in der Weise spielt, wodurch ein Teil der Klasse von sich bewußt wird und sich als Partei organisiert, wirkt er bzw. sie auf den historischen Prozeß zurück und wird zu einem „Bindeglied in der historischen Kette“.

Wenn Revolutionäre das ignorieren, heißt es daß sie einen Fatalismus verfallen, der oft versucht, alle Verantwortung für das Ergebnis aller Kämpfe in den Wind zu schlagen. Er kann ebenso gefährlich sein als der gegensätzliche Fehler, wo man glaubt, daß die Aktivität der Revolutionäre die einzige Sache ist, die zählt.

Dieser Punkt ist heute absolut relevant. Im modernen Kapitalismus gibt es ständigen Druck auf revolutionäre Marxisten dazu, dem Druck des mechanischen Materialismus einerseits und des voluntaristischen Idealismus andererseits nachzugeben.

Der mechanische Materialismus paßt dem Leben der Bürokratien der Arbeiterbewegung. Ihre Positionen stützen sich auf dem langsamen Anwachsen des Einflusses innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Sie glauben, die Zukunft wird immer das Ergebnis des allmählichen organischen Wachstums aus der Gegenwart sein, ohne die Sprünge einer qualitativen Änderung. Das ist der Grund, warum ein Marxismus, der sich ihrer Arbeitsweise anpaßt (wie der der Militant-Tendenz oder des prorussischen Flügels der KP) zu einem kautskyanischen Marxismus neigt.

Der Voluntarismus des neuen Idealismus paßt den Aspirationen [Hoffnungen] der neuen Mittelschichten und der reformistischen Intellektuellen. Die Lebensweise dieser Schichten sind vom wirklichen Produktions- und Ausbeutungsprozeß abgeschnitten, und verfallen leicht dem glauben, daß intellektuelle Überzeugung und Engagement allein aus der Welt die Geister der Krise, des Hungers und des Kriegs beseitigen können.

Der revolutionäre Marxismus kann diesen Druck nur überleben, wenn er kämpfende Minderheiten in Parteien gruppieren kann. diese können nicht außerhalb der materiellen Geschichte hinausspringen, aber die Widersprüche der Geschichte lassen sich nicht ohne ihre eigene bewußte Tätigkeit lösen.

 

 

Anmerkungen

51. Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie, in MEW, Bd.3, S.26.

52. ebenda.

53. ebenda, S.30.

54. ebenda.

55. ebenda, S.432.

56. ebenda, S.167.

57. Marx, 1. These über Feuerbach, MEAW, Bd.I, S.196.

58. Marx, 2. These über Feuerbach, MEAW, Bd.I, S.196.

59. ebenda.

60. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Bewußtseins war eine der Früchte der deutschen Philosophie und man kann sie im früheren Teil der Hegelschen Phänomenologie des Geistes finden. Natürlich gibt Marx dieser Unterscheidung eine andere Bedeutung als Hegel. Das Problem, wie es möglich ist, sich von einem „unmittelbaren“ Bewußtsein zu einem wahren allgemeinen bzw. „vermittelten“ Bewußtsein zu bewegen, ist das Thema des größeren philosophischen Aufsatzes von Lukacs, Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, in Geschichte und Klassenbewußtsein.

61. Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie, in MEW, Bd.3, S.432-3.

62. ebenda, S.435.

63. Marx, „8. These über Feuerbach“, MEAW, Bd.I, S.200.

64. Für einen Vergleich zwischen Wittgenstein und Marx s. A. MacIntyre, Breaking the Chains of Reason, in E.P. Thompson (Hrsg.), Out of Apathy, London 1960, S.234.

65. Ich verwende „Historizismus“ hier im traditionellen Sinne eines Relativismus, der sagt, daß es keine allgemeinen Kriterien der Wahrheit bzw. der Falschheit gibt, sondern daß die Richtigkeit einer Idee von der konkreten historischen Situation abhängt, worin sie vorgestellt werden. Dieser ist z.B. der Sinn, worin der Begriff von Gramsci verwendet wird. Man sollte ihn nicht mit dem Sinne verwechseln, in dem Karl Popper ihn in seinem Buch Das Elend des Historizismus als Schimpfwort anwendet, das sich auf fast jede allgemeine Darstellung der Geschichte bezieht.

66. Marx, Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, in MEW, Bd.26.2, Berlin 1967, S.162.

67. Marx, Theorien über den Mehrwert, 1. Teil, in MEW, Bd.26.1, Berlin 1965, S.260.

68. ebenda, S.273.

69. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in MEAW, Bd.II, Berlin 1979, S.308. Es ist Unsinn, wenn Postalthusserianer wie G. Stedman Jones behaupten, daß ein marxistischer Ansatz einen Versuch bedeutet, „politische Sprache ... zu entschlüsseln, um einen ursprünglichen und materiellen Ausdruck des Interesses zu lesen“, Language of Class, S.21.

70. A. Gramsci, Avriamento allo studio della filosofia del materialismo storico, in Materialismo Storico, Turin 1948, ins Englisch übersetzt in The Modern Prince, London 1957, S.66-7.

71. Gramsci, Materialismo Storico, S.38.

72. Gramsci, ebenda, übersetzt in The Modern Prince, S.67.

73. Als er selbst später zugab, Lenin, Collected Works, Bd.6., S.491.

74. Man soll seine Bemerkung in 1905 merken: „Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch ...“, zit. in C. Harman, Partei und Klasse, Frankfurt/M. 1989, S.15.

75. G. Plekhanov, The Role of the Individual in History.

76. L. Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Vorwort zu Bd.1, Frankfurt/M. 1973, S.8.

77. ebenda, Vorwort zu Bd.2, S.404.

78. ebenda, Vorwort zu Bd.1, S.8.

79. ebenda, Vorwort zu Bd.2, S.405.

80. ebenda, Vorwort zu Bd.1, S.9.

81. ebenda, Bd.1, S.272.

82. L. Trotsky, History of the Russian Revolution, Bd.1, S.302. [4*]

83. Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Bd.1, S.280.

84. ebenda.

85. ebenda, S.277.

86. ebenda, S.280.

 

Anmerkungen des Übersetzers

3*. Ehemalige theoretische Zeitschrift der Kommunistischen Partei Großbritanniens, die während der 1980er Jahre ein wichtiger Sprachrohr des Reformismus war und die nach dem Zusammenbruch des Stalinismus im Ostblock nicht bloß politisch, sondern auch finanziell pleite ging.

4*. Dieses Zitat konnte ich nicht in der deutschen Übersetzung finden.

 


Zuletzt aktualisiert am 30.7.2001