Alex Callinicos

 

Trotzkismus

 

Einleitung

Während der Trotzkismus unter westlichen Sozialwissenschaftlern keine gute Presse hat, ist Leo Trotzki eine zu große Persönlichkeit, als daß man ihn ignorieren könnte. Nach seiner Rolle als einer der Hauptführer der Russischen Revolution – Präsident des Petersburger Sowjets in 1905 sowie 1917, Organisator des Oktoberaufstands, der die Bolschewiki an die Macht brachte, Freuender der Roten Armee und Architekt des Sieges im Bürgerkrieg 1918-21 – verlieh Trotzkis späteres Schicksal – Ausschluß aus der Macht durch Stalin und seine Verbündeten nach Lenins Tod 1924, Exil aus der Sowjetunion 1929 und Opfer eines Attentats von einem Agenten der jetzt als KGB bekannten Organisation 1940 – eine tragische Qualität zu einem Leben, das so tief mit dem entscheidenden Ereignis des 20. Jahrhunderts verwickelt war. Trotzkis gewaltige intellektuelle Kraft als Gesellschaftstheoretiker, politischer Analytiker und Schriftsteller – vielleicht am besten in der großartigen Geschichte der Russischen Revolution (Trotzki 1967) – nötigte Respekt vielen an, die seine Politik total ablehnten. Außerdem hatte er das Glück, das Isaac Deutscher sein Leben in einer Biographie (1970a; 1970b; 1970c) aufzeichnete, die zweifellos eine der hervorragendsten Biographien unserer Zeit ist. Es ist ein Zeichen für Trotzkis Format, daß jetzt 50 Jahre nach seinem Mord eine Hauptfrage in der momentan in der UdSSR stattfindenden Neubewertung der Vergangenheit die Forderung nach einer ehrlichen Anerkennung seiner Rolle in der Revolution und ihren Nachwirkungen ist.

Aber der Trotzkismus – die von Trotzki gegründete intellektuelle und politische Tradition – ist eine ganz andere Frage. Einer seiner weniger bedeutenden Biographen, Ronald Segal (1979: 403), tut den Trotzkismus als „eine fraktionelle Krankheit“ ab. Das faßt genau das herrschende Bild des Trotzkismus als eine Unzahl von zankenden Sekten zusammen, die ebenso viel durch ihre absolute Irrelevanz für die Realitäten des politischen Lebens als durch ihren endlosen Wettbewerb um den Deckmantel der vom Propheten geerbten Orthodoxie vereinigt werden. Wie wir sehen werden, schildert dieses Bild zu einem großen Maße die Wahrheit. Trotzdem sind die geringe Bedeutung und die Zersplitterung der trotzkistischen Bewegung nicht an sich Gründe dafür, die Ideen abzutun, die sie verkörpert und deren Entwicklung sie auf verschiedenen Weisen versucht hat.

Der Trotzkismus definierte sich als politische Strömung durch die Ablehnung der beiden herrschenden Definitionen des Sozialismus – derjenigen, die vom Stalinismus im Osten und von der Sozialdemokratie im Westen geliefert wurden – und durch die erneuerte Bekräftigung der Traditionen des Oktober 1917, wie er sie verstand – der revolutionären Umwandlung der Gesellschaft durch das demokratisch in Arbeiterräten organisierte Proletariat. Der Radikalismus dieser Ideen trug dazu bei, daß die Trotzkisten zum Rande der Arbeiterbewegung verurteilt wurden, aber die von ihnen heraufbeschworene politische Vorstellung zog in den frühen Jahren Talente an, die so verschieden und bemerkenswert waren wie der Arbeiteragitator James P. Cannon, der bahnbrechende schwarze Schriftsteller C.L.R. James und der Surrealistendichter André Breton. Während der 1930er und 1940er Jahre wurde eine erstaunliche Anzahl des später als die New Yorker Intellektuellen bekannten Kreises direkt oder peripher in der amerikanischen trotzkistischen Bewegung verwickelt – unter ihnen Saul Bellow, James Burnham, James T. Farrell, Clement Greenberg, Sidney Hook, Irving Howe, Seymour Martin Lipset, Mary McCarthy und Dwight Macdonald –, bevor sie sich nach rechts zum Kaltenkriegsliberalismus oder zum Neokonservatismus treiben ließen (s. Wald, 1987). Durch die Aufregung von 1968 und danach wiederbelebt konnten viele trotzkistischen Gruppen eine neue Generation von Aktivisten an sich anziehen. Viele der wichtigsten heutigen marxistischen Theoretiker kann man betrachten als Menschen, die in – oder von – einer oder der anderen Variante der trotzkistischen Tradition arbeiten – unter ihnen Neville Alexander, Perry Anderson, Daniel Bensaid, Robin Blackburn, Robert Brenner, Pierre Broué, Tony Cliff, Hal Draper, Terry Eagleton, Norman Geras, Adolfo Gilly, Duncan Hallas, Chris Harman, Nigel Harris, Michael Löwy und Ernest Mandel.

Diese Tradition kann man am besten als einen Versuch verstehen, den klassischen Marxismus unter Bedingungen fortzusetzen, die einerseits vom Erfolg der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder dabei, die revolutionären Drücke zu überstehen, die am stärksten während der Jahre zwischen den Weltkriegen waren, und andererseits vom Verrat der von der Oktoberrevolution erweckten Hoffnung durch den Aufstieg des Stalinismus in der UdSSR und seine Ausdehnung nach 1945 zu Osteuropa und China definiert wurden. Deutscher (1984: 245) beklagte den

treffenden und für einen Marxisten oft demütigenden Gegensatz zwischen dem von mir benannten klassischen Marxismus – d.h. dem Denkensschatz, der von Marx, Engels und ihren Zeitgenossen und nach ihnen von Kautsky, Plechanow, Lenin, Trotzki und Rosa Luxemburg entwickelt wurde – und dem vulgären Marxismus, dem Pseudomarxismus der verschiedenen Arten der europäischen Sozialdemokraten, Reformisten, Stalinisten, Chruschtschowiten und ihresgleichen.

Anderson (1976) griff den Begriff des klassischen Marxismus auf und argumentierte, daß diejenigen, die von ihm umfaßt wurden, durch ihre organische Beteiligung an der Arbeiterbewegung ihrer Zeit und durch eine theoretische Konzentration auf der Evolution der kapitalistischen Wirtschaft, der Entwicklung der politischen Formen der bürgerlichen Herrschaft und der Strategie und Taktik des Klassenkampfs zu erkennen seien. Er stellte diese Tradition der des Westlichen Marxismus gegenüber, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg kristallisierte, einer Sammlung von Denkern – unter ihnen Adorno, Althusser, Della Volpe, Horkheimer, Marcuse und Sartre –, die von ihrer Distanz von jeder Form der politischen Praxis Hohn von ihrer Beschäftigung mit Fragen der Philosophie und der Ästhetik gekennzeichnet wurden. Indem er auf dem Denkvermögen eines der größten Anwender des klassischen Marxismus beruht, ist der Trotzkismus allgemein immun gegen den Wortschatz und die Themen des Westlichen Marxismus gewesen. Das könnte dabei helfen, den relativen Mangel an Interesse am Trotzkismus zu erklären, der von der heutigen Gesellschaftstheorie gezeigt wird, die im großen und ganzen bemerkenswert empfänglich für den Westlichen Marxismus gewesen ist. Versionen des Marxismus, die in der Akademie formuliert werden, sind wahrscheinlich attraktiver für Gesellschaftswissenschaftler als diejenigen, die immer noch danach streben, sich an die Angelegenheiten der normalen Arbeitenden zu richten und ihre Aktionen zu beeinflussen.

Der stimulierende polemische Aufsatz, The Last Intellectuals, von Russell Jacoby (1987: 5) trauert dem Niedergang in den USA der „öffentlichen Intellektuellen, Schriftsteller und Denker“ nach, „die ein allgemeines und ausgebildetes Publikum ansprechen“. Die New Yorker Intellektuellen stellten eine hinscheinende Generation dar, die nicht ersetzt worden sei; die von der Bewegung der 1960er Jahre produzierte linke Intelligenz landete in den Universitäten, wo sie einen hermetischen für Außenseiter unverständlichen akademischen Diskurs produziere. Diese Änderung läßt sich nicht leugnen und ist nicht auf den USA beschränkt. Jacoby führt verschiedenen gesellschaftliche Ursachen an – die Verlegung an die Vororte, den Einzug Höherstehender in heruntergekommene Wohnviertel [suburbanisation, gentrification], die Ausdehnung der Hochschulausbildung –, die das Milieu zerstörten, wo die alte politisch engagierte Intelligenz blühte, und eine andere isolierte Umwelt für ihre Nachfolger lieferten. Zweifellos sind diese Faktoren von großer Bedeutung, aber es gibt eine politische Bedingung, die Jacoby außer acht läßt. Die größere politische Erfahrung, die viele New Yorker Intellektuelle miteinander teilten, war ihre Verwicklung in der trotzkistischen Bewegung, die systematisch versuchte, genaue theoretische Untersuchung mit der praktischen Verwicklung in der öffentlichen Welt zu verbinden. Die in diesem Zusammenhang angenommenen Gewohnheiten blieben mit den New Yorker Intellektuellen, auch nachdem sie zu total anderen politischen Engagements weitergingen. Im Gegensatz dazu tendierte die Generation der linken Intellektuellen der 1960er Jahre dazu, Formen des Marxismus – den Westlichen Marxismus oder oft stark stalinisierte Varianten des Maoismus – zu begegnen, die es viel schwieriger machten, die kritische Theorie und die politische Praxis zu kombinieren.

Alasdair MacIntyre, selbst einstiger Trotzkist, hat vor kurzem die Wichtigkeit der von ihm benannten „traditionsgebildeten Untersuchung“ betont, wo

die Standarden der rationellen Rechtfertigung selbst aus einer Geschichte entstehen und Teil dieser sind, in der sie von der Weise gerechtfertigt werden, wie sie die Beschränkungen ihrer Vorgänger überschreiten und Mittel gegen ihre Fehler innerhalb dieser Tradition liefern. (1988: 7)

Man muß nicht MacIntyres Behauptung akzeptieren, alle Kriterien der Rationalität seien zu einer bestimmten Tradition spezifisch, noch weniger die Tradition, die er selbst wählt – das augustinische Christentum –, um die Wichtigkeit davon zu erkennen, die Weise zu verfolgen, wie Traditionen sich durch den Versuch entwickeln, die in ihnen innewohnenden Probleme zu lösen. Wir werden sehen, daß die spätere Geschichte des Trotzkismus von der großen Krise der 1940er Jahre gestaltet wurde, die durch die Widerlegung der Vorhersagen Trotzkis über den Zweiten Weltkrieg und sein Ergebnis ausgelöst wurde. Die verschiedenen Reaktionen auf dieser Krise zerschmetterten die Einheit der trotzkistischen Bewegung unwiderruflich und verursachten drei theoretisch-politischen Hauptströmungen, die sich radikal voneinander unterschieden aber alle von Trotzki stammten: der „orthodoxe Trotzkismus“ der verschiedenen Vierten Internationalen; diejenigen Revisionen der Orthodoxie, die dazu tendierten, einen Bruch mit dem klassischen Marxismus anzudeuten (z.B. Shachtman und Castoriadis); und die von Cliff gegründete Internationale Sozialistische Tradition, deren Kritik des orthodoxen Trotzkismus eher als eine Wiederkehr an den klassischen Marxismus vorgestellt wurde.

Dieser Prozeß der theoretischen Entwicklung, der von den auseinandergehenden zu Krise der 1940er Jahre angebotenen Lösungen definiert wurde, bildet das Thema des vorliegenden Buchs. Was folgt ist weit davon entfernt, eine Geschichte der trotzkistischen Bewegung zu sein – die Natur der Reihe, in der das Buch erscheint, sowie die Beschränkungen meines eigenen Wissens diktieren das (obwohl ich von der neuesten Explosion der historischen Untersuchung des Trotzkismus profitiert habe, die im Aufkommen von Zeitschriften wie Cahiers Léon Trotsky und Revolutionary History widerspiegelt wird). Der Zweck dieser Studie ist es vielmehr, eine intellektuelle Geschichte des Trotzkismus als politische Bewegung zu liefern. Die spezifisch benutzten Beispiele sind hauptsächlich dazu gemeint, die theoretischen Fragen zu illustrieren. Diese Illustrationen spiegeln die Neigung meines Wissens zum britischen und amerikanischen Trotzkismus wider. Das hat den Nachteil, daß z.B. die trotzkistische Bewegung in Lateinamerika völlig außer acht gelassen wird trotz der Tatsache, daß einige der bedeutendsten Organisationen sich in dieser Region befinden. Die Neigung der Studie hat trotzdem den Vorteil, daß sie die Tatsache betont, daß der Trotzkismus Teil seines größten Einflusses (relativ gesehen) in Gesellschaften genossen hat – in Großbritannien und in den USA –, wo die allgemeine Auswirkung des Marxismus gering gewesen ist. Wenn die von mir angebotene Geschichte etwas stilisiert ist – einige könnten karikiert sagen –, könnte sie immer noch dazu dienen, die Wichtigkeit der Themen zu dramatisieren, worüber diejenigen so heftig auseinandergesetzt haben, die versuchten, das Denken von Trotzki fortzusetzen.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.3.2001