Alex Callinicos

 

Trotzkismus

 

2. Krise

 

2.1 Widerlegte Vermutungen

Die trotzkistische Bewegung empfing [begrüßte]den Zweiten Weltkrieg als Fortsetzung des Ersten, eine Konflikt zwischen Imperialisten, der aus der Konkurrenz um die Kontrolle über die Ressourcen der Welt zwischen den Großmächten entstand. (Trotzki 1973d: 183-222; Mandel 1986) In Einklang mit dem allgemeinen von Lenin während des Ersten Weltkriegs entwickelten Ansatz lehnte die 4. Internationale es deshalb ab, Partei der westlichen Alliierten gegen die Achsenmächte zu nehmen: „Der Sieg der Imperialisten Großbritanniens und Frankreichs wäre nicht weniger furchtbar für das endgültige Schicksal der Menschheit als der Hitlers oder Mussolinis.“ (Trotzki 1973d: 221) Trotzki versuchte aber, die allgemeine Unterstützung des Kriegs seitens der westlichen Arbeiterbewegung als Kampf gegen den Faschismus in Betracht zu nehmen durch die Politik, die später als die Proletarisch-Militärische Politik bekannt wurde, wonach in den westlichen Demokratien ihre Agitation weniger auf absolute Opposition zum Krieg richten sollte als auf Forderungen, die sich auf der Behauptung stützten, es fehle der herrschenden Klasse an den Willen oder die Fähigkeit, den Faschismus zu kämpfen, nach der gewerkschaftlichen Kontrolle über die militärische Ausbildung der Arbeiter und nach der Demokratisierung der Streitkräfte. (Bambery 1989) Die Politik wurde von Cannon (1970) im Prozeß gegen SWP-Führer wegen Anstiftung zum Aufruhr gekonnt verteidigt und wurde mit relativem Erfolg in Großbritannien angewendet, wo die Workers’ International League (WIL) die Opposition der Kommunistischen Partei gegen Streiks nach dem deutschen Einmarsch in die UdSSR ausnutzen und einen Teil der industriellen Unzufriedenheit ausdrücken konnte, die sich im letzteren Teil des Kriegs entwickelte. (Bornstein u. Richardson 1986b: Kap.1, 3, 5) Auf dem europäischen Festland mußten die Trotzkisten sich mit viel schwereren Fragen herumschlagen – dem Überleben unter der deutschen Besatzung und dem Verhältnis zwischen den eigenen Aktivitäten und denen der Widerstandsbewegungen, die oft von Kommunisten geführt und mit patriotischen Ansichten durchdrungen wurden, die mit dem proletarischen Internationalismus der 4. Internationale nicht einig gingen. Mit außerordentlichem Mut und unter Extrem ungünstigen Umständen führten Trotzkisten die eigene charakteristische Agitation – in Frankreich z.B. produzierten sie eine Zeitung, die sich auf entfremdete Mitglieder der Besatzungskräfte richtete, und solche Aktivitäten waren oft hier auf Kosten der Verhaftung, der Folter und der Hinrichtung. (Prager 1988)

Die deutsche Besatzung verstärkte weiter die Position in der 4. Internationale der amerikanischen SWP, die schon vor dem Krieg die größte Sektion war und darüber hinaus ein enges Verhältnis mit Trotzki während seines letzten Exils in Mexiko genoß. Cannon war tief vom Fraktionskonflikt beeinflußt, die August 1939 herausbrach und April 1940 im Weggang von Shachtman und 40 Prozent der Mitgliedschaft gipfelte, die die abgefallene Workers’ Party gründeten. Shachtman argumentierte mit der Unterstützung von Burnham, daß Ereignisse wie der Hitler-Stalin-Pakt bestätigten, die Sowjetunion sei nicht mehr ein Arbeiterstaat und deshalb könne die 4. Internationale nicht die UdSSR im Krieg bedingungslos verteidigen. Obwohl Trotzki wieder seine Analyse der UdSSR als degenerierten Arbeiterstaat wieder beteuerte, wovon die Verteidigung der Sowjetunion eine logische Folge war, konzentrierte sich ein Großer Teil der Debatte auf die Behauptung der Shachtmaniten, die Cannon-Führung stelle „die Tendenz des bürokratischen Konservatismus“ dar. (Shachtman 1940: 51) Trotzki und Cannon reagierten, indem sie Shachtmans Anhänger als eine „kleinbürgerliche Opposition“ brandmarkten, die vor dem Druck von der liberalen Intelligenz kapituliert hätte. (Trotzki 1973c: 43ff.) Burnham und Shachtman (1939: 20) hatten selbst den Prozeß analysiert, wodurch viele amerikanische Intellektuelle, die unter dem Anstoß der Weltwirtschaftskrise und der Siege des Faschismus von der linken Politik und sogar vom Trotzkismus angesprochen wurden, Ende der 1930er Jahre sich zur „Stalinophobie oder dem vulgären Antistalinismus“ und zur Annahme der westlichen Demokratie treiben ließen. Die spätere Geschichte der Mehrheit der Shachtmaniten deutet darauf an, daß sie wirklich ein Beispiel dieser Erscheinung seien. (s. teil 4.1 unten) Eine Folge der 1940er Spaltung war aber, daß sie Cannon dazu anregte, eine übertriebene Betonung auf die Vorteile der Orthodoxie zu legen und alle Kritik als eine Widerspiegelung des „Drucks der Klassenkräfte auf der proletarischen Avantgarde“ zu betrachten. (Cannon 1972: 1)

Diese Ansichten durchdrangen den Ansatz der SWP zum Wiederaufbau der 4. Internationale als effektive Organisation in der letzteren Jahren des Kriegs. Die Cannon-Führung war in Konflikt mit Jean van Heijenoort, dem Sekretär der 4. Internationale geraten, der zusammen mit einer von Albert Goldman und Felix Morrow geführten Minderheitsfraktion in der SWP gegen die beharrliche Behauptung der Mehrheit argumentierte, es könne keine Wiederherstellung der bürgerlichen Demokratie am Ende des Kriegs geben. (s. z.B. Morrow 1944; Frank 1944) Die SWP-Führung benutzte das erste Treffen nach dem Krieg, die Internationale Konferenz April 1946, um ein neues Internationales Sekretariat (IS) einzusetzen. Obwohl seine Hauptpersönlichkeiten, vor allem der Grieche Michael Raptis und der Belgier Ernest Mandel – besser bekannt unter den Pseudonymen Pablo bzw. Germain –, erst im trotzkistischen Widerstand aufgetaucht waren und dem im Sommer geheim eingesetzten Provisorischen Europäischen Sekretariat gehört hatten, verdankten sie ihre neue Bekanntheit hauptsächlich der amerikanischen Unterstützung. Wie Cannon es später darstellte:

Unsere Verhältnisse [Beziehungen] mit der Führung in Europa waren zu dieser Zeit Verhältnisse [Beziehungen] der engsten Zusammenarbeit und Unterstützung. Es gab allgemeine Übereinstimmung unter uns. Diese waren Unbekannte in unserer Partei. Niemand hatte je von ihnen gehört. Wir halfen dabei, die einzelnen Führer bekanntzumachen ... Sie mußten noch Autorität gewinnen, nicht nur hier sondern durch die ganze Welt. Und die Tatsache, daß die SWP sie auf der ganzen Linie unterstützte, verstärkte sehr ihre Position. (1973a: 73)

Die Situation, die den „Unbekannten“ und ihren Unterstützern gegenüberstand, war eine, die offenbar die Vorhersagen Trotzkis über eine revolutionäre Welle nach dem Krieg verwirrte. Europa wurde tatsächlich während des letzten Teils des Kriegs von einer populären Radikalisierung überrollt, die ihren Hauptausdruck in den Widerstandsbewegungen im besetzten Europa und in der Wahl der ersten Labour-Mehrheitsregierung in Großbritannien fand. Die USA erfuhren eine Kette von größeren Streiks, die ihren Höhepunkt 1945-6 erreichte. Die politische Agitation war in den britischen und amerikanischen Streitkräften weitverbreitet, was Unzufriedenheit widerspiegelte, die in einigen Fällen zur Meuterei führte. Aber während sie in ihrem Ausmaß mit Trotzkis Vorhersage von einer „ Epoche der gesellschaftlichen Erschütterung“ übereinstimmten, verhießen diese Unruhen nicht die Revolution. Die größte Bedrohung der westlichen Mächte, die von den Kommunisten geführten Widerstandsbewegungen in Frankreich und Italien, wurde dank Stalin entschärft: In Einklang mit seinen Verpflichtungen bei Roosevelt und Churchill Wiesen Führer der Kommunistischen Parteien wie Thorez und Togliatti ihre Mitglieder an, sich zu entwaffnen und den von den Alliierten eingesetzten Regierungen zu gehorchen. (Claudin 1975: Kap.5) Weiter nach Osten ging das Stalinregime selbst, das laut Trotzkis Vorhersage nicht den Krieg überleben würde, im Gegenteil dazu sehr verstärkt hervor. Nachdem sie die Hauptlast des militärischen Kampfs gegen Hitler getragen hatte, etablierte die UdSSR sich rasch als die Hauptmacht in Osteuropa durch die Anwesenheit ihrer Armeen und die zunehmende Einführung von kommunistischen Einparteienregimes in Polen, in der Tschechoslowakei und in den anderen von der Sowjetunion besetzten Staaten. Die politische Dynamik des Stalinismus bewies sich 1949 weiter, als die KPCh, die trotz ihrer Differenzen mit Moskau ideologisch und methodisch stalinistisch war, die Macht ergriff. Weit davon entfernt zusammenzubrechen, hatte die „bonapartistische Oligarchie sich von der Elbe bis zur Pazifik [zur Stillen Ozean] vermehrt.

Dieses Ergebnis stellte in Frage einige Grundvoraussetzungen, die die Analyse durchdrangen, die die Basis für Trotzkis Entscheidung zur Gründung der 4. Internationale lieferte. Ersten unterlag Trotzkis Glaube daran, daß der Kapitalismus seine letzte Krise erfahre, wovon es nur die kurzfristige Erleichterung geben könne, seine Vorhersage, daß ein Hauptopfer des Krieges die begrenzte bürgerliche Form der Demokratie wäre, die es in Ländern wie Großbritannien erlaube, daß eine von der reformistischen Politik beherrschten [dominierten] Gewerkschaftsbewegung florieren [blühen] könnte:

All die Länder werden aus dem Krieg so ruiniert herauskommen, daß der Lebensstandard der Arbeiter hundert Jahre zurückgedrängt wird. Reformistische Gewerkschaften sind nur unter dem Regime der bürgerlichen Demokratie möglich. aber die erste Sache, die in diesem Krieg bezwungen wird, wird die durchaus verdorbene Demokratie sein. In ihrem entscheidenden Niedergang wird sie alle Arbeiterorganisationen, die ihr als Unterstützter dienten, mit sich ziehen. (Trotzki 1973d: 213)

In Einklang mit einer solchen katastrophalen Perspektive erklärte Ted Grant 1943 im Namen der WIL, Großbritannien sei in „einer vorrevolutionären Situation“, und die Nachfolgerorganisation der WIL, die Revolutionary Communist Party (RCP), konnte die Attlee-Regierung mit der von Kerenski vergleichen. (Grant 1989: 31, 131) Bis 1946 wurde die RCP-Führung zur Anerkennung gezwungen: „Wirtschaftliche Aktivität in Westeuropa besteht nicht in der nächsten Periode aus ‚Stagnation und Slump‘, sondern aus Wiederaufschwung und Boom.“ (Grant 1989: 381) Sie ließ sich aber nicht träumen, daß die Weltwirtschaft am Rande des längsten und ausdauerndsten Aufschwung in ihrer Geschichte stand, wo das Bruttosozialprodukt der Welt zwischen 1948 und 1973 sich dreieinhalbmal vergrößern wurde.

Das Überleben und Ausdehnung des Stalinismus stellte ein noch akuteres Problem für Trotzkis Erben dar. Die osteuropäischen Staaten erfuhren nach 1945 einen Prozeß, den Mandel die „strukturelle Assimilation [Integration]“ in die UdSSR nannte. Besonders nach dem Anfang des Kalten Kriegs in 1946-7 wurde das kommunistische Monopol über die politische Macht eingeführt und breite Verstaatlichungen wurden durchgeführt. Das Ergebnis war sozioökonomischen Strukturen, die im wesentlichen der der UdSSR gleich waren. Waren diese „Pufferstaaten“, wie die 4. Internationale sie nennen mochte, selbst Arbeiterstaaten, wie Trotzki vom stalinistischen Rußland behauptete? Diese Frage negativ zu beantworten, bedeutete, daß man es ablehnte, das Kriterium eines Arbeiterrats konsequent zu benutzen, das Trotzki selbst gegeben hatte, nämlich das Staatseigentum an den Produktionsmitteln und das Monopol des Außenhandels. (s. Teil 1.2 oben) Aber die osteuropäischen Regimes als Arbeiterstaaten zu bezeichnen – obwohl wie die UdSSR bürokratisierte – zu betrachten, hätte tiefgehende Konsequenzen für die theoretische Struktur des Trotzkismus und sogar für sein bestehen als politische Bewegung.

Zum einen, die in Osteuropa nach 1945 durchgeführten Umwandlungen waren „Revolutionen von oben“, worin die Kommunistischen Parteien mit der Unterstützung der russischen Besatzungskräfte die entscheidende Rolle spielten. Die Rote Armee hatte sich während ihres Vormarsches nach Westen darum gekümmert, die verschiedenen Versuche zu unterdrücken, eine soziale Revolution von unten durchzuführen, indem sie Arbeiterräte und Volksmilizen auflöste. Die Massendemonstrationen, die den Prager Putsch Februar 1948 begleiten, wurden von einer Kommunistischen Partei inszeniert, deren Macht hauptsächlich von ihrer Kontrolle über die Armee und die Polizei und von der Unterstützung der Russen entstand. (s. Harman 1983: Kap.1) Dieser Prozeß ging radikal mit dem Begriff der sozialistischen Revolution einig, der von Marx unter der Inspiration der Pariser Kommune formuliert und von Lenin im Staat und Revolution wieder beteuert wurde, worin die Arbeiterklasse das bestehende bürokratische Apparat der Staatsmacht einschließlich der stehenden Armee und der Polizei abbauen und es durch Organe (wie die Sowjets in den Russischen Revolutionen von 1905 und 1917) ersetzen würde, die sich der direkten Teilnahme und Kontrolle des Volks basierten. Noch waren diejenigen stalinistischen Siege, die ohne russische militärische Intervention stattfanden – vor allem in China und Jugoslawien –, kompatibler mit diesem klassischen marxistischen Begriff der Revolution. In diesen Ländern wurde die entscheidende Rolle durch von Kommunisten geführten Bauernarmeen gespielt, die eine Strategie des Guerillakriegs verwendeten, die viele Nachahmer in der Dritten Welt während des folgenden Halbjahrhunderts haben wurde. Aber Trotzki, wie vor ihm Marx, hatte immer die Möglichkeit abgelehnt, daß das Bauerntum als Agent der sozialistischen Revolution handeln könnte. Er hielt es sogar für wahrscheinlich, daß im Falle der Wiederbelebung der chinesischen Arbeiterbewegung in den Städten unter trotzkistischer Führung es „einen Bürgerkrieg zwischen der von den Stalinisten geführten Bauernarmee und der von Leninisten geführten proletarischen Avantgarde“ geben könnte. (Trotzki 1976a: 530)

Wenn deshalb die osteuropäischen Regimes und das chinesische Arbeiterstaaten seien, hätten Marx und Engels sich getäuscht, als sie erklärten : „Die Befreiung der Arbeiterklasse [arbeitenden Klassen ?] wird von der Arbeiterklasse [den arbeitenden Klassen ?] selbst erobert.“ x u. Engels 1965: 327) Folglich beschrieb Mandel 1946 die Idee, daß sozialistische Revolutionen in Osteuropa stattgefunden hätten, als „eine durchaus kleinbürgerlich Revision des marxistisch-leninistischen Begriffs des Staates sowie der proletarischen Revolution“. (zit. in Cliff 1982: 83) Die Heftigkeit dieser Reaktion widerspiegelt eine weitere Überlegung. Trotzki hatte argumentiert: die stalinistische Bürokratie sei, obwohl sie immer noch auf dem von der Oktoberrevolution gelegten gesellschaftlichen Fundament beruhte, eine konservative Kraft, deren Weltrolle die Verhinderung eher als die Stimulierung der Revolution geworden sei: „Die Bürokratie, die in der UdSSR eine konservative Kraft wurde, kann nicht auf der Weltarena eine revolutionäre Rolle spielen.“ (Reisner 1973: 214) Aber hätten stalinistische Parteien in China und Osteuropa den Kapitalismus gestürzt, dann hätte die Bürokratie sich als eine tiefgehend revolutionäre Kraft bewiesen. Weiterhin: Könnte der Stalinismus wirklich sozialistische Revolutionen durchführen, was wäre dann die Rolle der 4. Internationale, der vermutlichen „Weltpartei der sozialistischen Revolution“? Als er auf Vergleiche zwischen der vermutlichen Gründung von Arbeiterstaaten in der „Pufferzone“ und der von Bismarck in Deutschland durchgeführten bürgerlichen „Revolution von oben“ reagierte, bemerkte der palästinensische Trotzkist und RCP-Führer Tony Cliff:

Der „Bismarcksche“ Weg war für die Bourgeoisie nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Ausnahme war die Französische Revolution. Wenn die proletarische Revolution nicht notwendigerweise durch die Tätigkeit der Arbeiterklasse, sondern von einer Staatsbürokratie durchgeführt werden könnte, wäre dann die Russische Revolution unvermeidlich die Ausnahme, während der „Bismarcksche“ Weg die Regel wäre. Der Aufstieg der Bourgeoisie beruhte sich auf der Täuschung der Massen, ob der französischen Sanskulotten oder der Soldaten von Bismarck. Wenn es möglich ist, eine proletarische Revolution ohne eine unabhängige revolutionäre Führung durchzuführen, dann gibt es überhaupt keinen Grund für das Erscheinen dieser Führung. Das Gesetz des wenigeren Widerstands wird die Geschichte dazu führen, den Weg der Revolution zu wählen, die durch kleine Minderheiten durchgeführt werden, die die großen Mehrheiten täuschen. ( Cliff 1982: 66)

Die Umwandlung Osteuropas nach dem Krieg durch die UdSSR in ihrem eigenen Bildnis stellte die Erben Trotzkis vor folgendem Dilemma: seine Gleichsetzung des Sturzes des Kapitalismus mit dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln aufzugeben oder die klassische marxistische Vorstellung der sozialistischen Revolution als „die selbstbewußte unabhängige Bewegung der überwiegenden Mehrheit im Interesse der überwiegenden Mehrheit“ (Marx u. Engels 1976b: 495) zu revidieren. Der „orthodoxe Trotzkismus“, wie Cannon ihn als erster nannte, bestand darin, die zweite Lösung dieses Dilemmas zu wählen.

 

 

2.2 Konventionalistische Listen

Die Krise der trotzkistische Bewegung nach 1945 ist ein Beispiel eines ziemlich gemeinen Problems in der Geschichte der Wissenschaften. Imre Lakatos (1978: I) legte nahe, man betrachte Theorien am besten als „wissenschaftliche Forschungsprogramme“, die sich durch die Formulierung von aufeinander folgenden widerlegbaren Zusatzhypothesen entwickeln. Wo ein Forschungsprogramm „neuartige Fakten“ Vorhersage, sei es „theoretisch fortschrittlich“, und wo einige dieser Vorhersagen empirisch bestätigt werden, sei es „empirisch fortschrittlich“. Ein Programm, dem es nicht gelinge vorherzusagen, oder dessen Hypothesen widerlegt werden, sei im Gegensatz dazu ein „degenerierendes“, ein Hauptkandidat für den Ersatz durch ein anderes Programm, wie das von Kopernikus das von Ptolomäus in der Astronomie oder das von Einstein das von Newton in der Physik ersetzte. Jedes Programm habe einen „harten Kern“ von Hypothesen, die man so behandele, als ob sie von der Widerlegung immun seien, anders als die entbehrlichen Zusatzhypothesen. Ein Zeichen eines degenerierenden Programms sei das Aufkommen etlichen von Karl Popper (1970: 82-4) genannten „konventionalistischen Listen“, die dafür bestimmt seien, den harten Kern von der ständigen Widerlegung seiner Zusatzhypothesen zu verteidigen, wie die Anhänger des Ptolomäus im Spätmittelalter versuchten, sein geozentrisches Modell des Planetensystems so zu machen, daß es der Beobachtung entsprach, indem sie ihn Epizyklen anhängten.

Popper sowie Lakatos definierten eine wissenschaftliche Theorie als eine, die die Bedingungen der eigenen Widerlegung stellt. Interessanterweise erfüllte Trotzki in einer seiner letzten Schriften dieses Erfordernis. Während der Debatte von 1939-40 mit Shachtman und Burnham argumentierte er, wenn der Zweite Weltkrieg nicht zu einer Revolution führe, die mit dem Stalinismus sowie dem Kapitalismus abbreche,

wäre es notwendig im nachhinein festzustellen, daß in ihren Grundeigenschaften die heutige UdSSR der Vorbote [Vorläufer] einer neuen Ausbeuterklasse auf einer internationalen Ebene sei ... Die historische Alternative, zu Ende getragen, ist folgendes: Entweder ist das Stalinregime ein abscheulicher Rückfall im Prozeß der Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine sozialistische Gesellschaft, oder das Stalinregime ist die erste Stufe einer neuen Ausbeutergesellschaft. Wenn die zweite Prognose sich als richtig beweist, dann wird natürlich die Bürokratie eine neue Ausbeuterklasse. Wie schwer auch immer die zweite Perspektive sein könnte, wenn das Weltproletariat sich als unfähig beweist, seine von Lauf der Entwicklung auferlegten Aufgabe zu erfüllen, würde nicht anderes übrig bleiben außer der Anerkennung, daß das sozialistische Programm, das sich auf den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft beruhte, sich als eine Utopie beendete. (Trotzki 1973c: 9)

Trotzki glaubte somit, daß die Widerlegung seiner Vorhersagen die Wahrheit des Marxismus selbst in Zweifel stellen würde. Vielleicht teilweise deswegen, weil dadurch so viel aufs Spiel gesetzt wurde, lehnten Cannon und seine „Unbekannten“ im IS es zuerst ab, alle Konflikte zwischen der Prognose Trotzkis und der Entwicklung der Weltpolitik am Ende des Kriegs anzuerkennen. In einem klassischen Beispiel einer konventionalistischen List erklärte Cannon auch November 1945:

Trotzki sagte voraus, das Schicksal der Sowjetunion würde im Krieg entschieden. Das bleibt unsere feste Überzeugung. Bloß stimmen wir nicht mit einigen Leuten überein, die gedankenlos glauben, der Krieg sei vorbei. Der Krieg ist erst durch eine Phase durchgegangen und ist jetzt im Prozeß der Umgruppierung und der Umorganisierung für die zweite. Der Krieg ist nicht vorbei und die Revolution, die nach uns aus dem Krieg in Europa entstehen würde, ist nicht von der Tagesordnung genommen worden. sie ist bloß verschoben und vertagt worden, hauptsächlich weil es eine ausreichend starke revolutionäre Partei fehlt. (Cannon 1977: 200)

Wenn die Tatsachen nicht der Theorie passen, um so schlimmer für die Tatsachen. Ähnlich erklärte die Internationale Konferenz April 1946, Europa würde „auf einer Ebene bleiben, die sich der Stagnation und dem Slump annähert“ (zit. in Grant 1989: 380) Diese Behauptung und ihre logische Folge, es könnte keine Restauration der bürgerlichen Demokratie geben, wurden von der französischen Sektion der 4. Internationale, der Parti Communiste Internationaliste (PCI), und der britischen RCP in Frage gestellt. Im Auftrag der letzteren konnte Cliff (1982: 24-39) sehr effektiv Mandels Versuch widerlegen, die reichlichen Beweise einer wirtschaftlichen Erholung weg zu erklären. Ähnlich wies Grant darauf hin, was allen außer dem IS und der SWP-Führung offensichtlich war: „Überall in Westeuropa seit der ‚Befreiung‘ ist die Tendenz ständig in Richtung der bürgerlichen Demokratie gewesen und nicht in Richtung von immer diktatorischeren Regimes.“ (Grant 1989: 125) Obwohl die RCP-Führung einen größeren Realitätssinn als Cannon und Mandel zeigte, glaubte sie trotzdem auch, daß die von Trotzki vorausgesagte Revolution nur verschoben worden sei. So argumentierte Grant, eine „neue Erholung kann nur den Weg für einen noch größeren Slump und Wirtschaftskrise als in der Vergangenheit vorbereiten.“

Das Wesen der „Pufferzone“ war aber die größte Quelle der Schwierigkeiten. Die erste Reaktion der Führung der 4. Internationale bestand in der Ablehnung, Moskaus neue Satelliten als Arbeiterstaaten zu betrachten. September 1946 argumentierte Mandel im Auftrag des IS: „Das Wesen der Wirtschaft und des Staats bleibt in diesen Ländern bürgerlich.“ (zit. in Frank 1969: 48) Obwohl diese Position April 1948 beim Zweiten Kongreß der wieder beteuert wurde (Fourth International 1948), stand sie zu offensichtlich im Widerspruch zur Identität der wirtschaftlichen und politischen Strukturen in der UdSSR und in Osteuropa, um sie endlos aufrechterhalten zu können. Die Mehrheit der RCP-Führung hatte schon die Richtung vorausgeahnt [vorausberechnet/vorhergesehen], die schließlich von der 4. Internationale genommen wurde. In ihrem Auftrag argumentierte Jock Haston erfolglos beim Kongreß: „Die Wirtschaften dieser Länder werden auf die gleiche Linie wie die der Sowjetunion gebracht.“ (zit. in Bornstein u. Richardson 1986b: 217) Im Endeffekt fing das IS doch an, innerhalb von wenigen Monaten nach dem Kongreß in die gleiche Richtung zu rutschen. Der Anstoß dazu stellte sich als der Bruch Jugoslawiens mit dem sowjetischen Block Juni 1948 heraus. Das IS reagierte am 1. Juli mit einem „Offenen Brief an die Kommunistische Partei Jugoslawiens“, der erklärte: „Sie halten in Ihren Händen eine mächtige Kraft, wenn Sie bloß auf dem Weg der sozialistischen Revolution nicht verzichten,“ und bemerkte zum Schluß „die Aussicht des siegreichen Widerstands einer revolutionären Arbeiterpartei gegen das Kremlapparat ... Hoch die jugoslawische sozialistische Revolution.“ (zit. in Hallas 1969: 29)

Das Kamel hatte seine Nase unter das Zelt gebracht. Wenn man in einem Fall Zugabe, daß eine stalinistische Partei – deren Generalsekretär Tito über seinem strengen Umgang mit „Trotzki-Faschisten“ prahlte, als er mit Moskau brach(Cliff 1982: 67-8) – eine sozialistische Revolution durchführen könnte, warum hätte es auch nicht im übrigen Osteuropa passieren können? Es dauerte noch drei Jahre, bevor Pablo. Mandel und Cannon diese Schlußfolgerung akzeptierten und die 4. Internationale sie offiziell registrierte. Der Dritte Kongreß erklärte August 1951 über Osteuropa: „Die strukturelle Integration dieser Länder mit der UdSSR muß man wesentlich als vollendet betrachten sowie die Tatsache, daß diese Länder im Grunde aufgehört haben, kapitalistische Länder zu sein.“ Die Verstaatlichung der Produktionsmittel, wie im Falle der UdSSR, sei eine notwendige und ausreichende Bedingung des bestehen von Arbeiterstaaten:

Es ist vor allem aufgrund ihrer ökonomischen Basis, ... die durch neue Produktions- und Eigentumsverhältnisse charakterisiert sind, die einer verstaatlichten Wirtschaft eigen sind, im wesentlichen die der UdSSR, daß wir diese Staaten jetzt als deformierte Arbeiterstaaten betrachten müssen.

Anders als die Sowjetunion, das Produkt einer authentischen sozialistischen Revolution, die schiefgegangen sei, und deshalb ein degenerierter Arbeiterstaat sei, seien die stalinistischen Regimes in Osteuropa deformiert geboren gewesen. So:

Es hat sich herausgestellt, daß die revolutionäre Tätigkeit der Massen nicht eine erforderliche [unbedingt notwendige] Bedingung ist, die von der Bürokratie gebraucht wird, um den Kapitalismus unter außergewöhnlichen und analogen Bedingungen und in einer internationalen Atmosphäre wie die des „kalten Kriegs“ zu zerstören. (Fourth International 1969a: 54-5)

Da eine wichtige Überlegung, worum es bei der Ziehung dieses Schlusses ging, der Wunsch nach der Behaltung der Integrität der Trotzkischen Analyse der UdSSR, deuteten die Befürworter dieses Schritts schnell darauf hin, daß er sich die Möglichkeit vorgestellt habe, daß die stalinistische Bürokratie selbst den Kapitalismus abschaffen könnte. (s. z.B. Hansen 1969: 30-2) Nach der sowjetisch-deutschen Verteilung Pollens September 1939 sagte Trotzki voraus:

In den Gebieten, die Teil der UdSSR werden sollen, wird die Moskauer Regierung die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Verstaatlichung der Produktionsmittel durchführen. Diese Variante ist höchstwahrscheinlich, nicht weil die Bürokratie dem sozialistischen Programm treu bleibt, sondern weil es nicht dazu gewillt oder fähig ist, die Macht und die mit der letzteren verbundenen Privilegien in den besetzten Gebieten mit den alten herrschenden Klassen zu teilen. (Trotzki 1973c: 18)

Trotzki verglich „diese Maßnahme, im Wesen revolutionär – ‚die Enteignung der Enteigner‘“ – aber „ in einer bürokratisch-militärischen Weise erreicht“, mit der Abschaffung der Leibeigenschaft in Polen durch die Besatzungskräfte Napoleons. Die sozialistische Revolution man offenbar wie die bürgerliche Revolution von oben auferlegen. Trotzki ging trotzdem weiter, um diese Beurteilung einzuschränken:

Das wesentliche politische Kriterium für uns ist nicht die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse in diesem oder jenem Gebiet, wie wichtig auch immer diese an sich sein mögen, sondern vielmehr die Änderung des Bewußtseins und der Organisation des Weltproletariats, die Erhöhung seiner Fähigkeit, alte Errungenschaften zu verteidigen und neue zu schaffen. Von diesem einen und dem einzigen entscheidenden Standpunkt behält die Politik von Moskau im ganzen betrachtet völlig ihren reaktionären Charakter und bleibt das wichtigste Hindernis auf dem Weg zur Weltrevolution. (Trotzki 1973c: 18)

Diese Passage hebt die Schwierigkeit hervor, worin die Gleichsetzung Trotzkis eines Arbeiterstaats mit einer verstaatlichten Wirtschaft seine „orthodoxen“ Erben ließ. Sein Ziel war die Art Revolution, die von Marx und Lenin vorgestellt wurde und die mindestens für eine kurze Zeit in 1917 stattfand, worin die Arbeiterklasse das alte Staatsapparat zerstörte und es durch eins ersetzte, das unter der direkten und demokratischen Kontrolle der Arbeiter war. Aus dieser Perspektive seien „das Bewußtsein und die Organisation des Weltproletariats ... der einzige entscheidende Standpunkt“, wovon der Stalinismus als „reaktionär“ verurteilt werde. Aber wenn die russische Bürokratie „die Enteigner enteignen“ könnte, nicht nur in Teilen Polens sondern überall in Osteuropa, war das doch bestimmt nicht von größerer Bedeutung praktisch für diejenigen, die den Kapitalismus loswerden wollten, als das vielleicht utopische Streben nach dem Sozialismus von unten? Trotzki tendierte selbst als Reaktion auf Kritiken seine Analyse der UdSSR dazu, den klassischen Begriff des Arbeiterrats, die sich auf der sowjetischen Demokratie und dem offenen Wettbewerb zwischen Parteien beruhe, als eine „Norm“ zu beschreiben, wovon das Stalinregime eine unter bestimmten historischen Umständen verursachte Abweichung sei. (s. z.B. Trotzki 1976b: 60-71) Aber Trotzki, ein guter Student von Hegel und Marx, folgte ihnen in der Ablehnung der Unterscheidung zwischen Werten und Fakten. (Trotzki u.a. 1973) Die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse könnte sich wohl als nichts mehr als eine Norm beweisen, die man nicht verwirklichen könnte, und deshalb als politisch nebensächlich.

Pablo zog zwar die 4. Internationale in diese Richtung Anfang der 1950er Jahre. Die Verstärkung des Konflikts zwischen dem Ostblock und dem Westblock, der sinnen Höhepunkt 1950 erreichte mit dem Ausbruch eines begrenzten „heißen“ Kriegs in Korea, stellte einen Dritten Weltkrieg fest auf die Tagesordnung. Pablo argumentierte, dieser wäre „ein internationaler Bürgerkrieg zwischen dem Weltkapital und der Arbeit (Pablo 1974a: 9), vertreten durch die westlichen Mächten bzw. die stalinistischen Staaten. Diese Aussicht sollten Trotzkisten begrüßen, das der Weltkrieg den „schon initiierten Prozeß der konvulsiven Umwandlung unserer Gesellschaft“ beschleunigen würde, „die sich erst mit dem Triumph des Sozialismus dämpfen läßt“. (Pablo 1974a: 9) Die Tatsache, daß die „Krieg-Revolution“ unter der Führung der Stalinisten passieren könnte, sollte der 4. Internationale nicht zu denken geben, da

die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in den Sozialismus ... wird wahrscheinlich eine ganze historische Periode von etlichen Jahrhunderten dauern und wird inzwischen mit Übergangsformen und -regimes zwischen dem Kapitalismus gefüllt, die notwendigerweise von „reinen“ Formen und Normen abweichen. (Pablo 1974a: 10)

Die Sektionen der 4. Internationale wären am besten plaziert, um die Ereignisse zu beeinflussen, wenn sie die sozialdemokratischen und sogar die stalinistischen Parteien beiträten, da man sie nicht „in der relativ kurzen zwischen heute und dem entscheidenden Konflikt ... zerstören und ersetzen“ könnte und sie außerdem „zentristische Tendenzen entwickeln“ würden, „die für eine ganze Phase der Radikalisierung der Massen und der objektiven revolutionären Prozesse in ihren jeweiligen Ländern führen würden“. (Pablo 1974b: 35) Der Entrismus bedeutete jetzt nicht die Art Überfallsgruppe [Jagdgesellschaft/Jagdgruppe] nach Mitgliedern, die die „französische Wende“ Mitte der 1930er Jahre umgefaßt hatte, sondern den von Pablo genannten „Entrismus sui generis“, ein langfristiges Engagement für die [eine langfristige Beteiligung an den] Massenarbeiterparteien, um die Entwicklung von zentristischen zwischen Reform und Revolution schwankenden Tendenzen zu ermutigen und zu beeinflussen.

Mindestens in ihren praktischen Schlußfolgerungen entsprach diese Politik ganz eng der schon seit einigen Jahren gemachten Praxis der britischen Anhänger des IS. Als Teil eines Prozesses, der effektiv zur Zerstörung der RCP und zur Aufgabe der revolutionären Politik seitens einiger der fähigsten Führer – vor allem Haston –, wurde eine von Gerry Healy geführte Minderheit auf Drängen des IS erlaubt, sich getrennt von der RCP-Mehrheit zu organisieren und der Labour Party beizutreten. Die Ermutigung und Verwirrung der Mehrheit als Ergebnis interner Meinungsverschiedenheiten sowie der Schwierigkeit, eine unabhängige Organisation unter Bedingungen des wirtschaftlichen Aufschwungs und einer Labour-Reformregierung aufrechtzuerhalten, führte sie zwei Jahre später zur Entscheidung, die RCP aufzulösen und der Labour Party beizutreten, wo sie vom IS gezwungen wurde, sich der Autorität von Healy zu unterwerfen [unterordnen]. Healy fing an, den „Club“ (wie die britische Sektion jetzt benannt [bekannt] wurde) von denjenigen mit einem unabhängigen Geist zu säubern, besonders betroffen waren die Anhänger von solchen RCP-Führern wie Grant und Cliff. Dies bewies sich als Anfang einer langen Karriere als Oberhexenjäger des britischen Trotzkismus. Inzwischen veröffentlichten Healy und sein Hauptverbündeter John Lawrence eine entristische Zeitung, Socialist Outlook, in Zusammenarbeit mit linken Labour-Abgeordneten, die übereinstimmen konnten, der Kalte Krieg sei ein einfacher Konflikt zwischen dem „fortschrittlichen Block“ und dem westlichen Imperialismus. (Über den Niedergang und Zerfall der RCP s. Bornstein u. Richardson 1986b: Kap.6 u. 7)

Obwohl die SWP-Führung tief in der Zersplitterung der RCP verwickelt wurde sowie in einer ähnlichen IS-Intervention in Frankreich, die die PCI zu einem vom treuen Pierre Frank geführten Rumpf reduzierte, war Pablos Degradierung der trotzkistischen Bewegung zu einem Anhängsel des Stalinismus zu viel, daß sie sie schlucken konnte. Cannon zitierte ein Mitglied der Chicagoer Ortsgruppe, das fragte: „Wenn es Jahrhunderte des Stalinismus geben wird, was für einen Sinn hat es, wenn ich hinausgehe und zehn Zeitungen an der Straßenecke verkaufe?“ (Cannon 1973a: 80) Wie diese Genossin schrak Cannon vor einer Logik zurück, die anscheinend dem Bestehen unabhängiger trotzkistischer Organisationen jeden Sinn entziehe. Die amerikanische, französische und britische Sektionen wurden verbittert von Auseinandersetzungen gespalten, deren Kernpunkt die Frage des „Pabloismus“ war. Schließlich trennten sich das IS und die SWP voneinander. Cannon und seine britischen und französischen Verbündeten, geführt von Healy bzw. Pierre Lambert bildeten das getrennte Internationale Komitee der Vierten Internationale (IK) im Gegensatz zum von Pablo, Mandel und Frank geführten IS. Die Auflösung des orthodoxen Trotzkismus in sich rivalisierende Möchtegern-“Internationalen“ bewies sich als permanent. Der SWP und dem IS gelang es zwar, einen „Wiedervereinigungskongreß“ Juni 1963 zu organisieren, der das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VSVI) gründete, aber die Titel bewies sich als hohl. Die Versöhnung hatte zur Folge, daß die SWP Healy und Lambert fallenließ. Healys Socialist Labour League (SLL) – später Workers’ Revolutionary Party (WRP) umbenannt – lehnten stark die von der SWP sowie dem IS gemachten Behauptung ab, die kubanische Revolution von 1959 habe einen neuen deformierten Arbeiterstaat gebildet. Die SLL und Lamberts Organisation Communiste Internationaliste (OCI, später PCI) hielten das IK in Gang bis 1971, als sie sich auch stritten und die eigenen getrennten Gruppierungen bildeten. Inzwischen hatte Pablo sich mit Mandel und Frank zerstritten, die nicht genau so viel sozialistisches Potential in der algerischen Revolution sahen wie er. Dem „Vereinigungskongreß“ ging also der Abgang vom einstigen Verbündeten Pablos, dem Argentinier Juan Posadas, voran und Pablo selbst wurde danach ausgeschlossen. Auch die durch die Beseitigung Pablos errungene internationale Neugruppierung bewies sich als eine Art Pyrrhussieg. Seit Ende der 1960er Jahre leidet das VSVI an chronischen Uneinigkeiten, vor allem zwischen einer sich auf den europäischen Sektionen beruhenden und von Mandel geführten Mehrheit und der amerikanischen SWP mit seinen Anhängern.

Dieser Zersplitterungsprozeß – wovon der vorliegende Absatz eine unvollständige und sehr vereinfachte Zusammenfassung ist, wie auch die begleitende graphische Darstellung (Abbildung 1), die seinen Kurs in den USA und Großbritannien verfolgt – soll nicht die Tatsache verbergen, daß alle Teilnehmer an den verschiedenen Auseinandersetzungen bestimmte äußerst wichtige Voraussetzungen teilten, insbesondere den Glauben, daß die UdSSR, China und Osteuropa mit dem Kapitalismus gebrochen und, obwohl in einer bürokratisch deformierten weise, den Übergang zum Sozialismus angefangen hätten. diese Voraussetzungen geben dem orthodoxen Trotzkismus bestimmte wesentliche Merkmale, die seiner unendlichen sektiererischen Unterscheidungen zugrunde liegen, und helfen dabei, sie zu erklären. Diese bilden das Thema des nächsten Kapitels.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.12.2007