Duncan Hallas

 

Trotzkis Marxismus

 

1. Die permanente Revolution

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beschleunigte sich unwiderstehlich die industrielle Revolution, die größte Änderung in der Menschheitsgeschichte seit dem Entstehen des Ackerbaus, in einer kleinen Ecke des Erde, in Großbritannien. Aber die britischen Kapitalisten hatte bald Nachahmer in denjenigen anderen Ländern, wo eine Bourgeoisie die Macht gewonnen hatte oder fast an die Macht gekommen war.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts beherrschte der industrielle Kapitalismus die ganze Welt. Die kolonialen Imperien Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Rußlands, der Vereinigten Staaten, Belgiens, der Niederlande, Italiens und Japans umfaßten bei weitem fast die ganze Erdoberfläche. Jene im Wesen vorkapitalistischen Gesellschaften (China, Persien, das Osmanische Reich, Äthiopien, usw.), die eine nominelle Unabhängigkeit beibehalten hatten, waren doch jeweils von mindestens einer der großen Imperialmächte beherrscht bzw. informell zwischen mehreren Imperialmächten aufgeteilt – der Begriff „Einflußzonen“ druckt die Lage genau aus. Wo noch eine solche „Scheinunabhängigkelt“ bestand, war diese im allgemeinen die Folge des Wettbewerbs zwischen rivalisierenden Großmächten (Großbritannien gegen Rußland in Iran; Großbritannien gegen Frankreich in Thailand; Großbritannien gegen Deutschland – mit Rußland als kleinem Nebenspieler – in der Türkei; Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Deutschland, Rußland, Frankreich, Japan und verschiedene kleinere Bewerber alle gegeneinander in China).

Trotzdem wurden die Länder, die von den entwickelten kapitalistischen Industriestaaten erobert bzw. beherrscht wurden, nicht im allgemeinen in Nachbildungen der verschiedenen „Mutterländer“ verwandelt. Ganz im Gegenteil, sie blieben im großen und ganzen vorkapitalistische Gesellschaften. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung wurde durch Eroberung und Fremdherrschaft geprägt – zutiefst verzerrt –, sie sind keineswegs zu kapitalistischen Gesellschaften geworden.

Marx’ bekannte Beschreibung der Zerstörung der indischen Textilindustrie (wo hochwertige Produkte von selbstständigen Handwerkern hergestellt wurden) durch die Einfuhr von billigen Massenprodukten aus den Fabriken im englischen Lancashire galt immer noch als Beschreibung der allgemeinen Wirkung des westlichen Kapitalismus auf den Teil der Weit, den man heute die „Dritte Welt“ nennt: nämlich Verarmung und gesellschaftlicher Rückschritt.

Dieses Verfahren der „ungleichen und kombinierten Entwicklung“, wie Trotzki es nannte, brachte für die große Mehrheit der Weltbevölkerung nicht nur eine Verhinderung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung mit sich, sondern darüberhinaus einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Niedergang, (in den meisten Fällen gilt das heute noch.). Was nun war (bzw. ist) der Ausweg für die Massen dieser Länder?

Trotzki, als junger 26-Jährige, machte einen tiefgehenden Beitrag zur Lösung dieser Frage. Diese Lösung entstand einerseits aus der Anerkennung der Realitäten der ungleichen Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab, und andererseits aus der marxistischen Analyse der wahren Bedeutung der industriellen Entwicklung: nämlich, daß die materielle Grundlage für eine fortgeschrittene, klassenlose Gesellschaft geschaffen wird und zugleich eine ausgebeutete Klasse (das Proletariat), die fähig ist, sich als herrschende Klasse zu organisieren und dabei Klassen, Klassenkampf und Entfremdung und Unterdrückung aller Art abzuschaffen.

Verständlicherweise entwickelte Trotzki seine Theorie zunächst mit Bezug auf Rußland. Um Trotzkis Beitrag richtig einzuschätzen, müssen wir folglich den ideologischen Hintergrund der Auseinandersetzungen und der Richtungskämpfe untersuchen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts unter den Russischen Revolutionären herrschten. Und nicht nur unter den russischen, denn es gab ja zu jener Zeit eine echte internationale Arbeiterbewegung.

Ist Europa erst organisiert und Nordamerika, so gibt das eine so kolossale Macht und ein solches Exempel, daß die halbzivilisierten Länder ganz von selbst ins Schlepptau kommen; das besorgen allein schon die ökonomischen Bedürfnisse. Welche sozialen und politischen Phasen aber diese Länder dann durchzumachen haben, bis sie ebenfalls zur sozialistischen Organisation kommen, darüber, glaube ich, können wir heute nur ziemlich müßige Hypothesen aufstellen. Nur das eine ist sicher: das siegreiche Proletariat kann keinem fremden Volk irgendwelche Beglückungen aufzwingen, ohne damit seinen eigenen Sieg zu untergraben [1]

So schrieb Engels an Kautsky 1882. Dabei dachte er gar nicht an Rußland. Im Brief erwähnte er Indien, Algerien, Ägypten und „die holländischen, portugiesischen und spanischen Besitzungen“. Seine Haltung ist aber trotzdem typisch für die Strömung, die sich 1889 als II. Internationale bildete. Der Verlauf der politischen Entwicklung würde dem Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung folgen. Die revolutionar-sozialistische Bewegung, die den Kapitalismus zerstören und schließlich die Auflösung der Klassengesellschaft (nach einer Periode der proletarischen Diktatur) herbeibrächte, würde sich zwangsläufig dort zuerst entwickeln, wo der Kapitalismus und dessen unzertrennlicher Begleiter, das Proletariat, zuerst entwickelt hatten.

So sah der politische und geschichtliche Rahmen aus, innerhalb dessen russische Marxisten – wie z.B. die bahnbrechende Gruppe „Befreiung der Arbeit“, die ein Jahr nach Engels’ Brief gegründet wurde – ihre Aufgabe suchen mußten.

Plechanow, dem führenden Kopf der Gruppe, war die Sache klar. In den 80er und 90er Jahren stellte er fest, daß das Rußland des Zarenreichs eine vorkapitalistische Gesellschaft sei, die eine kapitalistische Entwicklung durchlaufen müßte, bevor der Sozialismus auf der Tagesordnung stünde. Die von Marx selbst einmal vertretene Idee, daß Rußland, wenn die Entwicklungen in Europa es erlaubten, die kapitalistische Etappe völlig vermeiden könnte, lehnte Plechanow entschieden ab. Marx hatte sich eine Entwicklung vorgestellt, in der eine Bauernbewegung die Autokratie stürzte und durch das Hegen von traditionellen Elementen des gemeinschaftlichen Besitzes an Land – die in der Form des „mir“ bis in die 80er Jahre tatsächlich noch existierten – den Übergang zum Sozialismus so erreichte.

Plechanow bildete seinen Standpunkt in der Polemik mit den Narodniki und deren „Bauernweg zum Sozialismus“ heraus. Er wurde zum Grundstein des ganzen nachfolgenden russischen Marxismus. Der Kapitalismus entwickelte sich in der Tat in Rußland, das mir sei im Aussterben, ein besonderer „russischer Weg zum Sozialismus“ sei nichts anderes als eine reaktionäre Illusion – das waren die wesentlichen Grundsätze für die folgende Generation russischer Marxisten: für Lenin, dann einige Jahre später für Trotzki, und für alle ihre Sinnesgenossen. Die ersten drei Bände von Lenins Werken bestehen weitgehend eben aus einer Kritik an den Narodniki und aus der Beweisführung, daß der Kapitalismus in Rußland nicht nur unvermeidbar, sondern sogar fortschrittlich sei. Die Iskra-Gruppe, die 1900 gebildet wurde, um aus den einzelnen zerstreuten sozialdemokratischen Gruppen und Kreisen eine einheitliche nationale Organisation zu errichten, ging davon aus, das die industrielle Arbeiterklasse die Basis dieser Organisation sein müßte.

Drei Fragen stellten sich: erstens, wie war das Verhältnis zwischen den politischen Rollen der Arbeiterklasse (noch einer kleinen Minderheit), der Bourgeoisie, und der Bauernschaft (der großen Mehrheit); zweitens, was war folglich der Klassencharakter der bevorstehenden Revolution in Rußland; drittens, wie war das Verhältnis zwischen der Russischen Revolution und den Arbeiterbewegungen der entwickelten Länder im Westen?

Die unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen (wie auch der Streit über das Wesen der revolutionären Partei) bestimmten letztlich grundverschiedene Strömungen unter den russischen Marxisten. Um die trotzkistische Theorie der Permanenten Revolution besser zu verstehen, schauen wir uns jetzt die Antworten kurz an, wie sie nach der 1905er Revolution in ihren entwickelten Formen auftraten.

 

 

Die Menschewiki

Der Standpunkt der Menschewiki kann ungefähr so zusammengefaßt werden: Der Entwicklungsgrad der Produktivkräfte (d.h. die allgemeine wirtschaftliche Rückständigkeit Rußlands zusammen mit einer geringen, jedoch bedeutenden und wachsenden modernen Industrie) bestimme, was politisch möglich sei, nämlich eine bürgerliche Revolution wie die von 1789-94 in Frankreich. Deswegen müsse die Bourgeoisie zur Macht kommen und eine bürgerlich-demokratische Republik errichten, die die Reste der vorkapitalistischen sozialen Verhältnisse wegfegen und das schnelle Wachstum der Produktivkräfte auf kapitalistischer Basis (und somit des Proletariats) ermöglichen werde. Erst dann werde der Kampf um die sozialistische Revolution endlich auf die Tagesordnung kommen.

Die politische Rolle der Arbeiterklasse sei folglich, die Bourgeoisie gegen den Zarismus voranzutreiben. Sie müsse ihre politische Unabhängigkeit behalten, d.h. die Sozialdemokraten dürften keine gemeinsame revolutionäre Regierung mit nichtproletarischen Kräften bilden.

Was die Bauernschaft betrifft: sie habe keine unabhängige Rolle zu spielen. Bei der Unterstützung der im Wesen städtischen bürgerlichen Revolution könne sie allerdings eine revolutionäre Nebenrolle spielen und nach dieser Revolution werde sie jedoch eine mehr oder weniger rasche wirtschaftliche Differenzierung erleben, wobei sich drei Schichten herausbilden würden: eine Schicht kapitalistischer Bauern (die konservativ werde), eine Schicht Kleinbauern, und eine Schicht landloser Landproletarier.

Einen organischen Zusammenhang zwischen der bevorstehenden bürgerlichen Revolution in Rußland und den europäischen Arbeiterbewegungen gebe es nicht. Falls sie vor der Revolution im Westen stattfände, würde die Russische Revolution die Sozialdemokraten im Westen ermutigen, aber nicht mehr.

Eigentlich war der Menschewismus eine ziemlich buntgemischte Tendenz. Einzelne Menschewiki betonten verschiedene Bestandteile dieses Schemas, (das wie hier dargestellt von Plechanow stammt), aber alle akzeptierten seine allgemeinen Umrisse.

Die 1905er Revolution entblößte die grundliegenden Fehler des Schemas. Die Bourgeoisie wollte dabei die ihr zugeschriebene Rolle nicht spielen. Selbstverständlich hatte Plechanow, der die französische Revolution lange und gründlich studiert hatte, nie erwartet, daß die russische Bourgeoisie einen rücksichtslosen Kampf gegen den Zarismus ohne enormen Druck von unten führen würde. Genau wie die Jakobiner-Diktatur 1793-4, die der Höhepunkt der französischen Revolution war, nur durch den gewaltigen Druck der sans culottes, der plebejischen Massen von Paris, zustande gekommen war, so könnte in Rußland die Arbeiterklasse die echte Triebkraft sein, die die politischen Vertreter der Bourgeoisie bzw. einen Teil davon zwingen würde, die Macht zu übernehmen. Aber 1905 und seine Folgen bewiesen, daß es eine robespierresche Tendenz in der russischen Bourgeoisie nicht gab. Sobald sie mit einem echten revolutionären Aufstand konfrontiert wurde, scharte sie sich um den Zaren.

Schon 1898 hatte das Manifest, das für den (gescheiterten) ersten Kongreß der russischen Sozialdemokraten entworfen worden war, festgestellt:

Je weiter man nach Osten in Europa geht, wird die Bourgeoisie politisch, desto schwächer, feiger und gemeiner in politischer Hinsicht wird die Bourgeoisie, und um so größer werden die kulturellen und politischen Aufgaben des Proletariats [2]

Das hatte mit Erdkunde wenig, jedoch mit Geschichte sehr viel zu tun. Wegen der Entwicklung des Industriekapitalismus und somit des modernen Proletariats war die Bourgeoisie überall eine konservative Klasse geworden, sogar in Ländern, wo sich der Kapitalismus noch auf einer embryonischen Stufe befand. In der Tat hatte das Scheitern der Revolution 1848-9 In Deutschland dies schon lange bewiesen.

 

 

Die Bolschewiki

Der Standpunkt der Bolschewiki hatte denselben Ausgangspunkt wie der der Menschewiki. Die bevorstehende Revolution würde und könnte nur eine bürgerliche Revolution sein. Die Bolschewiki wollten sich aber nicht auf einen wie immer gearteten Druck auf die Bourgeoisie verlassen, sie schlugen stattdessen eine andere Lösung vor.

Die Umgestaltung der ökonomischen und politischen Ordnung Rußlands in bürgerlich-demokratischer Richtung ist unvermeidlich und unabwendbar.

So schrieb Lenin in seiner bekannten Broschüre Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution (Juli 1905).

Es gibt keine Kraft auf Erden, die eine solche Umgestaltung verhindern könnte. Aber aus dem Zusammenwirken der vorhandenen Kräfte, die diese Umgestaltung hervorbringen, können sich zweierlei Resultate ergeben. Eines von beiden: 1. entweder endet das Ganze mit einem „entscheidenden Sieg der Revolution über den Zarismus“ oder 2. die Kräfte reichen für einen entscheidenden Sieg nicht aus, und das Ganze endet mit einem Pakt zwischen dem Zarismus und den „inkonsequentesten“ und „eigennützigsten“ Elementen der Bourgeoisie. [...]

Wir müssen uns genau Rechenschaft darüber ablegen, weiche realen gesellschaftlichen Kräfte sich dem „Zarismus“ entgegenstellen und fähig sind, einen „entscheidenden Sieg“ über ihn zu erringen. Die Großbourgeoisie [...] könne diese Kraft nicht sein. Wir sehen, daß sie einen entscheidenden Sieg auch gar nicht wollen. Wir wissen, das sie infolge ihrer Klassenlage zu einem entschlossenen Kampf gegen den Zarismus nicht fähig sind: das Privateigentum, das Kapital, der Grund und Boden sind ein viel zu schweres Bleigewicht an Ihren Füßen, als daß sie einen entschlossenen Kampf führen könnten. Sie brauchen viel zu sehr den Zarismus, seine polizeilichbürokratischen und militärischen Kräfte, gegen das Proletariat und die Bauernschaft, als daß sie die Vernichtung des Zarismus anstreben könnten. Nein, die Kraft, die fähig ist, einen „entscheidenden Sieg über den Zarismus“ zu erringen, kann nur das Volk sein, d.h. das Proletariat und die Bauernschaft. [...]

„Der entscheidende Sieg der Revolution über den Zarismus“ heißt Errichtung der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. [...]

Das kann nur eine Diktatur sein, denn die Verwirklichung der für das Proletariat und die Bauernschaft unverzüglich und unausweichlich notwendigen Umgestaltung wird den erbitterten Widerstand sowohl der Gutsbesitzer als auch der Großbourgeoisie und des Zarismus hervorrufen. [...] Doch selbstverständlich wird das keine sozialistische, sondern eine demokratische Diktatur sein. [...] Sie wird im besten Fall imstande sein, eine radikale Neuverteilung des Grundeigentums zugunsten der Bauernschaft vorzunehmen, einen konsequenten und vollen Demokratismus bis zur Errichtung der Republik durchzuführen, alle asiatischen Wesenszüge und Knechtschaftsverhältnisse im Leben nicht nur des Dorfes, sondern auch der Fabrik auszumerzen, für eine ernsthafte Verbesserung der Lage der Arbeiter, für dle Hebung Ihrer Lebenshaltung den Grund zu legen und schließlich, last not least, den revolutionären Brand nach Europa zu tragen. Ein solcher Sieg wird aus unserer bürgerlichen Revolution noch keineswegs eine sozialistische machen [...] [3]

Der Standpunkt der Menschewiki sei kein einfacher Fehler, behauptete Lenin, sondern der Ausdruck dafür, daß sie nicht bereit seien, die Revolution weiterzuführen. Ihre Entschlossenheit, sich an die bürgerlichen Liberalen zu klammern, müßte zur Lähmung führen. Die Bauernschaft hätte dagegen ein echtes Interesse an der Zerstörung des Zarismus und der Überbleibsels vom Feudalismus auf dem Land. Deswegen sei die demokratische Diktatur – eine provisorische revolutionäre Regierung mit Vertretern sowohl aus der Bauernschaft als auch von den Sozialdemokraten – das angemessene „Jakobiner“-Regime, das die Reaktion niederschlagen und „eine demokratische Republik (mit völliger Gleichheit und Selbstbestimmung für alle Nationen), die Enteignung der Großgrundbesitzer und den 8-Stunden-Tag“ einführen würde. [4]

 

 

Trotzkis Lösung

Wie Lenin lehnte auch Trotzki das Vertrauen auf eine „revolutionäre Bourgeoisie“ entschieden ab. Er machte sich über das Schema der Menschewiki lustig als

eine außerhistorische von Journalisten durch Deduktion und Analogie geschaffene Kategorie [...] da in Frankreich die Revolution zu Ende geführt wurde von den demokratischen Revolutionären, den Jakobinern, so kann folglich die Russische Revolution die Macht nur in die Hände der revolutionär-bürgerlichen Demokratie legen. Nachdem sie so eine unfehlbare algebraische Formel der Revolution festgelegt haben, versuchen sie dann, arithmetische Werte darin einzulegen, die es in der Natur nicht gibt. [5]

Sonst unterschied sich Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, ziemlich viel dem russisch-deutschen Marxisten Parvus verdankte, in jeder Hinsicht von der Position der Bolschewiki.

Erstens und am wichtigsten schloß sie die Möglichkeit aus, daß die Bauernschaft eine unabhängige politische Rolle spielen könnte:

Die Bauernschaft kann keine führende revolutionäre Rolle spielen. Die historische Aufgabe, eine bürgerliche Nation aus ihren Ketten zu befreien, kann die Geschichte dem muschik nicht überlassen. Wegen ihrer Zerstreuung, ihrer politischen Rückständigkeit und vor allem wegen ihrer tiefen inneren Widersprüche, die im Rahmen des kapitalistischen Systems nicht gelöst werden können, kann die Bauernschaft höchstens dem alten Regime einige kräftige Schläge von hinten versetzen, einerseits durch spontane Aufstände auf dem Land, andererseits durch die Verbreitung von Unzufriedenheit in der Armee. [6]

In dieser Frage also teilte Trotzki die Position der Menschewiki Er folgte übrigens hier der Marxschen Einschätzung der französischen Bauernschaft als Klasse.

Da „in der modernen Gesellschaft die Stadt führt“, könne nur eine städtische Klasse eine führende Rolle spielen. Und da die Bourgeoisie nicht revolutionär sei (und das städtische Kleinbürgertum keineswegs fähig sei, die Rolle der sans culottes zu übernehmen)

bleibt allein die Schlußfolgerung übrig, daß nur der Klassenkampf des Proletariats, dessen revolutionärer Führung die Bauernmassen sich unterordnen, fähig ist, „die Revolution zu Ende zu führen“. [7]

Das müsse zu einer Arbeiterregierung führen, die „demokratische Diktatur“ Lenins sei bloß eine Illusion.

Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Gleichgültig, unter welcher politischen Fahne das Proletariat zur Macht gekommen ist, es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen. Als größte Utopie muß man den Gedanken ansehen, das Proletariat könne – nachdem es sich durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Höhe der staatlichen Herrschaft aufgeschwungen hat – selbst wenn es dies wollte, seine Mission auf die Schaffung republikanischer, demokratischer Bedingungen für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie beschränken. [8]

Dies führt aber unmittelbar zu einem Widerspruch. Der gemeinsame Ausgangspunkt aller russischen Marxisten war eben, daß in Rußland sowohl die materielle als auch die menschliche Voraussetzung des Sozialismus – nämlich eine hochentwickelte Industrie und ein modernes Proletariat, das einen Großteil der Bevölkerung ausmachte und das die Organisation und das Bewußtsein einer Klasse „für sich“ (wie Marx es ausdrückte) erreicht hatte – fehlten. Lenin hatte „die unsinnigen, halbanarchistischen Ideen von der unmittelbaren Verwirklichung des Maximalprogramms, von der Eroberung der Macht zum Zweck der sozialen Umwälzung“ nachdrücklich kritisiert.

Der Grad der ökonomischen Entwicklung Rußlands (die objektive Bedingung) und der Grad des Klassenbewußtseins und der Organisiertheit der breiten Massen des Proletariats (die subjektive Bedingung, die mit der objektiven unlöslich verbunden ist) machen eine sofortige vollständige Befreiung der Arbeiterklasse unmöglich. Nur ganz unwissende Leute können den bürgerlichen Charakter der jetzt [in 1905] vor sich gehenden demokratischen Umwälzung ignorieren. [9]

Von einem marxistischen Standpunkt aus gesehen ist Lenins Argumentation tadellos – so lange die Sache ausschließlich auf russischen Boden steht. Angesichts dessen, was seither geschehen ist, sollten wir vielleicht diesen elementaren Punkt nochmal betonen. Der Sozialismus sei für Marx und für alle, die sich zu jener Zeit als seine Anhänger betrachteten, nichts anderes als die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse. Er setze sowohl eine groß angelegte moderne Industrie als auch ein klassenbewußtes Proletariat, das zur Selbstbefreiung fähig sei, voraus.

Und trotzdem war Trotzki davon überzeugt, daß nur die Arbeiterklasse dazu fähig sei, die führende Rolle in der Russischen Revolution zu spielen. Und wenn sie das täte, könnte sie es nicht versäumen, dabei die Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Und dann?

Die revolutionären Behörden werden vor objektiven sozialistischen Aufgaben stehen, doch ihre Lösung wird auf einer bestimmten Etappe durch die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes scheitern. Im Rahmen einer nationalen Revolution gibt es keinen Ausweg aus diesem Widerspruch. Vor der Arbeiterregierung wird von Anfang an vor der Aufgabe stehen: alle Kräfte mit den Kräften des sozialistischen Proletariats Westeuropas zu vereinigen. Nur auf diesem Wege wird seine zeitweilige revolutionäre Herrschaft zum Vorspiel der sozialistischen Diktatur. Die permanente Revolution wird so für das Proletariat Rußlands zur Frage der Klassenselbsterhaltung. [10]

Engels ursprüngliche These über den Verlauf der Weltrevolution wird so auf den Kopf gestellt. Bei Trotzki führt die ungleiche Entwicklung des Kapitalismus zu einer kombinierten Entwicklung, wo ein rückständiges Rußland vorübergehend zur Vorhut einer internationalen sozialistischen Revolution wird.

Die Theorie der permanenten Revolution blieb ein Eckpfeiler des Trotzki’schen Marxismus. Nur in einem wichtigen Punkt änderte Trotzki seine Meinung nach 1917, und zwar in der Frage der revolutionären Partei. Bis 1917 stützte sich seine Theorie vorwiegend auf die Idee von der spontanen Aktivität der Arbeiterklasse. In dieser Periode war Trotzki Gegner des „bolschewistischen Zentralismus“ und in der Praxis lehnte er die führende Rolle der Partei ab. 1917 machte er aber eine volle Wende in dieser Frage und bei seinen anschließenden Anwendungen der Theorie der permanenten Revolution stand die Rolle der revolutionären Partei ständig im Mittelpunkt.

 

 

Die Folgen

Jede Theorie, die sich als wissenschaftlich vorgibt, wird schließlich in der Praxis geprüft. Auf den entscheidenden Beweis muß man allerdings manchmal lange warten, bis lange nach dem Tod des Theoretikers sowie seiner oder ihrer Anhänger und Gegner.

Anders als bei den Naturwissenschaften – wo es in Prinzip immer möglich ist, experimentelle Kontrollen zu organisieren (obwohl es kann sein, daß die technischen Mittel zu ihrer Durchführung nicht immer sofort vorhanden sind) – läßt der Marxismus als Wissenschaft der gesellschaftlichen Entwicklung (sowie eigentlich auch seine bürgerlichen Rivalen, die Möchtegern-Wissenschaften Ökonomie, Soziologie usw.) sich nicht nach irgendwelchem willkürlichen Zeitmaßstab prüfen, sondern nur im Verlauf der historischen Entwicklung und auch dann nur vorläufig.

Der Grund dafür ist einfach genug, obwohl die Folgen äußerst kompliziert sind. „Die Menschen machen ihre eigenen Geschichte,“ sagte Marx, „aber sie machen sie nicht aus freien Stücken.“ Das „freiwillige“ Handeln von Millionen und Zehnmillionen von Menschen, die natürlich selbst historisch bedingt sind und gegen die vom ganzen Verlauf der vorgehenden historischen Entwicklung auferlegten Zwänge (von denen die Millionen normalerweise unbewußt sind) drücken, verursacht Auswirkungen, die viel komplizierter sind, als der weitsichtigste Theoretiker vorhersehen kann. Der Grad des on s’engage, et puis ... on voit (Schlagt zu, und dann sehen wir!), wie Napoleon seine militärische Wissenschaft kurz und treffend beschrieb, muß immer beträchtlich sein für Revolutionäre, die sich an einem bewußten Versuch teilnehmen, den Verlauf der Ereignisse zu gestalten.

Die Russischen Revolutionäre am Anfang des 20. Jahrhunderts waren glücklicher als die meisten. Für sie kam dagegen die entscheidende Prüfung sehr schnell. Im Jahr 1917 traten die Menschewiki, die prinzipiellen Gegner einer Teilnahme an einer nichtproletarischen Regierung, in eine Regierung von Gegnern des Sozialismus ein, um einen imperialistischen Krieg weiterzuführen und die Flut der Revolution zurückzuhalten. Es bewies in der Praxis die von 1905 stammende Vorhersage Lenins, sie seien die „Gironde“ der Russischen Revolution.

Andererseits wandten sich die Bolschewiki, die Befürworter der demokratischen Diktatur und einer provisorischen revolutionären Koalitionsregierung, entscheidend der Machtergreifung durch die Arbeiterklasse zu. Die kurzzeitige „kritische Unterstützung“ einer „Regierung von Kapitalisten“, wie Lenin nach seiner Rückkehr sie nannte, wurde bald unter dem Druck von Lenins Aprilthesen und von revolutionären Arbeitern innerhalb der Partei aufgegeben.

Trotzki sah sich vollends bestätigt, als Lenin – in der Tat, obwohl nicht in Worten – die Perspektive der permanenten Revolution übernahm und ohne weiteres die demokratische Diktatur verwarf.

Allerdings war Trotzki gleichzeitig in der Praxis isoliert und unfähig, eine Wirkung auf dem Verlauf der großen revolutionären Krise von 1917 zu üben, bis er im Juli 1917 seine relativ kleine und überwiegend intellektuelle Anhängerschaft in die bolschewistische Massenpartei führte. Lenins langer hartnäckiger Kampf (den Trotzki seit mehr als einem Jahrzehnt als „sektiererisch“ abgelehnt hatte) für eine Arbeiterpartei frei vom Einfluß der kleinbürgerlichen „Marxisten“ (insofern eine solche Unabhängigkeit durch organisatorische Mittel erreichbar ist) wurde deshalb auch keineswegs weniger glänzend bestätigt. [11]

Bei der zentralen strategischen Frage der Russischen Revolution hatte Trotzkis Annahme sich bestätigt. Trotzki war aber in dieser Situation, wie Cliff zu recht bemerkt, „ein ausgezeichneter General ohne nennenswerte Armee“ [12] Trotzki nahm diese Tatsache zur Kenntnis und vergaß sie nie. Später sollte er schreiben, daß sein Bruch mit Lenin 1903-04 über die Frage der Notwendigkeit einer disziplinierten Partei „der größte Fehler meines Lebens“ gewesen sei.

Durch die Oktoberrevolution übernahm die russische Arbeiterklasse die Macht. Dies geschah in Zusammenhang mit einer steigenden Flut von revolutionären Aufständen gegen die alten Regimes in West- und besonders in Mitteleuropa. Die Perspektive Trotzkis – und nach April 1917 Lenins – ging davon aus, daß wenigstens in „ein oder zwei“, wie Lenin es (wie immer vorsichtig) ausdrückte, entwickelten Ländern die proletarische Revolution auch erfolgreich sein würde.

Es zeigte sich jedoch, daß die Macht der etablierten sozialdemokratischen Parteien (die ab August 1914 sich als konservativ und nationalistisch bewiesen hatten) zusammen mit den Schwankungen und Abweichungen der Führer der „zentristischen“ Massenparteien, die sich zwischen 1916 und 1921 von den Sozialdemokraten abspalteten, beendete in Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien und anderswo die revolutionäre Bewegung vorzeitig, bevor die proletarische Revolution errungen werden konnte, und da, wo sie vorübergehend errungen wurde, bevor sie sich festigen konnte.

Trotzkis Analyse der folgen dieser Tatsachen werden wir später überprüfen. Aber zuerst ist es nützlich, die zweite Chinesische Revolution (1925-27) und sein Ergebnis aus dem Sichtpunkt der Trotzki’schen Theorie zu untersuchen.

 

 

Die Chinesische Revolution 1925-27

Die kommunistische Partei Chinas (die KPCh) wurde im Juli 1921 gegründet. Zu dieser Zeit stieg eine antiimperialistische Stimmung in der Bevölkerung und die Militanz der Arbeiter der Küstenstädte, wo sich die neugeschaffene, aber bedeutende industrielle Arbeiterklasse darum kämpfte, sich zu organisieren.

Winzig und am Anfang nur aus Intellektuellen bestehend, gelang es trotzdem der KPCh nach einigen Jahren, die tatsächliche Führung dieser neuen Arbeiterbewegung zu werden.

China war damals eine Halbkolonie, die informell zwischen britischem, französischen, amerikanischem und japanischen Imperialismus aufgeteilt war. Der deutsche und der russische Imperialismus waren schon vor 1919 durch Krieg und Revolution eliminiert worden.

Jede imperialistische Macht hielt die eigene „Einflußzone“ aufrecht und unterstützte den „eigenen“ regionalen Baron (Freiherren), „Kriegsherren“ oder „nationale Regierung“. So wurde Wu Pei-fu, der wichtigste Kriegsherr in Mittelchina, der die Gebiete entlang den Jangtse-Tal beherrschte, mit Waffen, Geld und „Beratern“ von Großbritannien, der führenden imperialistischen Macht, beliefert. Tschang Tsu-lin, Kriegsherr der Mandschurei, erhielt ähnliche Dienstleistungen von Japan. Kleinere Militärgangster, jeder abwechselnd an der einen oder der anderen imperialistischen Macht geknüpft, herrschten über die Mehrheit des übrigen China.

Kanton und dessen Hinterland stellte teilweise eine Ausnahme zu dieser Regel dar. Hier hatte Sun Yat-sen, Vater des chinesischen Nationalismus, durch ein Programm der nationalen Unabhängigkeit, Modernisierung und sozialen Reformen mit einem „links angehauchten“ Putz eine Art Basis in der Bevölkerung errungen. Suns Partei, die Kuomintang (KMT), war bis 1922 eine ziemlich gestalt- und wirkungslose Gruppe, die von der Duldung des dortigen „fortschrittlichen“ Kriegsherrn abhängig war.

Nach vorbereitende Bestrebungen ab 1922, schlossen die Führer der KMT dann aber ein Abkommen mit der Regierung der UdSSR ab, die 1924 politische und militärische Berater nach Kanton schickte und ab dieser Zeit Waffen lieferte. Die KMT wurde zu einer zentralisierten Partei mit einer einigermaßen kampffähigen Armee. Ab Ende 1922 wurden darüberhinaus KPCh-Kader in die KMT „als Einzelmitglieder“ geschickt. Drei von ihnen wurden sogar zu Vorstandsmitgliedern. Diese Politik, die in der KPCh auf Widerstand gestoßen war, wurde von der Exekutive der Kommunistischen Internationale angeordnet. Die KPCh fand sich in Wirklichkeit an die KMT gebunden.

Dann im Frühsommer 1925 brach eine massive Streikwelle in Schanghai aus. Die Streiks waren zunächst teilweise ökonomischer Natur, wurden aber durch die Repression der ausländischen Truppen und der Polizei schnell politisiert und sie verbreiteten sich zügig durch die Großstädte Mittel- und Südchinas, einschließlich Kanton und Hongkong. Bis 1927 existierte diese gewaltige aufständische Massenbewegung in den Städten durch eine Reihe von Höhepunkten und Rückschlägen. Zu verschiedenen Zeiten bestand sogar ein Zustand der Doppelherrschaft – die von der KPCh geführten Streikkomitees stellten eine zweite Regierung dar. Gleichzeitig fanden in einer Reihe wichtiger Provinzen Bauernaufstände statt. Die Regimes der Kriegsherren wurden in ihren Grundfesten erschüttert. Mit Hilfe der KPCh versuchte die KMT mit dem Sturm zu reiten [das Gewitter über sich ergehen zu lassen], und dann versuchte ihn auszunutzen, um so ohne echte soziale Änderungen die Macht auf nationaler Ebene zu erobern. Im Frühjahr 1926 wurde die KMT als sympathisierende Partei in die Komintern aufgenommen!

Trotzki war zu dieser Zeit noch Mitglied des Politbüros der russischen Partei, aber von jedem direkten Einfluß auf ihre Politik ausgeschlossen. Deutscher zufolge forderte er den Abzug der KPCh aus der KMT schon im April 1926. [13] Seine erste wesentliche schriftliche Kritik erschien im September 1926:

Seit 1925 ist der revolutionäre Kampf in China in eine neue Phase eingetreten, die vor allem durch die aktive Beteiligung von breiten Schichten des Proletariats gekennzeichnet ist. Gleichzeitig brechen die Handelsbourgeoisie und die mit ihr verbundenen Elemente der Intelligenz nach rechts ab, sie nehmen eine feindselige Haltung gegenüber Streiks, Kommunisten und der UdSSR ein. Es ist ganz offensichtlich, daß im Licht dieser neuen Tatsache die Frage einer Korrektur im Verhältnis zwischen der KPCh und der KMT unbedingt neu gestellt werden muß ...

Die Bewegung der Massen der chinesischen Arbeiter nach links ist eine genauso unbestreitbare Tatsache wie die Bewegung der chinesischen Bourgeoisie nach rechts. Insofern die KMT auf dem politischen sowie organisatorischen Zusammenschluß der Arbeiter und der Bourgeoisie ruht, muß sie jetzt durch die zentrifugalen Tendenzen des Klassenkampfes auseinandergerissen werden ...

Die Beteiligung der KPCh in der KMT war völlig richtig in der Periode, in der die KPCh nicht mehr als ein Propagandaverein war, der sich lediglich auf eine künftige selbständige politische Tätigkeit vorbereitete, der aber gleichzeitig am laufenden nationalen Befreiungskampf teilnehmen wollte.... Das gewaltige Erwachen des chinesischen Proletariats, dessen Kampflust und unabhängiges Organisieren, das sind jetzt alles unverkennbar nackte Tatsachen ... Die unmittelbare Führung der sich bewußt werdenden Arbeiterklasse zu erkämpfen – selbstverständlich nicht mit dem Ziel, die Arbeiterklasse aus dem nationalrevolutionären Kampf zu entfernen, sondern vielmehr um dafür zu sorgen, daß sie die Rolle nicht nur des entschlossensten Kämpfers, sondern auch der politischen Führung mit Hegemonie im Kampf der chinesischen Massen übernimmt ...

Zu glauben, daß das Kleinbürgertum durch kluge Manövrierung oder guten Rat innerhalb der KMT gewonnen werden kann, das ist reine Utopie. Die KPCh wird besser in der Lage sein, direkten oder indirekten Einfluß auf das städtische und ländliche Kleinbürgertum zu üben, je stärker sie in sich wird, d.h. je mehr die Partei die Arbeiterklasse für sich gewonnen hat. Das ist aber nur auf der Basis einer unabhängigen Klassenpartei und Klassenpolitik möglich. [14]

Dieser Vorschlag war für Stalin und seine Anhänger absolut unannehmbar. Denn ihre Politik war, sich um jeden Preis an der KMT zu klammern und die KPCh dazu zu zwingen, sich zu unterwerfen. Auf diese Weise wollte Stalin gewährleisten, daß ein zuverlässiger Alliierter der UdSSR in Südchina weiterbestünde, der vielleicht langfristig sogar die Macht auf nationaler Ebene übernehmen könnte.

Die theoretische Rechtfertigung dieser Politik war eine Neuauflage der These der demokratischen Diktatur. Die chinesische Revolution sei eine bürgerliche und deswegen, so hieß die Argumentation, müsse das Ziel sein, eine demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft zu errichten. Um den Arbeiter/Bauern-Block aufrechtzuerhalten, müsse die Bewegung sich auf „demokratische Forderungen“ beschränken. Die sozialistische Revolution stehe nicht auf der Tagesordnung. Die Schwierigkeit bestand darin, daß die KMT offensichtlich keine Bauernpartei war. Dagegen wurde argumentiert, sie sei eine Partei, die einen Block von 4 Klassen (Bourgeoisie, das städtische Kleinbürgertum, Arbeiter und Bauern) in sich vereinige.

Was bedeutet das überhaupt – ein Block der vier Klassen? Seid ihr jemals früher diesem Ausdruck in marxistischer Literatur begegnet? Wenn die Bourgeoisie die unterdrückten Massen unter der bürgerlichen Fahne führt und durch diese Führerschaft die Staatsmacht gewinnt, dann ist das kein Block, sondern die politische Ausbeutung der unterdrückten Massen durch die Bourgeoisie. [15]

In Wahrheit würde die Bourgeoisie vor den Imperialisten kapitulieren. Deshalb würde die KMT zwangsläufig eine reaktionäre Rolle spielen.

„Die chinesische Bourgeoisie ist realistisch genug, und auch mit dem internationalen Imperialismus genügend bekannt, um zu verstehen, daß ein wirklich ernster Kampf gegen diesen, einen solchen Umwälzung der revolutionären Massen erfordert, daß dieser sie selbst bedrohen würde. [...] Wenn wir die Arbeiter Rußlands vom ersten Schritt ab gelehrt haben, an die Bereitwilligkeit und an die Fähigkeit der kleinbürgerlichen Demokratie, den Zarismus zu stürzen und die Leibeigenschaft abzuschaffen, nicht zu glauben, so hätten wir dieses Gefühl des Mißtrauens in nicht geringerem Maße auch den chinesischen Arbeitern einimpfen sollen. Die neue, ganz falsche Theorie Stalin-Bucharins von der „innewohnenden“ revolutionären Einstellung der Kolonialbourgeoisie ist im wesentlichen eine Übertragung des Menschewismus in die Sprache der chinesischen Politik. [...] [16]

Das Ergebnis ist wohlbekannt. Im März 1926 führte Tschiang Kai-schek, Militärchef der KMT, seine erste Offensive gegen die Linke in Kanton durch. Unter dem Druck Rußlands fügte sich die KPCh. Als Tschiangs Armee ihre „Nord-Expedition“ unternahm, wurden die Kräfte der Kriegsherren durch eine Welle von Arbeiter- und Bauernaufständen zerstört. Die KPCh ihrerseits versuchte dem Block immer treu zu bleiben und „Ausschreitungen“ zu verhindern. Bevor Tschiang im März 1927 in Schanghai einmarschierte, waren die Kriegsherren durch zwei Generalstreiks und einen von der KPCh geführten Aufstand schon besiegt. Tschiang befahl die Entwaffnung der Arbeiter und die KPCh lehnte es ab, Widerstand gegen ihn zu leisten. Folglich wurde sie selbst im April niedergemetzelt, und die Arbeiterbewegung wurde enthauptet. Danach spaltete sich die KMT, da die zivilen Führer (mit Recht) fürchteten, daß Tschiang eine Militärdiktatur errichten wollte. Sie errichteten ihre eigene Regierung in Wuhan (Hankow).

Jetzt verlangte die Komintern, daß die KPCh dieses „linke“ KMT-Regime in Wuhan unterstützen und seine Arbeits- und Landwirtschaftsminister stellen sollte. Der Führer dieses „linken“ Regimes, Wang Tsching-wei, nutzte die Kommunisten eine Zeitlang aus, und dann nach einigen Monaten führte er seine eigene Offensive gegen sie durch. Später führte er die Marionettenregierung der von Japan besetzten Gebiete Chinas. Die KPCh mußte in den Untergrund gehen und verlor rasch ihre Massenbasis in den Städten. Bei jeder entscheidenden Konfrontation hatte sie ihren mit Mühe erworbenen Einfluß dazu benutzt, um die Arbeiter zu überzeugen, daß sie keinen Widerstand gegen die KMT leisten sollten.

Dann machte die KP der Sowjetunion eine Kehrtwendung. Nicht deswegen, weil sie irgendwelche Lehren gezogen hatte, sondern deswegen, weil de Machtkampf innerhalb der Partei eine entscheidende Phase erreicht hatte. Stalin-Bucharins herrschende Gruppe in der Partei brauchte dringend einen Sieg in China, um beim 15. Parteikongreß, der im Dezember 1927 stattfinden sollte, der Kritik der Opposition zu begegnen. (Damals waren schon Bestrebungen im Gang, um die Opposition auszuschließen). Nach wiederholten Kapitulationen vor der KMT wurde die KPCh jetzt gezwungen, einen offenen Putsch vorzubereiten. Heinz Neumann, ein neuer Abgesandter der Komintern, wurde nach Kanton geschickt, wo er Anfang Dezember versuchte, einen Staatsstreich zu inszenieren. Die KPCh hatte noch ernstzunehmende Kräfte im Untergrund: 5.000 Kommunisten, die meisten von ihnen Arbeiter aus der Stadt, nahmen am Aufstand teil. Aber keine politische Vorbereitung, keine Agitation hatte stattgefunden, die Masse der Arbeiterklasse war überhaupt nicht einbezogen worden. Die Kommunisten blieben isoliert. Diese „Kantoner Kommune“ dauerte ungefähr so lange, wie der Aufstand Blanquis 1839 in Paris (zwei Tage), und die Gründe für ihre Niederschlagung waren die gleichen. Der Putsch wurde ohne Rücksicht auf das Niveau des Klassenkampfes und des Bewußtseins der Arbeiterklasse unternommen. Es folgte ein Massaker, noch schlimmer als das in Schanghai im März desselben Jahres. In Kanton hörte die KPCh auf zu existieren.

So wurde die Theorie der permanenten Revolution nochmal bestätigt, nur diesmal durch negative Beweise. Dadurch wurde die imperialistische Herrschaft in China weiter verlängert.

Nehmen wir aber an, daß die KPCh denselben Weg eingeschlagen hätte, wie die Bolschewiki nach dem April 1917. War eine proletarische Revolution wirklich möglich in einem Land, das so rückständig wie China in den 20er Jahren war? Trotzki ließ diese Frage offen:

Die Frage über „nichtkapitalistische“ Wege der Entwicklung Chinas wurde in bedingter Form von Lenin gestellt, für den es ebenso wie für uns eine Binsenweisheit war und ist, daß die chinesische Revolution, ihren eigenen Kräften überlassen, d.h. ohne direkte Unterstützung des siegreichen Proletariats der UdSSR und ohne Unterstützung der Arbeiterklasse aller fortschrittlichen Länder, lediglich mit der Eroberung breitester Möglichkeiten für die kapitalistische Entwicklung des Landes und günstigeren Bedingungen für die Arbeiterbewegung enden kann ... Aber erstens ist die Unvermeidlichkeit des kapitalistischen Weges ganz und gar nicht. bewiesen; und zweitens – und dieses Argument ist für uns unvergleichlich viel aktueller – kann man die bürgerlichen Aufgaben auf verschiedene Arten lösen. [17]

Zu dieser letzten Frage werden wir unbedingt zurückkehren müssen. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts haben eine Reihe Revolutionen stattgefunden von Angola über Kuba und Vietnam bis Sansibar (jetzt Teil von Tansania). Diese Revolutionen waren sicherlich keine proletarischen Revolutionen, aber auch keine bürgerlichen Revolutionen im klassischen Sinne.

Keiner – auch nicht Trotzki – hatte diese Entwicklung vorausgesehen. Die Theorie der permanenten Revolution, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts so entscheidend bestätigt worden war, muß, im Licht dieser späteren Entwicklungen neu untersucht werden. Die Frage werden wir im letzten Kapitel unten wieder aufnehmen.

 

 

Anmerkungen

1. Engels an Kautsky, 12. September 1882, in MEAW, Bd.V, S.525-6.

2. Manifesto of the Russian Social-Democratic Workers’ Party (1898), in R.V. Daniels (Hrsg.): A Documentary History of Communism, New York 1962, Vol.1, S.7.

3. Lenin: Collected Works, Moskau 1960, Bd.9, S.55-7 (Hervorhebung im Originaltext).

4. Lenin: Collected Works, Moskau 1960, Bd.21, S.33.

5. Trotsky, Our differences, in 1905, New York 1972, S.312.

6. ebenda.

7. ebenda, S.313-4.

8. Trotsky: Results and Prospects, in The Permanent Revolution, 1962, S.194-5 (Hervorhebung eingefügt).

9. Lenin: Collected Works , Bd.9, S.28.

10. Trotsky: Our differences, a.a.O., S.317.

11. Der Versuch diese Äußerungen zu rechtfertigen, würde uns zu weit vom beschränkten Ziel dieses Buch führen. Trotskis eigene History of the Russian Revolution (Bde. I u. II, London 1978) sowie T. Cliffs Lenin (Bd.2, London 1976) liefern aus leicht unterschiedlichen Blickwinkeln das entscheidende Beweismaterial.

12. T. Cliff: Lenin,Bd.2, London 1976, S.138.

13. I. Deutscher: The prophet unarmed, London 1959, S.323.

14. Trotsky: The Chinese Communist Party and the Kuomintang, in Leon Trotsky on China, New York: 1976, S.113-5.

15. Trotsky: First speech on the Chinese question, ebenda, S.227.

16. Trotsky: Summary and perspectives of the Chinese revolution, ebenda, S.297.

17. Trotsky: The Chinese revolution and the theses of Comrade Stalin, ebenda, S.162-63.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.3.2001