Duncan Hallas

 

Trotzkis Marxismus

 

2. Die Analyse des Stalinismus

Der Traum einer klassenlosen und wahrhaft freien Gesellschaft und die Hoffnung darauf sind sehr alt. In Europa ist es ab dem 14. Jahrhundert gut in den Fragmenten dokumentiert, die von den Vorstellungen vieler Rebellen und Ketzer übrig bleiben. „Als Adam grub und Eva spann, wer war dann der Edelmann?“ hieß ein Reim, der während des englischen Bauernaufstands 1381 populär war. Und natürlich kann man ähnliche Gedanken im Frühchristentum und im frühen Islam und zu verschiedenen Graden in viel ältere Gesellschaften als diese finden.

Marx führte eine grundsätzlich neue Idee ein. Man kann sie so zusammenfassen: Die Hoffnungen und Träume der fortschrittlichsten Denker und Aktivisten vergangener (vorindustrieller) Generationen, egal wie bewundernswert und für die Zukunft inspirierend, blieben in ihrer eigenen Zeit utopisch, in dem einfachen Sinne, daß sie nicht zu verwirklichen waren. Die Klassengesellschaft, Ausbeutung und Unterdrückung sind unvermeidlich, solange die Entwicklung der Produktivkräfte und die Produktivität der Arbeit (verwandte Begriffe, die aber nicht identisch sind) auf einem ziemlich niedrigen Niveau stehen. Mit dem Wachstum der Industriekapitalismus sind solche Sachen nicht mehr unvermeidlich, vorausgesetzt, daß der Kapitalismus gestürzt wird. Eine klassenlose Gesellschaft, die auf einem relativen Überfluß [1] beruhen würde, ist jetzt möglich. Darüberhinaus ist das Instrument, das eine solche Gesellschaft herbeiführen könnte – das industrielle Proletariat –, durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst geschaffen worden.

Diese Ideen waren bis 1914 geläufig unter Marxisten. Für Revolutionäre der marxistischen Tradition waren sie Selbstverständlichkeiten. Die Gesellschaft, die aus der russischen Oktoberrevolution entstand, war keine freie und klassenlose Gesellschaft. Auch in ihren frühesten Etappen hatte sie weit vom Marxschen Vorstellung einer eines Arbeiterstaates (wie ihn Marx in seiner Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich erklärte) oder vom Leninschen Entwicklung von Marx (wie er sie in seiner Schrift Staat und Revolution erläutert hatte) abgewichen. Ein paar Jahre später wurde daraus eine ungeheuerliche Gewaltherrschaft.

Es wäre schwierig die Bedeutung dieser Tatsachen zu überbetonen. Das Bestehen von zunächst einem und heute einer ganzen Reihe von Staaten, die sich als sozialistisch bezeichnen, die aber tatsächlich abstoßende Karikaturen des Sozialismus sind, muß als wichtigen Faktor für das Überleben des „westlichen“ Kapitalismus gelten.

Rechte Propagandisten behaupten, der Stalinismus, oder etwas ähnliches, sei die unvermeidliche Folge der Enteignung der kapitalistischen Klasse. Die sozialdemokratische Propaganda läuft dagegen darauf hinaus, daß der Stalinismus eine unvermeidbare Folge des „bolschewistischen Zentralismus“ und Stalin der „natürliche Thronfolger Lenins“ sei.

Trotzki machte den ersten ausdauernden Versuch, den Stalinismus, das eigentlich Resultat der Russischen Revolution mit der Methode des historischen Materialismus zu analysieren. Auch wenn man diese Analyse kritisiert – und hier werde ich einige Kritiken ausüben, ist sie doch der Ausgangspunkt aller nachfolgenden ernstzunehmenden marxistischen Analysen des Stalinismus.

 

 

Bürgerkrieg und Kriegskommunismus

Was war die gesellschaftliche Realität Rußlands 1921, als Lenin immer noch Vorsitzender die Rats der Volkskommissare war und Trotzki immer noch der Volkskommissar für Kriegswesen?

In einer Rede zur Unterstützung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) argumentierte Lenin folgendes:

... wenn der Kapitalismus dadurch gewinnt, wird der industrielle Ausstoß wachsen und das Proletariat wird auch wachsen. Die Kapitalisten werden von unserer Politik gewinnen und ein industrielles Proletariat schaffen, das in unserem Lande wegen des Kriegs und der verheerenden Armut und Verfalls declassé [deklassiert] geworden ist, d.h. aus ihrer Klassenbahn [Klassenroutine] gerutscht worden ist, und aufgehört hat, als Proletariat zu existieren. Das Proletariat ist die Klasse, die in der kapitalistischen Großindustrie die materiellen Werte erzeugt. Seitdem die kapitalistische Großindustrie aber zerstört worden ist und die Fabriken stillstehen, ist das Proletariat verschwunden. Es dürfte ab und zu in der Statistik auftauchen, wirtschaftlich ist es aber auseinandergefallen. [2]

Das Proletariat „hat aufgehört, als Proletariat zu existieren“. Was wir dann aus der proletarischen Diktatur, aus dem Proletariat als herrschender Klasse?

Krieg und Bürgerkrieg hatten die russische Industrie – im Vergleich zur westlichen ohnehin schon äußerst schwach – zerstört. Von der Oktoberrevolution bis zur Unterzeichnung des Brest-Litowsker Friedensvertrags („des Räubervertrags“) mit Deutschland im März 1918 stand das revolutionäre Rußland noch gegen Deutschland und Österreich-Ungarn im Krieg. Im folgenden Monat landete die erste der „alliierten“ Interventionsarmeen (die japanische) in Wladiwostok, die sofort in Sibirien einmarschierte. Erst im November 1922 zog sie sich endgültig zurück. In diesen Jahren standen Truppen aus vierzehn verschiedenen ausländischen Armeen (einschließlich der amerikanischen, der britischen und der französischen) auf dem Gebiet der revolutionären Republik. „Weiße“ Generäle wurden bewaffnet, versorgt und unterstützt. Auf dem Höhepunkt der Einmärsche, im Sommer 1919, bestand die sowjetische Republik nur aus dem versorgter Mitte des europäischen Rußlands um Moskau sowie aus einigen wenigen, ständig bedrohten abgelegenen Bastionen. Auch im Sommer 1920, als die „weißen“ Armeen endgültig besiegt worden waren, mußte noch ein Viertel der Vorräte an Getreide an die westliche Armeegruppe, die die polnischen Angreifer bekämpfte, geschickt werden.

Zu dieser Zeit floh die städtische Bevölkerung aufs Land und diejenigen, die zurückblieben, verhungerten. Die Bevölkerung Moskaus wurde fast und die Petrograds (Leningrads) mehr als halbiert. Nur die kriegswichtigen Teile der Industrie wurden aufrechterhalten. Und auch das war nur durch einen grenzenlosen Raubbau an den Produktionsmitteln möglich, d.h. durch die ständige Opferung der produktiven Basis als Ganze, um einen Bruchteil davon funktionsfähig zu erhalten. Unter diesen Umständen zerfiel das russische Proletariat, das schon vor der Revolution nur eine verschwindend kleine Minderheit gewesen war.

Diese Tatsachen sind bekannt, und sind ziemlich detailliert im zweiten Band von E.H. Carrs Werk Die Russische Revolution dargelegt. [3] Bis 1921 stand das gesamte industrielle Ausstoß auf ungefähr einem Achtel des Niveaus von 1913, das im Vergleich zur Gesamtausstoß Deutschlands, Großbritanniens oder der Vereinigten Staaten schon miserabel genug war.

Die Revolution überlebte nur dank der größten Anstrengungen seitens einer revolutionären Diktatur, deren Mobilisierungsfähigkeit die der Jakobiner-Diktatur von 1793 übertraf. Aber sie überlebte auf Kosten einer verwüsteten Wirtschaft. Und sie blieb isoliert. 1921 hatte die revolutionäre Bewegung in Europa sichtbar ihren Höhepunkt schon hinter sich.

Uns interessieren hier die sozialen Folgen dieser Ereignisse. Der sogenannte „Kriegskommunismus“ von 1918-21 war in Wirklichkeit eine Belagerungswirtschaft brutalster und brutalisierendster Art gewesen. Seine wichtigsten Merkmale waren die Zwangsrequisition des Getreides von der Bauernschaft, grenzenloser Raubbau an den industriellen Anlagen, die allgemeine Wehrpflicht und die umfassenden Zwangsmaßnahmen überhaupt, um den Überlebenskrieg zu gewinnen.

Vor dem Weltkrieg war ein beträchtlicher Anteil der Getreideproduktion der Bauern in die Städte umgeleitet worden (direkt oder als Exporten) in der Form von Mieten, Zinsen, Steuern und sonstigen Abgaben an die alten herrschenden Klassen. Das zaristische Rußland war ein wichtiger Getreideexporteur. Nach dem Zusammenbruch des alten Regimes war dieser Weg verschlossen. Die Bauern produzierten jetzt zur Selbstversorgung – oder zum Austausch. Aber weil die Industrie weitgehend zerstört war, gab es so gut wie keine Produkte, die gegen die Lebensmittel der Bauern getauscht werden konnten. Deswegen die Ablieferungspflicht während der Zeit des Kriegskommunismus.

Die Revolution hatte in einem vorwiegend bäuerlichen Land überlebt, weil die Bauernmassen, die von ihr profitiert hatten, sie normalerweise passiv, aber manchmal aktiv unterstützten. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hatten sie kaum mehr etwas von der neuen Gesellschaftsordnung zu gewinnen. Die Aufstände von 1921 in Kronstadt und in Tambow zeigten, daß die Bauernschaft sowie Teile der Überreste der Arbeiterklasse sich gegen das neue Regime wandten.

Ab 1921 nahm die Neue Ökonomische Politik (NÖP) vor allem diese Tatsache zur Kenntnis und führte eine feste Naturalsteuer (die in Getreide erhoben wurde, da Geld unter dem Kriegskommunismus wertlos geworden war) an Stelle der willkürlichen Zwangsbeschlagnahmungen jener Zeit ein. Zweitens ermöglichte sie das Wiederbeleben von privatem Handel und privater Kleinproduktion, Schlüsselindustrien blieben allerdings in den Händen des Staates. Drittens bot sie die Ausbeutung von „Konzessionen“ dem ausländischen Kapital an (allerdings mit wenig Erfolg). Als Viertes und Wichtigstes, führte die NÖP sowohl die strenge Beachtung des Gewinnprinzips in den allermeisten verstaatlichten Industrien ein wie auch eine strenge Finanz- und Geldpolitik, die auf einem Goldstandard ruhte, um einerseits die Währung zu stabilisieren und andererseits die Disziplin des Marktes den verstaatlichten und privaten Unternehmen aufzuzwingen.

Die Maßnahmen, die zwischen 1921 und 1928 eingeführt wurden, brachten tatsächlich eine wirtschaftliche Wiederbelebung, zunächst eine langsame, dann aber eine schnellere, so daß 1926-27 der industrielle Ausstoß das Niveau von 1913 wiedererreicht hatte und in einigen Fällen sogar überstieg. Im Falle der verfügbaren Nahrungsmittel war das Wachstum wesentlich langsamer. Zwar stieg auch hier die Produktion, da aber die Bauernschaft nicht mehr wie 1913 ausgebeutet war, konnte sie einen größeren Teil ihrer Produktion als vor der Revolution selbst verzehren. In den Städten blieben Lebensmittel also noch sehr knapp.

Diese wirtschaftliche Wiederbelebung, die durch kapitalistische bzw. quasikapitalistische Maßnahmen errungen wurde, wurde von entsprechenden sozialen Folgen begleitet.

Die Städte, über die wir herrschten, nahmen ein fremdes Erscheinungsbild an. Wir spürten, daß wir in den Sumpf sanken, paralysiert und korrumpiert ... Geld schmierte den ganzen Apparat, genau wie unter dem Kapitalismus. In den Großstädten erhielten anderthalb Millionen Arbeitslose Unterstützung – Unterstützung, die nicht ausreichte... Vor unseren Augen wurden Klassen wiedergeboren: ganz unten bekamen die Arbeitslosen 24 Rubel im Monat, ganz oben bekam z.B. ein Ingenieur (d.h. die technischen Fachmänner) 800, und dazwischen war der Parteifunktionär mit 222, der aber verschiedene zusätzliche Leistungen umsonst bekam. Es wuchs eine riesige Kluft zwischen dem Wohlstand der Wenigen und dem Elend der Vielen an. [4]

Zahlenmäßig erholte sich wirklich die Arbeiterklasse von ihrem Tiefstand 1921 als Folge der NÖP. Doch politisch erholte sie sich nicht – oder nicht ausreichend, um die neue Macht der Bürokraten, der NÖP-Männer, der Kulaken [5] anzutasten. Dabei spielte die Peitsche der Massenarbeitslosigkeit – viel schlimmer verhältnismäßig im Rußland der 20er Jahre als in der Weimarer Republik – eine Hauptrolle.

 

 

Ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen

Der Verfall der Arbeiterklasse war weit fortgeschritten, als gegen Ende 1920 in der KPR(B) die sogenannte „Gewerkschaftsdebatte“ losging.

Oberflächlich betrachtet hieß die umstrittene Frage: Müssen die Arbeiter sich in Gewerkschaften organisieren, um sich gegen den „eigenen“ Staat zu verteidigen? Auf einer tieferen Ebene ging der Streit um viel grundsätzlichere Fragen.

Existierte noch der Arbeiterstaat von 1918 überhaupt? Die Demokratie des Sowjetsystems war in der Praxis durch den Bürgerkrieg zerstört worden. Die Partei hatte sich von der Notwendigkeit der mehrheitlichen Unterstützung in der Arbeiterklasse „befreit“. Die Sowjets waren bloße Stempel für Parteibeschlüsse geworden. Die Demokratie war innerhalb der Partei durch die Militarisierung und eine „Befehlspolitik von oben“ ersetzt worden.

Die „Arbeiteropposition“ lehnte sich gegen diese Entwicklung auf. Sie forderte „Autonomie“ für die Gewerkschaften, verurteilte die Herrschaft der Partei und verlangte „Arbeiterkontrolle über die Produktion“ (eine Parteiforderung früherer Zeiten). Hätte die Partei diese Maßnahmen durchgeführt, wäre das Regime endgültig am Ende gewesen. Denn die Bolschewiki waren sowohl für die Masse der Überreste der Arbeiterklasse als auch in zunehmendem Maße für die Masse der Bauernschaft, die große Mehrheit der Bevölkerung, deutlich belanglos, falls sie nicht feindlich ihnen gegenüber eingestellt waren. Unter diesen Umständen hätte „Demokratie“ mit Sicherheit zu einer Konterrevolution – und zu einer rechten bürgerlichen Diktatur – führen müssen.

Die Partei war gezwungen worden, sich an die Stelle einer verschwindenden Arbeiterklasse zu setzen. Und innerhalb der Partei hatten die führenden Gremien sich immer häufiger gegen eine wachsende, jedoch uneinheitlichen Mitgliederschaft durchsetzen müssen. (Im Frühjahr 1918 hatte die KPR um die 11.5000 Mitglieder gehabt, im Frühjahr 1919 betrug die Zahl 313.000 und bis Sommer 1921 war sie auf 650.000 gestiegen, aber die Anzahl aktiver Arbeiter in den Betrieben war dagegen immer geringer geworden.)

Die Partei war also Treuhänder, hoffentlich für eine kurze Zeit, für eine Arbeiterklasse geworden, die nicht fähig war, ihre Sache in die eigenen Hände zu nehmen. Gegenüber den gewaltigen, sozialen Kräften, die durch den gesellschaftlichen Verfall, die niedrige und fallende Arbeitsproduktivität sowie durch kulturelle Rückständigkeit freigesetzt wurden, konnte die Partei sich aber auch nicht abschirmen. Als „Treuhänder“ fühlte die Partei sich eigentlich verpflichtet, den Mitgliedermassen ihre Kontrolle über den Lauf der Ereignisse abzunehmen – da diese auch die Rückständigkeit Rußlands und den Verfall der Arbeiterklasse widerspiegelten.

Für Trotzki war der Ausweg aus dieser Zwickmühle zunächst, dem Kurs des Stellvertretertums mit Entschlossenheit und ohne Abweichung weiter zu folgen. Am X. Parteitag im März 1921 sagte er:

Man muß bei uns jetzt das Bewußtsein des historischen Geburtsrechts der Partei schaffen. Die Partei ist verpflichtet, ihre Diktatur zu behaupten, ohne Rücksicht auf ein zeitweiliges Schwanken in der spontanen Massenstimmung, ohne Rücksicht auch auf die vorübergehende Schwankungen in der Arbeiterklasse. Dieses Bewußtsein ist für uns das unerläßliche einigende Element. [6]

Aus dieser Begründung zog Trotzki den Schluß, daß die Gewerkschaften in den Staatsapparat eingegliedert werden sollten (was später unter Stalin tatsächlich, wenn auch nicht formal geschah). Es gebe weder Notwendigkeit noch Rechtfertigung für die Autonomie der Gewerkschaften, sie dienten so nur als Sammelbecken der Unzufriedenheit statt als Werkzeug der Parteiherrschaft.

Lenins Argumente gegen diese Position im Dezember 1920 und wieder im Januar 1921 sind für die spätere Entwicklung der Trotzki’schen Analyse der UdSSR wichtig. Sie wurden nachträglich ihre Grundlage.

Der Genosse Trotzki spricht vom „Arbeiterstaat“. Mit Verlaub, das ist Abstraktion. Als wir 1917 vom Arbeiterstaat schrieben, war das verständlich; sagt man aber jetzt zu uns: „Wozu und gegen wen soll die Arbeiterklasse geschützt werden, wo es doch keine Bourgeoisie gibt, wo wir doch einen Arbeiterstaat haben“, so begeht man offensichtlich einen Fehler. Der springende Punkt ist, daß die neue Republik nicht ganz ein Arbeiterstaat ist. Genau da macht Genosse Trotzki einen seiner wichtigsten Fehler. [7]

Nur ein Monat später schrieb er.

Was ich hätte sagen sollen, ist: Ein Arbeiterstaat ist Abstraktion. Was wir eigentlich haben ist ein Arbeiterstaat mit diesen Besonderheiten, erstens nicht die Arbeiterklasse, sondern die Bauernbevölkerung ist in der Überzahl, und zweitens ist er ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen. [8]

Ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen in einem Land, wo die Bauernschaft die überwiegende Mehrzahl bildete, – so sah die Sowjetrepublik in Wirklichkeit 1921 aus. Während der nächsten Etappe, der Zeit der NÖP, übernahm Trotzki diese Analyse und baute sie inhaltlich aus. Es ist nicht nötig, das Schicksal der Linken Opposition (1923) und der nachfolgenden Vereinigten Opposition (1926-27) ausführlich zu schildern. [9] In beiden spielte Trotzki eine führende Rolle. Es genügt, ihre wichtigsten Standpunkte zusammenzufassen.

Die Linke und die Vereinigte Opposition kämpften um die Demokratisierung der Partei, die Zügelung ihres Apparates und einen Industrialisierungsplan, die durch Druck auf von der NÖP-Politik neureich gewordenen Mittelbauern (Kulaken) und Händlern finanziert werden sollte, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, so die Arbeiterklasse wirtschaftlich und politisch zu fördern und die Grundlage der Sowjetdemokratie wiederherzustellen.

Die materielle Lage des Proletariats des Landes muß absolut und relativ verstärkt werden (Vergrößerung der Zahl der beschäftigten Arbeiter, Herabsetzung der Zahl der Arbeitslosen, Verbesserung der materiellen Lage der arbeitenden Klasse)

So lauteten die Forderungen der Plattform der Opposition.

Das chronische Zurückbleiben der Industrie und ebenso des Transportwesens, der Elektrisierung und des Bauwesens hinter den Anforderungen und Bedürfnissen der Bevölkerung hält den ganzen Wirtschaftskreislauf des Landes wie in einem Schraubstock fest. [10]

Der innere Widerspruch dieser Position war: einerseits würde die Demokratisierung der Partei der sowohl bäuerlichen wie auch proletarischen Unzufriedenheit einen organisierten Ausdruck geben; andererseits würde ein verstärkter staatlicher Druck auf die Neureichen (vor allem auf die reicheren Bauern) dieselben gewaltigen Spannungen wiederbeleben, die unter dem Kriegskommunismus geherrscht und schon die Partei dazu gezwungen hatte, alle legale Opposition außerhalb der Partei zu unterdrücken und dann Opposition innerhalb der Partei auszuschalten und die Diktatur des Apparates einzuführen.

Das machte nichts, da das Programm der Opposition nie unter Beweis gestellt wurde.

Nicht einfach die Wirtschaft sondern auch die Opposition selbst war „wie in einem Schraubstock“ festgehalten. Ihr Programm war eine Herausforderung für die drei Klassen (die Bürokraten, die NÖP-Leute und die Kulaken), die Vorteile aus der NÖP zogen. Die Voraussetzung für den Erfolg der Opposition war das Wiederbeleben sehr Selbständigkeit der Arbeiterklasse, die ihre einzige Unterstützung hätte sein können. Aber gerade die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der NÖP erschwerten der Reihe nach ein solches Wiederbeleben enorm, es sei denn, daß die Revolution sich auf andere Länder ausbreitete.

Stalin, Führer und Sprecher der konservativ gewordenen Schicht von Partei- und Staatsfunktionären, die in der Praxis das Land jetzt beherrschten, lehnte heftig sowohl die Forderung nach einem Industrialisierungsplan als auch die nach einer Demokratisierung der Partei und der Gesellschaft ab. Dabei wurde er vom rechten Flügel der Partei, vor allem von Bucharin und dessen Anhängern, unterstützt.

Das war der soziale Inhalt der Politik des „Sozialismus in einem Land“, die von der herrschenden Gruppe ab 1925 befürwortet wurde. Dies war nichts anderes als eine Erklärung für das Beibehalten des Status quo und gegen neue soziale „Umwälzungen“ aller Art, gegen weitere revolutionäre Erwartungen und gegen eine aktive Förderung der Revolution im Ausland.

Im April 1924 hatte Stalin die noch allgemein akzeptierten Standpunkte zusammengefaßt:

Zum Sturze der Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes – davon zeugt die Geschichte unserer Revolution. Zum endgültigen Siege des Sozialismus, zur Organisierung der sozialistischen Produktion genügen nicht die Anstrengungen eines Landes, zumal eines Bauernlandes wie Rußland, dazu sind die Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder notwendig. [11]

Das war lediglich die Umformulierung einer Aussage Lenins, einer Aussage über die wirtschaftlichen und sozialen Realitäten. Diese orthodoxe Ansicht war einmal das Gemeineigentum russischer Marxisten aller Tendenzen. Sie hatte aber (für die regierende Clique) den Nachteil, daß sie den vorübergehenden Charakter des herrschenden Regimes unterstrich und die Abhängigkeit einer weiteren sozialistischen Entwicklung von Revolutionen im Westen aufzeigte. Für die herrschende Schicht war sie folglich nicht mehr brauchbar. Mit ihrem Schlagwort „Sozialismus in einem Land“ erklärte sie ihre Unabhängigkeit von der Arbeiterbewegung.

Nach der endgültigen Niederlage der Opposition in der Partei und nach seiner eigenen Verbannung aus Rußland faßte Trotzki im Februar 1929 die Erfahrung in einem Artikel zusammen:

... nach der Machteroberung löste sich eine eigenständige Bürokratie aus dem Arbeitermilieu und diese Trennung, die anfänglich nur eine funktionelle, wurde später zu einer sozialen Trennung. Auf der Grundlage der Neuen Ökonomischen Politik entstand wieder oder neu in den Städten eine breite Schicht des Kleinbürgertums und auf dem Land tauchte der reiche Bauer, der Kulak auf. Breite Teile des Beamtentums, das sich jetzt über die Massen erhoben hatte, rückten den bürgerlichen Schichten näher und verbanden sich mit ihnen durch familiäre Beziehungen. Zunehmend wurde Initiative oder Kritik seitens der Massen als Einmischung betrachtet ... Die Mehrheit dieses sich über die Massen erhobenen Beamtentums ist stockkonservativ ... Diese konservative Schicht, die Stalins mächtigste Stütze in seinem Kampf gegen die Opposition bildet, neigt dazu, wesentlich weiter nach rechts zu gehen, als Stalin und der Hauptkern seiner Fraktion bereit sind. [12]

Die politische Schlußfolgerung dieser Analyse war, daß ein „sowjetischer Thermidor“ drohte: Am 9. Thermidor (27. Juli 1794) wurde die Jakobiner-Diktatur im Konvent gestürzt und durch ein rechtes Regime (das Direktorium von 1795) ersetzt, das eine politische und soziale Reaktion leitete und den Weg für die Diktatur Bonapartes (ab 1799) bahnte. Mit Thermidor ging die Große Französische Revolution zu Ende. Ein russischer Thermidor drohe sich jetzt:

Elemente eines Thermidor-Prozesses – freilich auch mit wesentlichen Unterschieden – lassen sich im Lande der Sowjets erkennen. Sie sind bemerkenswert offensichtlicher in den letzten Jahren geworden. Die heutigen Machthaber haben entweder eine Nebenrolle in den entscheidenden Ereignissen der ersten Periode der Revolution gespielt oder waren sogar offene Gegner der Revolution und traten ihr erst dann bei, als sie siegreich wurde. Jetzt dienen sie hauptsächlich als Tarnung für diejenigen Schichten und Gruppierungen, die dem Sozialismus feindlich gesinnt, aber noch zu schwach für einen konterrevolutionären Umsturz sind. Deswegen suchen sie eine friedliche Zurückschaltung nach dem Muster Thermidor auf die Bahn, die zu einer bürgerlichen Gesellschaft führt. Sie versuchen, „den Hügel hinunter mit Bremsen zu rollen“, wie einer ihrer Ideologen es ausdrückt. [13]

So weit sei es jedoch noch nicht gekommen, es müßte auch nicht so kommen. Der Arbeiterstaat sei zwar sehr geschwächt, aber noch lange nicht abgeschafft. Das Ergebnis, Trotzki meinte,

wird durch den Verlauf des Kampfes zwischen den lebendigen sozialen Kräften entschieden. Es werden Fortschritte und Rückschläge geben, deren Dauer weitgehend von der allgemeinen Lage in Europa und überall in der Welt abhängen werden. [14]

Um noch einmal zusammenzufassen: In der Sowjetunion stünden drei wichtige Kräfte einander gegenüber. Erstens die rechten Kräfte, das waren die neukapitalistischen [neokapitalistischen] Elemente, Kulaken, NÖP-Leute, usw. Ihnen diente ein großer Teil des Parteiapparates hauptsächlich als „Tarnung“. Zweitens, die Arbeiterklasse, die durch die jetzt unterdrückte Opposition politisch vertreten gewesen sei. Und drittens, die „zentristische Bürokratie“, die Fraktion um Stalin an der Spitze des Apparats. Diese Kraft sei keineswegs Teil des „Thermidors“, sie habe sich aber weitgehend auf die Thermidoristen gestützt und von links nach rechts geschwankt, um an der Macht zu bleiben.

Sie habe 1923-1928 nach rechts geschwankt, danach folgte der Linksschwenk. 1931 schrieb Trotzki:

Der Kurs von 1928-1931 – sieht man wiederum von den unvermeidlichen Schwankungen und Rückfällen ab – bildet den Versuch der Bürokratie, sich dem Proletariat anzupassen, jedoch ohne auf die prinzipiellen Grundlagen ihrer Politik, und am wichtigsten ohne auf Ihre Allmacht zu verzichten. Der Zickzack-Kurs des Stalinismus beweist, daß die Bürokratie keine Klasse, kein selbständiger historischer Faktor, sondern ein Instrument [Werkzeug], ein Exekutivorgan der Klassen ist. Der Linksschwenk bezeugt, daß, wie weit der vorangegangene Rechtsruck auch ausgeschlagen haben möchte, er sich doch auf dem Fundament der Diktatur des Proletariats entwickelte. [15]

Deswegen bleibe die Arbeiterklasse irgendwie immer noch an der Macht, bzw. sie habe noch die Möglichkeit, die Macht ohne eine tiefgreifende Umwälzung wieder an sich zu reißen.

Die Anerkennung des heutigen Sowjetstaates als eines Arbeiterstaates bedeutet nicht nur, daß die Bourgeoisie nicht anders die Macht erobern kann als durch einen bewaffneten Aufstand, sondern auch, daß das Proletariat der UdSSR die Möglichkeit nicht eingebüßt hat, die Bürokratie wieder zu unterwerfen, die Partei wieder zu beleben, und das Regime der Diktatur zu heilen – ohne neue Revolution, mit den Methoden und auf den Wegen der Reform. [16]

Als Trotzki diese Zeilen schrieb, war die materielle Grundlage für seine Behauptung schon verschwunden. Die „drei-Kräfte“-Analyse war völlig veraltet. In den 20er Jahren war sie ein realistischer, (wenn auch provisorischer) Versuch gewesen, den Verlauf der Entwicklungen in der Sowjetunion einer marxistischen Analyse zu unterziehen.

Die neukapitalistischen [neokapitalistischen] Klassen und ihren Einfluß auf den rechten Flügel der Partei waren 1924-27 tatsächlich vorhanden gewesen. Die schwankende Rolle der herrschenden Fraktion Stalins war tatsächlich zu jener Zeit wie beschrieben. Aber 1928-29 hatte eine grundsätzliche Änderung stattgefunden.

Die NÖP befand sich 1928 mitten in ihrer letzten Krise. Die NÖP-Leute und die Kulaken hatten ein materielles Interesse daran, die NÖP aufrechtzuerhalten und sogar weitere Zugeständnisse an den städtischen und ländlichen Kleinkapitalismus zu erkämpfen. Die führenden Mitglieder der Bürokratie und ihre unzähligen Nutznießer in den niedrigeren Reihen der bürokratischen Hierarchie hatten dagegen kein solches Interesse. Ihr Kerninteresse lag eher darin, die Demokratisierurig der Partei und der Gesellschaft zu verhindern. Ihr Bündnis mit den Kräften des Kleinkapitalismus (und mit der Bucharinschen rechten Flügel der Partei) ging nur darum, die linke Opposition auszuschalten und das politische Wiederbelebung der Arbeiterklasse zu verhindern.

Als aber, nachdem die Opposition vernichtet worden war, die Bürokratie vor einer Offensive der Kulaken – dem „Getreide-Streik“ von 1927-28 – stand, zeigte es sich, daß die materielle Basis der Bürokratie nicht das Privateigentum, sondern das Staatseigentum und der herrschende Staatsapparat war. Weder das eine noch das andere stand in irgendwelchem organischen Zusammenhang mit der NÖP. Gegen den Bündnispartner von gestern verteidigte sie jetzt verbissen ihr eigenes Interesse.

Fast all das vermarktbare Getreide – also das, was nach der Selbstversorgung der Bauern übrig blieb – lag in den Händen der Kulaken. (Einer der zuverlässigsten Einschätzungen zufolge lieferte etwa ein Fünftel der Bauern vier Fünftel des Getreides, das auf dem Markt verkauft wurde.) Als sie versuchten, die Preise durch das Zurückhalten und Hamstern von Getreide zu erhöhen, zwang die Bürokratie dazu, Getreide zu beschlagnahmen. Als sie einmal diesen Kurs angefangen hatte, der die Grundlage der NÖP unterminierte, gab es kein Zurück. Sie wurde dazu gezwungen, das Industrialisierungsprogramm der Opposition anzueignen, und ging noch weit darüber hinaus. Sie unternahm die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, „die Liquidierung der Kulaken als Klasse“. Der erste „5-Jahres-Plan“ wurde ins Leben gerufen.

Trotzki verstand diese Entwicklung als einen (vorübergehenden) Linksschwenk seitens der stalinistischen Bürokratie, als einen Versuch, „sich dem Proletariat anzupassen“. Dabei irrte er sich vollständig. Dies war ja die Zeit, in der das Proletariat in der Sowjetunion politisch und gewerkschaftlich endgültig entrechtet und einer totalitären Gewaltherrschaft unterworfen wurde.

Zwar stiegen die Geldlöhne, aber die Preise stiegen umso schneller. 1929 hörte man auf, sinnvolle Statistiken zu veröffentlichen – für sich schon eine vielsagende Tatsache –, aber viel später (1966) rechnete ein sowjetischer Historiker aus, daß, wenn man die Reallöhne von 1928 mit einem Wert von 100 beziffert, das Niveau 1932 auf 88,6 gesunken war. „Das wirkliche Lohnniveau, wenn wir es nur wüßten, müßte wesentlich niedriger gewesen sei,“ fügt Alex Nove, die Quelle dieser Information, hinzu. [17]

Der 5-Jahres-Plan leitete eine Periode der Regulierung der Wirtschaft nach einem Gesamtplan ein. Gekennzeichnet wurde er von einem schnellen industriellen Wachstum, der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, der Zerstörung der übriggebliebenen politischen und gewerkschaftlichen Rechte der Arbeiterklasse, dem zügigen Abbau sozialer Gleichheit, äußerster sozialen Spannung und massenhafter Zwangsarbeit. Jetzt fing auch die persönliche Diktatur Stalins an mit seinem Regime des Polizeiterrors und kurz danach ordnete er die systematische Ermordung – durch Erschießung oder den langsamen Tod in den Lagern – der überwiegenden Mehrzahl der ursprünglichen Kader der Kommunistischen Partei, seine eigene Fraktion der 20er Jahre auch eingeschlossen, an. Eine sehr große Zahl sowjetischer Bürger sowie viele ausländische Kommunisten wurden in dieser Zeit aus politischen Motiven umgebracht. Kurz gesagt, leitete er den Höhepunkt des Stalinismus ein.

Daß Trotzki das alles am Anfang als einen Linksschwenk betrachten konnte (obwohl er erst einige Jahre später die ganze Wahrheit erfuhr), zeigt doch, wie weit sein Verständnis der Entwicklungen in der Sowjetunion vom Denken in den Kategorien des Stellvertretertums beeinflußt war. Es war ein Fehler, den er nie richtig ausradieren konnte. Seine Behauptung, daß die Bürokratie kein selbstständiger historischer Faktor sei, sondern ein Instrument [Werkzeug], das Exekutivorgan anderer Klassen, war entscheidend widerlegt worden, als die gleiche Bürokratie gleichzeitig die Kulaken unterwarf und die Arbeiter unterwarf.

Anfang der 30er Jahre war es noch möglich, über die Tatsachen zu streiten. Das neuentstandene totalitäre Regime unterdrückte alle echten Nachrichten und verbreitete stattdessen die Lügen, die sein eigener monolithischer Propagandaapparat erzeugte. Trotzki ließ sich von diesen Lügen weniger betrügen als die meisten anderen. Es waren eher sein theoretisches Konzept und sein theoretischer Rahmen, die ihn dazu brachten, den Weg der „Reform“ in der Sowjetunion zu dieser Zeit zu befürworten. Aus dieser Zeit stammt ein bekannter und zutiefst irreführender Vergleich zwischen der Sowjetunion und einer bürokratisierten Gewerkschaft. Er war mindestens eine logische Folge der Reformstrategie, der Trotzki 1931 noch folgte.

 

 

Der Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus

Im Oktober 1933 änderte Trotzki plötzlich seine Position und stellte ab jetzt fest, daß das Regime nicht mehr reformierbar sei. Es müsse gestürzt werden. Die Reformstrategie sei nicht durchführbar, nur eine Revolution könne die Bürokratie zerstören:

Nach der Erfahrung der letzten Jahre wäre es eine Kinderei zu glauben, daß die Stalinbürokratie mit Hilfe eines Partei- oder Sowjetkongresses abzusetzen wäre. Im Grunde war der 12. Kongreß (Anfang 1923) der letzte Kongreß der bolschewistischen Partei. Die nachfolgenden Kongresse waren bürokratische Paraden. Heute sind auch solche Kongresse abgeschafft. Zur Beseitigung der regierenden Clique sind keine normalen, „konstitutionellen“ Wege geblieben. Die Bürokratie zwingen, die Macht in die Hände der proletarischen Vorhut zu legen, kann man nur mit Gewalt [18]

Die „bürokratisierte Gewerkschaft“ müsse zerschlagen werden, nicht reformiert. Dieser Artikel enthält zwar die Äußerung: „Heute würde der Bruch des bürokratischen Gleichgewichts in der UdSSR würde fast sicherlich zugunsten der konterrevolutionären Kräfte dienen,“ aber bald machte diese zweideutige Position Platz für eine revolutionäre.

Mit seiner ihm typischen Ehrlichkeit kritisierte und revidierte Trotzki jetzt seinen früheren reformistischen Standpunkt. 1935 schrieb er:

Die Frage des „Thermidors“ ist eng mit der Geschichte der Linken Opposition verbunden ... Jedenfalls waren 1926 die Positionen über diese Frage etwa folgende: die Gruppe des „Demokratischen Zentralismus“ (V.M. Smirnow, Sapronow und andere, die von Stalin in die Verbannung und schließlich in den Tod gejagt wurden) erklärte, der Thermidor sei eine vollendete Tatsache. Die Anhänger der Plattform der Linken Opposition ... leugneten diese Äußerung kategorisch ... Wer ist als richtig erwiesen?

Der verstorbene V.M. Smirnow – einer der besten Bolschewiki der alten Schule – hielt, daß der Rückstand bei der Industrialisierung, das Anwachsen des Kulaken und des NÖP-Mannes (der neuen Bourgeoisie), die Verbindung zwischen diesen und der Bürokratie und letztlich die Entartung der Partei, – das sei alles so weit fortgeschritten, daß eine Rückkehr zum sozialistischen Weg ohne eine neue Revolution nicht mehr möglich sei. Das Proletariat habe die Macht schon verloren. ... Die grundsätzlichen Errungenschaften der Oktoberrevolution seien liquidiert worden. [19]

Trotzkis Schlußfolgerung war folgendes:

Der Thermidor der großen russischen Revolution steht nicht bevor, sondern er liegt schon weit hinter uns. Die Thermidoristen können etwa den 10. Jahrestag ihres Sieges feiern. [Das heißt, der Thermidor hatte schon um 1925 stattgefunden.] [20]

Die Demokratischen Zentralisten hatten also 1926 doch Recht gehabt? Trotzki beantwortete diese Frage mit „Jein“. Was den Thermidor betraf, hätten sie Recht gehabt, über seine Folgen aber nicht. „Das gegenwärtige Regime in der Sowjetunion ist ein Regime des sowjetischen Bonapartismus (eigentlich antisowjetisch), enger in seinem Muster an das Imperium als an das Konsulat.“ Aber fuhr er fort: „In ihren sozialen Grundlagen und in ihrer wirtschaftlichen Richtung bleibt die UdSSR ein Arbeiterstaat.“ [21]

Wenn man eine einfache Analogie mit der französischen Revolution macht, ist das alles völlig glaubwürdig. Trotzki wies darauf hin, daß weder die Thermidoristen noch Bonaparte eine Rückkehr zum ancien regime, zum Feudalismus, darstellten, sondern eben eine Reaktion auf der Grundlage der bürgerlichen Revolution. Man kann aber die Tatsache nicht verleugnen, daß sowohl Trotzki als auch Smirnow den „sowjetischen Thermidor“ in einem ganz andern Licht gesehen hatten. „Das Proletariat hat die Macht schon verloren“, war die Kernaussage Smirnows, die Trotzki damals heftig bestritten hatte. Für Trotzki vertrat die Partei, wie bürokratisiert sie auch geworden war, immer noch die Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse könne im Gegensatz zur Bourgeoisie nur durch ihre Organisationen die Macht behalten. 1924 hatte er erklärt:

Genossen, keiner von uns kann oder will gegen die Partei Recht haben. Die Partei hat letzten Endes immer Recht, denn die Partei ist das einzige historische Instrument des Proletariats zur Lösung seiner wichtigsten Aufgaben. [...] Man kann nur Recht haben mit der Partei und durch die Partei, denn die Geschichte hat keinen anderen Weg gewiesen zur Verwirklichung dessen, was Recht ist. Die Engländer sagen: ‚Recht oder Unrecht – mein Vaterland‘ Mit wieviel größerer historischer Berechtigung können wir sagen: Recht oder Unrecht in besonderen Einzelfragen – es ist meine Partei. [22]

Die Partei sei aber inzwischen das Instrument zunächst des Thermidors und zum Schluß des Bonapartismus geworden: Das war Ende 1933 Trotzkis Standpunkt. Da die Partei nicht mehr das Instrument der Arbeiterklasse war –ihr Regime müsse „ mit Gewalt“ gestürzt werden – und da zugegebenermaßen die Arbeiterklasse kein anderes Instrument hatte (eigentlich atomisiert, d.h. zersplittert, und terrorisiert war), was könnte dann von einem Arbeiterstaat übrig geblieben sein?

Gar nichts. Das war die einzig mögliche Schlußfolgerung, sollten die Begriffe ihren bisher anerkannten Inhalt nicht verlieren. Eine neue Revolution, ein „siegreicher revolutionärer Aufstand“ war erforderlich, wenn die Arbeiterklasse die Macht in der UdSSR wieder an sich reißen sollte. Die Arbeiterklasse hatte ja die Macht verloren. Es gab keine friedlichen konstitutionellen Wege für sie, die Macht wieder zu erobern. Den Arbeiterstaat gab es also nicht mehr. Eine Konterrevolution hatte stattgefunden.

Vor dieser Schlußfolgerung wich Trotzki zurück. Deswegen mußte er für den Begriff „Arbeiterstaat“ einen neuen Inhalt finden.

Die soziale Herrschaft einer Klasse (ihre Diktatur) kann äußerst unterschiedliche politische Formen finden. Dies bezeugt die ganze Geschichte der Bourgeoisie vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Erfahrung der Sowjetunion ist schon ausreichend, um eine Erweiterung dieses soziologischen Gesetzes – mit all den notwendigen Änderungen – ebenfalls auf die Diktatur des Proletariats zu ermöglichen. [...] So ähnelt die gegenwärtige Herrschaft Stalins keineswegs der sowjetischen Herrschaft der ersten Jahre der Revolution. [...] Aber diese widerrechtliche Machtergreifung Stalins war nur möglich, weil der soziale Inhalt der Diktatur der Bürokratie durch die Produktionsverhältnisse bestimmt ist, die durch die proletarische Revolution geschaffen wurden. In diesem Sinn können wir mit vollem Recht sagen, daß die Diktatur des Proletariats ihren verzerrten jedoch unzweifelhaften Ausdruck in der Diktatur der Bürokratie fand. [23]

Bis zu seiner Ermordung 1940, also während der letzten fünf Jahre seines Lebens änderte Trotzki diesen Standpunkt nicht wesentlich. In seinem Buch Die Verratene Revolution (1936) baute er seine Analyse theoretisch aus und untermauerte sie mit einer ausführlichen und lebendigen Beweisführung.

Daß dies ein grundsätzlicher Bruch mit seiner früheren Auffassung eines Arbeiterstaates war, läßt sich kaum überbetonen. Es war eine Sache, zu sagen, (wie Lenin) daß ein Arbeiterstaat bürokratisch verzerrt, deformiert, degeneriert [entartet] oder sonst sein könne. Was jetzt behauptet wurde, war etwas Anderes: daß die Diktatur des Proletariats keinen notwendigen Zusammenhang mit wirklicher Arbeitermacht überhaupt zu haben brauche. Der Inhalt des Begriffs „Diktatur des Proletariats“ wurde nun von Trotzki auf die Verstaatlichung der Industrie und die Planwirtschaft reduziert (obschon in der NÖP-Periode vom Planung kaum die Rede sein kann). Ein Arbeiterstaat könne darüberhinaus auch weiter existieren, auch wenn die Arbeiterklasse extrem zersplittert und einer totalitären Gewaltherrschaft unterworfen sei.

Zu Trotzkis Gunsten muß man sagen, daß er es mit einer ganz neuen Erscheinung zu tun hatte. Er, wie die ganze Opposition der 20er Jahre, sah die Gefahr in den steigenden Kräften des Kleinkapitalismus, die das neue Regime zu erwürgen drohten. So hatten sie alle den Begriff „Thermidor“ verstanden. Was tatsächlich passierte, war völlig unerwartet. Nicht das Privateigentum, sondern das Staatseigentum überlebte und dehnte sich sogar sehr rasch aus. Die Bürokratie spielte eigentlich eine selbständige Rolle, was Trotzki nie ganz zugeben wollte. Es entstand ein Regime, das zu jener Zeit einmalig war.

Eine Restauration der Bourgeoisie hatte nicht stattgefunden. Während Im Westen eine tiefe wirtschaftliche Rezession herrschte, fand in der UdSSR außerdem ein zügiges Wirtschaftswachstum statt. Diese Tatsache wiederholte und betonte Trotzki als Beleg für seine These, daß das stalinistische Regime nicht kapitalistisch sei.

 

 

Prognose

In seinem Übergangsprogramm von 1938 schrieb Trotzki:

Die Sowjetunion ist als Arbeiterstaat aus der Oktoberrevolution hervorgegangen. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel hat als notwendige Voraussetzung einer sozialistischen Entwicklung die Möglichkeit eines schnellen Anwachsens der Produktivkräfte eröffnet. Doch hat der Apparat des Arbeiterstaates unterdessen eine völlige Umgestaltung erfahren, aus einem Werkzeug der Arbeiterklasse ist er zum Werkzeug bürokratischer Gewalt über die Arbeiterklasse und je länger desto mehr zum Werkzeug der Wirtschaftssabotage geworden. Die Bürokratisierung eines rückständigen und isolierten Arbeiterstaates und die Verwandlung der Bürokratie in eine allmächtige privilegierte Kaste sind die nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch – überzeugendste Widerlegung der Theorie des Sozialismus in einem Lande.

So schließt die Herrschaftsform der Sowjetunion bedrohliche Widersprüche ein. Aber sie bleibt immer noch die Herrschaftsform eines entarteten Arbeiterstaates. Das ist die soziale Diagnose. Die politische Prognose stellt sich als Alternative: entweder beseitigt die Bürokratie, die immer mehr zum Organ der Weltbourgeoisie in dem Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen und wirft das Land in den Kapitalismus zurück, oder die Arbeiterklasse stürzt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus.

Warum sollte es so sein? Weil Trotzki überzeugt war, daß die Bürokratie instabil und politisch heterogen sei. Sie umfasse Tendenzen aller Art „vom echten Bolschewismus bis hin zum vollständigen Faschismus“, behauptete er 1938. Diese verschiedenen Tendenzen in der Partei bezögen sich natürlich auf lebendige soziale Kräfte, darunter

die bewußten kapitalistischen Tendenzen ..., wie sie vor allem von der begünstigten Schicht der Kolchosen vertreten werden, ... [die] sich eine breite Grundlage für die kleinbürgerlichen Tendenzen zur privaten Anhäufung von Reichtum auf Kosten der allgemeinen Armut und die von der Bürokratie bewußt ermutigt werden. [24]

Innerhalb der Bürokratie wuchsen die Kräfte der Rechten unaufhörlich.

Die faschistischen und allgemein konterrevolutionären Elemente, deren Zahl ständig wächst, bringen in immer klarerer Folgerichtigkeit die Interessen des Weltimperialismus zum Ausdruck. Diese Anwärter auf die Rolle von Kompradoren denken nicht grundlos, daß sich die neue führende Schicht ihre privilegierte Stellung nur durch das Aufgeben der Nationalisierung, der Kollektivierung und des Außenhandelsmonopols im Namen der „Westlichen Zivilisation“, d.h. des Kapitalismus, sichern kann. [...] Über dieses System wachsender Gegensätze, die immer mehr das soziale Gleichgewicht zerstören, hält sich durch Terrormethoden eine thermidorianische Oligarchie, die sich heute in der Hauptsache auf die bonapartistische Clique Stalins beschränkt. [...] Die Vernichtung der Generation der alten Bolschewiki und der revolutionären Vertreter der mittleren und jungen Generation hat das politische Gleichgewicht noch weiter zugunsten des rechten, bürgerlichen Flügels der Bürokratie und ihrer Verbündeten im Lande zerstört. Von daher, d.h. von der Rechten, muß man sich in der nächsten Periode auf immer entschlossenere Versuche gefaßt machen, die Gesellschaftsform der Sowjetunion zu revidieren, und zwar durch ihre Annäherung an die „westliche Zivilisation“, vor allem in ihrer faschistischen Form. [25]

Es ist bemerkenswert, daß zur Zeit der Volksfrontpolitik Stalins Trotzki auf Ähnlichkeiten zwischen dem Stalinismus und dem Faschismus aufmerksam machen sollte.“Stalinismus und Faschismus stellen trotz der tiefen Verschiedenheit ihrer sozialen Unterlagen symmetrische Erscheinungen dar. In vielen Zügen sind sie einander erschreckend ähnlich. [26] So schrieb er im Buch Die Verratene Revolution. Und anderswo: „Ebenso wie in den faschistischen Ländern, von deren politischem Apparat sich der Stalins in nichts unterscheidet, es sei denn durch noch größere Raserei.“ [27] Gemeinsam haben sie ja die Zerstörung jeglicher selbständiger Organisierung und die Zersplitterung (Atomisierung) der Arbeiterklasse. Aber von der „tiefen Verschiedenheit ihrer sozialen Unterlage“ abgesehen, könnte man dann nicht zum Schluß kommen, daß ein faschistischer Arbeiterstaat entstanden war?

Gewichtiger ist aber die Frage der Restaurationstendenzen in der Bürokratie. Dazu führte Trotzki in seinen Schriften um diese Zeit nur das eine Argument an: das des Erbrechtes:

Die Privilegien sind nur halb soviel wert, wenn man sie nicht den Kindern vermachen kann. Doch das Vererbungsrecht ist vom Eigentumsrecht nicht zu trennen. Es genügt nicht, Direktor eines Trusts zu sein, man muß Teilhaber sein. [28]

Das Argument sollte beweisen, daß ein Druck auf die Bürokratie bestünde, ihre eigene Herrschaft in der Sowjetunion zugunsten einer (Junior-)Partnerschaft mit irgendeiner der Imperialmächte (als deren Kompradorenklasse) abzugeben, ähnlich der Situation des Nationalbürgertums in den Kolonialländern. Nach Trotzkis Auffassung war die Sowjetunion immer noch „eine zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehende, widerspruchsvolle Gesellschaft ... Letzten Endes wird die Frage [ob die Widersprüche zum Sozialismus hin oder zum Kapitalismus zurückführen werden] sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene durch den Kampf der lebendigen sozialen Kräfte entschieden werde. [29]

Nur hatte dieser Kampf sich schon in den Jahren vor seinem Tod so entwickelt, daß Trotzkis Analyse in Frage gestellt werden mußte.

 

 

Anmerkungen

1. Der Mensch kann im Weltmaßstab heute mehr produzieren, als er für die eigene Reproduktion, für die Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit, benötigt: ein Mehrprodukt. (Anmerkung des Herausgebers)

2. Lenin: Collected Works, Bd.33, Moskau 1960, S.65-6. (Aus dem Englischen übersetzt)

3. E.H. Carr: Die Russische Revolution, 1980. Insbesondere S.30 u. 63.

4. V. Serge: From Lenin to Stalin, New York 1973, S.39 (aus dem Englischen).

5. Wohlhabendere Bauern (Anmerkung des Herausgebers).

6. zit. aus: I. Deutscher: Trotzki, der bewaffnete Prophet, Stuttgart 1972. S.477

7. Lenin: Ausgewählte Werke, Berlin 1979, S.62. (Check) (Collected Works, Bd.32, Moskau 1960, S.24.)

8. ebenda, S.48.

9. Für eine ausführliche Schilderung s. I. Deutscher: Der entwaffnete Prophet. Insbesondere Kap. 2 u. 5.

10. Die wirkliche Lage in Rußland in Programm und Plattform der linken Opposition, Dortmund 1976, S.65-6.

11. J. Stalin: Zu den Fragen des Leninismus, in Fragen des Leninismus, Berlin 1951, S.170.

12. Leon Trotsky: Where is the Soviet Republic going? in Writings of Leon Trotsky 1929, New York 1975, S.47-8.

13. ebenda, S.50. Übersetzung aus dem Englischen.

14. ebenda, S.51.

15. Probleme der Entwicklung der UdSSR, in Programm und Plattform..., S.208.

16. ebenda, S.219 (Trotzkis Vorhebung).

17. A. Nove: An Economic History of the USSR, Harmondsworth 1965, S.206 (aus dem Englischen).

18. Die Klassennatur des Sowjetstaates, Die vierte Internationale und die UdSSR, Prag 1933, S.18-9.

19. Trotsky: The Workers’ State, Thermidor and Bonapartism, Writings of LeonTrotsky 1934-35. New York 1971. S.166-7.

20. ebenda, S.182 (aus dem Englischen).

21. ebenda.

22. zit. aus: I. Deutscher: Josef Stalin, Bd.1, S.300.

23. The Workers’ State, Thermidor and Bonapartism, a.a.O., S.172-3 (Hervorhebung im Originaltext).

24. ebenda, S.34.

25. ebenda, S.34-5.

26. Trotzki: Die Verratene Revolution, Prag 1936, S.270.

27. Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, S.36.

28. Die verratene Revolution, Prag 1936. S.247.

29. ebenda, S.248.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.3.2001