Duncan Hallas

 

Trotzkis Marxismus

 

3. Über Strategie und Taktik

Das Ziel, eine echte internationale Arbeiterbewegung aufzubauen, ist mindestens so alt, wenn nicht älter als das Kommunistische Manifest mit seinem Aufruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Die Bildung der Ersten Internationale 1864 und die Zweite Internationale 1889 waren konkrete organisatorische Schritte, um dieses Ziel zu erreichen. 1914 brach die Zweite Internationale zusammen als ihre führenden Parteien in den kriegführenden Staaten den Internationalismus verwarfen und die Regierungen des deutschen und des österreichischen Kaisers, des englischen Königs und der bürgerlichen Dritten Republik Frankreichs unterstützten.

Man kann nicht sagen, daß sie von den Ereignissen überrollt wurden. Immer wieder hatten Kongresse der Internationale in der Vorkriegszeit aufgezeigt, wie der Frieden durch Imperialismus und Militarismus gefährdet sei. Dabei hatten sie Standfestigkeit der Arbeiterparteien gegenüber ihren eigenen Regierungen gefordert, damit „sie die durch den Krieg herbeigeführte Krise zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassengesellschaft ausnutzen“ könnten, wie es z.B. in einer Resolution des Stuttgarter Kongresses der Internationale 1907 geheißen hatte.

Die darauffolgende Kapitulation war eine zerschmetternde Niederlage für die sozialistische Bewegung, die Lenin veranlaßte zu erklären: „Die Zweite Internationale ist tot ... es lebe die Dritte Internationale.“ Fünf Jahre später wurde die Dritte Internationale in der Tat gegründet. In deren frühen Jahren spielte Trotzki eine wichtige Rolle.

Später wurde mit dem Aufstieg des Stalinismus in der UdSSR die Internationale im Dienste des stalinistischen Staates in Rußland prostituiert. Keiner bekämpfte diesen Verfall so energisch wie Trotzki. Viele seiner wertvollsten Schriften über Strategie und Taktik der revolutionären Arbeiterparteien beziehen sich auf die Dritte Kommunistische Internationale (Komintern), sowohl auf die Zeit ihres Aufstiegs als auch auf die nachfolgende Zeit ihrer Entartung.

Indem wir Halbheit, Verlogenheit und Fäulnis der überlebten offiziellen sozialistischen Parteien verwerfen, fühlen wir, die in der Dritten Internationale vereinigten Kommunisten, uns als die direkten Fortsetzer der heroischen Anstrengungen und des Märtyrertums einer langen Reihe revolutionärer Generationen, von Babeuf bis Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Wenn die Erste Internationale die künftige Entwicklung vorausgesehen und ihre Wege vorgezeichnet, wenn die Zweite Internationale Millionen Proletarier gesammelt und organisiert hat, so ist die Dritte internationale die Internationale der offenen Massenaktion, die Internationale der revolutionären Verwirklichung, die Internationale der Tat. (1)

Trotzki war 40 Jahre alt und auf dem Gipfel seiner Macht, als er diese Zeilen schrieb, die aus dem Manifest der Kommunistischen Internationale stammen. Als Volkskommissar für das Kriegswesen in der kriegserschütterten Sowjetischen Republik stand er neben Lenin als anerkannter Sprecher des Weltkommunismus.

Seine Ansichten waren natürlich zu dieser Zeit in keinerlei Hinsicht eine Besonderheit. Sie stimmten mit der allgemeinen Auffassung der ganzen bolschewistischen Führung überein. Selbstverständlich gab es in der einen oder anderen Frage deutliche Meinungsunterschiede, im Wesentlichen war man sich aber einig. Trotzki wurde jedoch in späteren Jahren der hervorragende Vertreter der Ideen der Kommunistischen Internationale in ihrer heroischen Periode. Ereignisse, die weder von den revolutionären Führern von 1919 noch von deren Gegnern vorausgesehen werden konnten, führten dazu, daß sich die Zahl der Vertreter der echten, ursprünglichen kommunistischen Tradition bis auf eine Handvoll verringerte. Unter diesen war Trotzki bei weitem der hervorragendste, originellste Kopf.

In seinen Schriften der späten zwanziger und dreißiger Jahre bezog sich Trotzki immer wieder auf die Entscheidungen der ersten vier Kongresse der Komintern, als er nach Vorbildern für eine wahrhaft revolutionäre Politik suchte. Diese Entscheidungen sowie die Umstände, in denen sie getroffen wurden, wollen wir jetzt untersuchen.

 

 

Die heroische Periode (1919-23)

Am 4. März 1919 stimmten im Kreml 35 Delegierte bei einer Enthaltung dafür, die Dritte bzw. die Kommunistische Internationale zu gründen. Es handelte sich keineswegs um eine gewichtige oder repräsentative Versammlung. Nur die 5 Delegierten der russischen Partei (Bucharin, Tschitscherin, Lenin, Trotzki und Sinowjew) vertraten eine Partei, die gleichzeitig wahrhaft revolutionär und eine Massenorganisation war. Stange von der norwegischen Arbeiterpartei (NAP) war Delegierter einer Massenpartei, aber die Geschichte sollte zeigen, daß sie keineswegs revolutionär war. Dagegen vertrat Eberlein von der neu gegründeten KPD eine revolutionäre Partei, ihr gehörten zu diesem Zeitpunkt aber nur wenige tausend Mitglieder an. Die meisten der übrigen Delegierten vertraten in der Tat sehr wenig.

Für die Mehrheit des Kongresses war selbstverständlich, daß eine Internationale ohne ernstzunehmende Massenunterstützung in mehreren Ländern ein Unsinn wäre. Sinowjew argumentierte im Auftrag der russischen Partei, daß die Massenunterstützung eigentlich schon existiere, die Schwäche der meisten Delegationen sei eher zufällig.

Wir haben eine siegreiche proletarische Revolution in einem großen Land ... Ihr habt In Deutschland eine Partei, die zur Macht marschiert und die in einigen Monaten eine proletarische Regierung errichten wird. Und sollen wir da noch zögern? Keiner wird es verstehen. [2]

Das die sozialistische Revolution in Mitteleuropa und vor allem in Deutschland eine unmittelbare Möglichkeit war, das wurde von keinem der Delegierten bezweifelt. Eberlein sagte:

Wenn die Zeichen nicht trügerisch sind, steht das deutsche Proletariat vor dem letzten entscheidenden Gefecht. Wie schwierig es auch sein mag, die Aussichten für den Kommunismus sind günstig. [3]

Lenin, der nüchternste und berechnendste aller Revolutionäre, erklärte in seiner Grußadresse:

... nicht nur in Rußland, sondern auch in den entwickeltsten Ländern Europas, in Deutschland z.B., ist der Bürgerkrieg eine Tatsache ...die Weltrevolution bricht los und verstärkt sich überall. [4]

Das war keine Phantasie. Im November 1918 war das deutsche Reich, bisher der mächtigste Staat in Europa, zusammengebrochen. Sechs „Volksbeauftragte“ – drei Sozialdemokraten und drei Unabhängige Sozialdemokraten – ersetzten die Regierung des Kaisers. Arbeiter- und Soldatenräte hatten sich durch das ganze Land verbreitet und effektiv die alte Staatsgewalt ersetzt. Zugegeben, setzten die einflußreichen sozialdemokratischen Führer jetzt all ihre Kräfte ein, um die alte kapitalistische Staatsmacht unter einem neuen „republikanischen“ Mäntelchen wiederherzustellen. Umso wichtiger war es, eine revolutionäre Internationale mit einer starken zentralisierten Führung zu schaffen, um den Kampf für ein Sowjetdeutschland zu führen und zu unterstützen. Und trotz der blutigen Unterdrückung des Spartakusaufstandes im Januar 1919 schien dieser Kampf fortzuschreiten. „Vom Januar bis Mai 1919 und zum Teil darüberhinaus bis in den Hochsommer – herrschte in Deutschland ein blutiger Bürgerkrieg ...“ [5] Im Monat nach der Zusammenkunft in Moskau wurde die Bayrische Räterepublik ausgerufen!

Die zweite große mitteleuropäische Macht, das Österreichisch-Ungarische Reich hatte sich schon aufgelöst. Die Nachfolgerstaaten erlebten alle mehr oder weniger revolutionäre Erregung. Im deutschsprachigen Österreich gab es keine effektive Waffengewalt außer der von der Sozialdemokratie geleiteten Volkswehr. In Ungarn wurde am 21. März 1919 die Sowjetrepublik ausgerufen. Alle die neuen bzw. die neugegründeten Staaten – die Tschechoslowakei, Jugoslawien, auch Polen – waren zu dieser Zeit höchst instabil.

Die Rolle der sozialdemokratischen Führungen war entscheidend. Die Mehrheit von ihnen unterstützte jetzt die Konterrevolution im Namen der „Demokratie“. Die meisten nannten sich Marxisten und Internationalisten, was sie früher sogar einmal gewesen waren. 1914 hatten sie vor ihrer „eigenen“ herrschenden Klasse kapituliert. In der folgenschweren Zeit nach dem Weltkrieg bildeten sie die Hauptstütze des Kapitalismus, indem sie von dem Kredit, den sie über Jahre vor 1914 durch ihre Opposition zu den alten Regimes bei den Massen gewonnen hatten, Gebrauch machten, um den Aufbau einer eigenständigen Arbeitermacht zu verhindern. Ihr Versuch, die Zweite Internationale auf einem Treffen in Bern wiederzubeleben, war ein weiterer dringender Grund, die Dritte ins Leben zu rufen, wie Lenin es schon 1914 gefordert hatte: „Die Zweite Internationale ist tot, überwunden vom Opportunismus ... es lebe die Dritte Internationale.“ [6]

Was war die politische Basis der Dritten Internationale? Sie ruhte auf zwei Grundstützen: auf dem revolutionären Internationalismus, und auf dem Sowjet- oder Rätesystem als der Form politischer Macht, mit der die Arbeiter über die Gesellschaft herrschen würden.

Der Hauptantrag des Kongresses von 1919 erklärte:

In den Republiken des griechischen Altertums, in den Städten des Mittelalters oder in den entwickelten Industrienationen der Neuzelt nahm die Demokratie unterschiedliche Formen an und sie wurde in unterschiedlichem Umfang verwirklicht. Es wäre dann Unsinn, zu glauben, daß die tiefstgreifende Revolution der Menschengeschichte, wo zum ersten Mal die Macht von der ausbeutenden Minderheit zur ausgebeuteten Mehrheit überwechselt, innerhalb der alten spezifischen Formen der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie stattfinden könnte, ohne tiefgreifende Änderungen, ohne die Schaffung neuer Formen der Demokratie, neuer Institutionen, die die neuen Bedingungen verkörpern, unter denen die Demokratie verwirklicht wird. [7]

Räte oder Parlament? Nach der Oktoberrevolution lösten die Bolschewiki die neugewählte Verfassungsgebende Versammlung, wo die Bauernpartei der „Sozialrevolutionäre“ über eine Mehrheit verfügte, zugunsten der Sowjetmacht auf. Nach der Novemberrevolution löste die SPD die Arbeiter- und Soldatenräte, wo sie selbst über eine Mehrheit verfügte, zugunsten der Nationalversammlung auf, in der sie keine Mehrheit besaß.

In beiden Fällen war die Frage der konstitutionellen Formen der Herrschaft eigentlich eine Frage der Klassenherrschaft. Die Bolschewiki schafften durch ihre Aktion einen Arbeiterstaat, die SPD einen bürgerlichen, die Weimarer Republik.

Nach der Pariser Kommune hatte Marx geschrieben, daß die Form des Staates beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus „nur die revolutionäre Diktatur des Proletariats“ sein könnte.

Die Sozialdemokraten waren in der Praxis dazu gekommen, das Wesen der marxistischen Staatstheorie zurückzuweisen, wonach alle Staaten Klassenstaaten seien, es keinen „neutralen“ Staat gebe. Sie hielten sich auch nicht mehr an ihre eigene frühere These über die Unvermeidbarkeit der Revolution. Stattdessen folgten sie jetzt dem „friedlichen“ parlamentarischen Weg zum Sozialismus. Die Weimarer Republik war nichtsdestoweniger genauso das Ergebnis des bewaffneten Umsturzes des ihr vorangegangenen Staates wie es die russische Sowjetrepublik war. Das gilt auch für die Nachfolgerstaaten Österreich-Ungarns. Die noch größere Umwälzung, die Zerschlagung des Kapitalismus sollte dagegen durch die Mittel des bürgerlich-demokratischen Staatsapparates erreicht werden!

In Wirklichkeit bedeutete dies den Verzicht auf den Sozialismus als Endziel.

In ihrer Plattform von 1919 bestätigte die Dritte Internationale noch einmal den marxistischen Standpunkt. „Der Sieg der Arbeiterklasse liegt in der Vernichtung der Organisation der Feindesmacht und in der Organisierung der Arbeitermacht an Ihrer Stelle, in der Zerstörung des bürgerlichen Staatsapparates und im Aufbau eines Arbeiterstaatsapparates.“ [8] Sozialismus durch das Parlament sei ausgeschlossen. 1917 hatte Lenin zustimmend Engels Aussage zitiert, daß das allgemeine Stimmrecht „ein Gradmesser die Reife der Arbeiterklasse [ist]. Mehr kann und wird es nie sein im heutigen Staat.“ [9] Kurz nach dem Moskauer Kongreß schrieb er:

Eine bürgerliche Republik ist und kann nichts anderes sein als ein Apparat zur Unterdrückung der Werktätigen durch das Kapital, ein Instrument der Diktatur der Bourgeoisie, die politische Herrschaft des Kapitals. [10]

Die auf Arbeiterräten ruhende Arbeiterrepublik sei dagegen wirklich demokratisch.

Das Wichtigste an der Sowjetmacht liegt darin, daß die permanente und einzige Basis der ganzen Staatsmacht, des ganzen Staatsapparates, die Massenorganisation derjenigen Klassen ist, die bisher von den Kapitalisten unterdrückt waren, nämlich die Arbeiter und die Bauern, die keine Arbeit ausbeuten. [11]

Schon 1919 war das eine Verschönerung der wirklichen Lage. Die „Abweichungen“ konnten aber durch die Rückständigkeit des Landes, durch den immer noch herrschenden Bürgerkrieg und durch ausländische Einmischung erklärt werden.

Bis zu seinem Tod blieb Trotzki ohne den geringsten Vorbehalt Verfechter der Ideen des internationalen Kommunismus. In der Frage der bürgerlichen Demokratie stimmte er 1919 mit Lenin überein und er änderte niemals seine Meinung.

Das Delegiertentreffen in Moskau hatte die neue Internationale gegründet auf der Basis der folgenden Prinzipien: kompromißloser Internationalismus, entschiedene und endgültige Trennung von den Verrätern von 1914, Arbeitermacht durch Arbeiterräte, die Verteidigung der Sowjetrepublik und die Perspektive einer bevorstehenden Revolution in Mittel- und Westeuropa. Die unmittelbare Aufgabe sei, die Massenorganisationen zu schaffen, um das alles zu verwirklichen.

 

 

Zentristen und Ultralinke

Parteien und Gruppen, die bis vor kurzem der Zweiten Internationale angehörten, beantragen immer häufiger Aufnahme in der Dritten, ohne daß sie im eigentlichen Sinne kommunistisch geworden sind ... Die Komintern ist sozusagen Mode geworden ... Unter bestimmten Umständen besteht durch den Zustrom von schwankenden und unentschlossenen Gruppen, die mit der Ideologie der Zweiten Internationalen noch nicht gebrochen haben, eine Gefahr der Verwässerung der Kommunistischen Internationale. [12]

So schrieb Lenin im Juli 1920. Die auf dem Kongreß 1919 von Sinowjew ausgedrückte Vermutung, daß in Europa eine echte revolutionäre Massenbewegung schon vorhanden sei, erwies sich im folgenden Jahr als richtig.

Im September 1919 stimmten die Delegierten auf dem Parteitag der italienischen Sozialistischen Partei mit großer Mehrheit und auf Empfehlung des Exekutivkomitees dafür, die Mitgliedschaft in der Dritten Internationalen zu beantragen. Die norwegische Arbeiterpartei (NAP) bestätigte ihre Mitgliedschaft und die Parteien Bulgariens, Jugoslawiens (früher Serbiens) und Rumäniens wurden ebenfalls Mitglieder. Bis auf die rumänische Partei waren dies alles wichtige Organisationen. Die NAP, die sich, wie die britische Labour-Party, vor allem durch die Angliederung der Gewerkschaften aufgebaut hatte, beherrschte die norwegische Linke vollständig. Die bulgarischen Kommunisten hatten von Anfang an die Unterstützung der überwiegenden Mehrheit der Arbeiterklasse. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens gewann 54 Sitze bei der ersten (und einzigen) freien Wahl im neuen Staat.

Die Sozialistische Partei Frankreichs (SFIO), die zwischen 1918 und 1920 von 90.000 auf 200.000 Mitglieder angewachsen war, bewegte sich in dieser Zeit weit nach links und liebäugelte mit Moskau. Dasselbe galt für die Führer der USPD, die auf Kosten der SPD schnell an Größe zugenommen hatte. Ähnliches galt auch für die linken Sozialdemokraten in Schweden, für die Linke in der Tschechoslowakei und für kleinere Parteien in vielen anderen Ländern. Druck von der Basis zwang sie, der Oktoberrevolution Lippenbekenntnisse zu zollen und um die Aufnahme in die Dritte Internationale zu verhandeln.

Der Wunsch bestimmter führender Organisationen des „Zentrums“, sich der Dritten Internationale anzuschließen, ist eine indirekte Bestätigung dafür, daß sie die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit klassenbewußter Arbeiter in der ganzen Welt gewonnen hat und daß sie mit jedem Tag eine stärkere gesellschaftliche Kraft wird. [13]

Diese Parteien waren allerdings keine revolutionären kommunistischen Organisationen. Ihre Traditionen waren eher die der Sozialdemokraten der Vorkriegszeit: revolutionär in Worten, passiv in der Praxis. Ihre Führer waren bereit, jede Schikane und jede Täuschung anzuwenden, um ihre Stelle zu behalten und um die Annahme einer Revolutionären Strategie und Taktik zu verhindern. [14]

Ohne Zusammenarbeit mit den Massen der Mitglieder dieser Parteien hatte die neue Internationale keine Möglichkeit, kurzfristig in Europa irgendwelchen entscheidenden Einfluß auszuüben. Auf der anderen Seite hatte sie keine Möglichkeit, einen revolutionären Einfluß auszuüben, ohne daß die Massen sich von ihren zentristischen Führern verabschiedeten. Die Lage war kaum anders, wenn es um die Massenparteien ging, die der Internationalen schon angeschlossen waren. Die Sozialistische Partei Italiens z.B. hatte einige unverbesserliche Reformisten in ihrer vorwiegend zentristischen Führung.

Der Kampf gegen den Zentrismus wurde durch einen anderen Faktor erschwert. In vielen kommunistischen Organisationen bestanden starke ultralinke [linksradikale] Tendenzen. Dazu kamen die wichtigen syndikalistischen gewerkschaftlichen Organisationen, die der Dritten Internationale nahestanden, die aber immer noch die Notwendigkeit einer kommunistischen Partei leugneten. Diese bedeutenden Kräfte zu überzeugen und zu integrieren, war ein schwieriges und kompliziertes Unternehmen, und es verlangte einen Kampf auf mehreren unterschiedlichen Fronten.

Die Beschlüsse des zweiten Kongresses waren in dieser Hinsicht ungeheuer wichtig. Eigentlich könnte man sagen, daß dies der wirkliche Gründungskongreß war. Er fand zu einer Zeit statt, als der Krieg gegen Polen den Höhepunkt erreichte und die Rote Armee sich Warschau näherte. In Deutschland war der Versuch, eine Militärdiktatur zu errichten, der Kapp-Putsch, gerade durch die Massenaktion der Arbeiterklasse verhindert worden. In Italien standen die Fabrikbesetzungen bevor. Die Stimmung des revolutionären Optimismus war nie stärker gewesen. Sinowjew, Präsident der Internationale, erklärte: „Ich bin zutiefst überzeugt, daß der zweite Kongreß der Komintern der Vorläufer eines anderen Weltkongresses ist, nämlich des Weltkongresses von Sowjetrepubliken.“ [15] Was noch fehlte, das waren echte kommunistische Massenparteien, die die Bewegung zum Sieg führen sollten. Beim zweiten Kongreß beschäftigte Trotzki sich sehr mit dem Wesen solcher Parteien:

Genossen! Es kann ja ziemlich merkwürdig erscheinen, daß ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes auf einem internationalen kommunistischen Kongreß die Frage aufgeworfen wird, ob Partei oder ob keine Partei... Selbstverständlich, wenn wir hier den Herrn Scheidemann vor uns gehabt hätten oder Kautsky oder Ihre englischen Gesinnungsgenossen, so brauchten wir diese Herren nicht darüber zu belehren, daß die Arbeiterklasse eine Partei haben muß. Sie haben für die Arbeiterklasse eine Partei gebildet, und diese Partei haben sie in die Dienste der bürgerlichen Klasse, der kapitalistischen Gesellschaft gestellt ...Weil ich weiß, daß eine Partei notwendig ist, und weil ich den Wert der Partei ganz gut kenne, und weil ich einerseits Scheidemann und andererseits einen amerikanischen, einen spanischen, einen französischen Syndikalisten habe, der nicht nur das Bürgertum zu bekämpfen gewillt ist, wie es auch Scheidemann war, sondern auch wirklich ihm den Kopf abreißen will, so sage ich: Ich ziehe es vor, mit diesem spanischen, amerikanischen, französischen Kameraden mich auseinanderzusetzen, um ihm für seine geschichtliche Mission – die Vernichtung des Bürgertums die Notwendigkeit der Partei zu beweisen ... Genossen, die französischen Syndikalisten arbeiten revolutlonär in den Syndikaten, und wenn ich jetzt z.B. mit dem Genossen Rosmer spreche, so finden wir gemeinsamen Boden. Die französischen Syndikalisten haben im Gegensatz zu den Traditionen der Demokratie, ihren Lügen und lllusionen, gesagt: Wir wollen keine Partei, wir wollen proletarische Syndikate und innerhalb derselben die revolutionäre Minderheit avec l'action directe, mit der Massenaktion... Was ist für unsere Freunde die Minderheit? Das ist der beste Tell der französischen Arbeiterklasse, die ein klares Programm und eine Organisation hat, in der sie diese Fragen diskutiert und nicht nur diskutiert, sondem zur Entscheidung bringt, eine Organisation, die eine gewisse Disziplin hat. [16]

Das sei der Kern der Sache, betonte Trotzki. Die revolutionären Syndikalisten stünden viel näher der Bildung einer kommunistischen Partei als die Zentristen, die die Partei für eine Selbsverständlichkeit hielten. Die syndikalistische Position sei aber nicht ganz ausreichend – man müsse etwas hinzufügen, „ein Inventur ..., welche die akkumulierte Erfahrung der Arbeiterklasse darstellt. So fassen wir unsere Partei, unsere Internationale auf.“ [17]

Sie dürfe keine vorwiegend propagandistische Organisation sein. In einer Rede vor dem Exekutivkomitee der Komintern (EKKI) verteidigte Trotzki die Internationale gegen den holländischen Ultralinken Gorter, der sie beschuldigt hatte, sie „renne den Massen hinterher“, und erklärte:

Was schlägt Genosse Gorter vor? Was will er? Propaganda! Das ist im Wesen seine ganze Methode. Die Revolution, sagt Gen. Gorter, hängt weder von Not und Elend noch von wirtschaftlichen Verhältnissen ab, sondern vom Massenbewußtsein allein. Das Massenbewußtsein wird wiederum von Propaganda gestaltet, wobei Propaganda in einer sehr idealistischen Art und Weise verstanden wird, sehr ähnlich dem Begriff der Schule der Aufklärung und des Rationalismus während des 18. Jahrhunderts ... Du befürwortest im Grunde genommen die Entwicklung der Internationale durch eine Strategie der Einzelrekrutierung von Arbeitern durch Propaganda. Du willst eine makellose Internationale der Auserwählten und Eingeweihten. [18]

Neben der passiven, propagandistischen Spielart des Linksextremismus gab es in der frühen Komintern eine andere. 1921 entwickelte sich in der Führung der deutschen Partei eine putschistische Tendenz. Im März versuchte die Parteiführung die Revolution künstlich zu beschleunigen, indem sie trotz des Mangels einer wahrhaft revolutionären Situation auf nationaler Ebene (lokal gab es in Mitteldeutschland etwas wie eine revolutionäre Situation) eine wahre Massenbewegung durch die Militanten der Partei ersetzen wollte. Die sogenannte Märzaktion endete in einer schweren Niederlage – die Parteimitgliedschaft fiel von 350.000 auf etwa 150.000. Die Taktik der KPD wurde durch eine „Theorie der Offensive“ gerechtfertigt.

Die sogenannte Theorie der Offensive wurde vorgebracht. Was war das Wesentliche dieser Theorie? Sie ging davon aus, daß die Epoche des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft begonnen habe, d.h. die Epoche, wo die Bourgeoisie gestürzt werden müsse. Und wie? Durch die Offensive der Arbeiterklasse. Rein abstrakt betrachtet stimmt das ohne Frage. Aber einige Individuen verlangen die Umwechselung dieses theoretischen Kapitals in eine entsprechende Währung zu kleinerem Nennwert. Sie behaupten, diese Offensive bestehe aus einer aufeinanderfolgenden Serie von kleineren Offensiven.

Diese Auslegung der Theorie der Offensive verurteilte Trotzki in einer Rede im Sommer 1921. Er fuhr fort:

Genossen, der Vergleich zwischen dem politischen Kampf der Arbeiterklasse und militärischen Unternehmungen wird häufig mißbraucht. Aber hier können wir ihn mit einem gewissen Vorbehalt anwenden ... Im militärischen Sprachgebrauch haben auch wir unsere Märztage, um es auf deutsch zu sagen, und unsere Septembertage, um es auf italienisch zu sagen, gehabt.[Die bezieht sich auf das Versagen der italienischen Sozialistischen Partei dabei, die revolutionäre Krise September 1920 auszunutzen.] Nun, was passiert nach einer Teilniederlage? Es besteht eine gewisse Verwirrung im Militärapparat, das Bedürfnis für eine Atempause, um wieder Fuß zu fassen und zu einer präziseren Einschätzung der gegenüberstehenden Kräfte zu gelangen ... Manchmal wird das nur möglich sein unter den Bedingungen eines strategischen Rückzugs ...

Um das richtig zu verstehen, um diesen Rückzug als Bestandteil eines einheitlichen strategischen Plans einzuordnen, dazu braucht man eine gewisse Erfahrung. Aber wenn man es alles ganz abstrakt sieht und immer darauf besteht, um jeden Preis vorzurücken ..., immer davon ausgehend, daß jedes Hindernis durch eine größere Anstrengung des revolutionären Willens überwunden werden kann, wohin kommt man denn? Nehmen wir als Beispiel die Septemberereignisse in Italien oder die Märzereignisse in Deutschland. Man sagt uns, die Lage könne nur durch eine neue Offensive gerettet werden ... Unter diesen Umständen würden wir so nur eine noch größere und noch gefährlichere Niederlage erleben. Nein, Genossen, nach so einer Niederlage müssen wir uns zurückziehen. [19]

 

 

Die Einheitsfront

Im Sommer 1921 war die Führung der Komintern einheitlich zum Schluß gekommen, daß ein allgemeiner strategischer Rückzug notwendig war. Im Juni 1921 schrieb Trotzki in der Prawda:

Im Entscheidungsjahre für die Bourgeoisie, dem Jahre 1919 hätte das Proletariat Europas zweifelsohne die Staatsmacht mit geringen Opfern erobern können, hätte es an seiner Spitze eine wirklich revolutionäre Organisation gegeben, die in der Lage gewesen wäre, klare Ziele darzulegen, und diese konsequent zu verfolgen. Es gab aber keine solche Organisation ... Im Laufe der letzten drei Jahre haben die Arbeiter viel gekämpft und viele Opfer gebracht, und trotzdem haben sie die Macht nicht erobert. Folglich sind die arbeitenden Massen zurückhaltender geworden als es 1919-20 der Fall war. [20]

Derselbe Gedanke kam in den Thesen zur Weltlage zum Ausdruck. Die von Trotzki verfaßten Thesen wurden im Juli 1921 vom dritten Kongreß der Komintern angenommen:

Im Laufe des Jahres, das zwischen dem zweiten und dritten Kongreß der Komintern liegt, sind eine Reihe Arbeiteraufstände und Arbeiterkämpfe in Teilniederlagen geendet. (z.B. der Marsch der Roten Armee auf Warschau im August 1920, die Bewegung des italienischen Proletariats im September 1920 und der Aufstand der deutschen Arbeiter im März 1921). Die erste Periode der revolutionären Bewegung nach dem Krieg scheint im wesentlichen abgeschlossen zu sein. Diese Periode war durch den spontanen Charakter ihrer Angriffe, und die ausgeprägte Ungenauigkeit ihrer Ziele und Methoden gekennzeichnet, sowie durch den panischen Schrecken, in den die herrschenden Klassen dadurch gestürzt wurden. Das Selbstbewußtsein der Bourgeoisie als Klasse und dle äußerliche Stabilität ihrer Staatsorgane sind inzwischen zweifelsohne gestärkt worden ... Die Führer der Bourgeoisie sind sogar stolz auf die Macht ihrer Staatsapparate und sind in allen Ländern sowohl politisch als auch ökonomisch in die Offensive gegen die Arbeiter gegangen. [21]

Kurz nach dem Kongreß fing das EKKI (Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale) an, die Parteien zu drängen, den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf Einheitsfrontarbeit zu verschieben. Im Frühjahr 1922 faßte Trotzki die Merkmale dieser Arbeit deutlich zusammen.

Die Aufgabe der Kommunistischen Partei ist, die proletarische Revolution zu führen ... Das kann sie nur, wenn sie sich auf die überwältigende Mehrheit der Arbeiterklasse stützen kann ... Um diese Unterstützung zu gewinnen, muß sie wiederum eine völlig eigenständige Organisation mit einem klaren Programm und einer strengen Disziplin nach innen darstellen. Gerade deswegen hat sie ideologisch mit den Reformisten und den Zentristen brechen müssen ... Nachdem sie für die völlige Eigentätigkeit und für ideologische Einheit in ihren eigenen Reihen gesorgt hat, kämpft die Kommunistische Partei um Einfluß über die Mehrheit der Arbeiterklasse ... Natürlich bleibt das Eigenleben der Arbeiterklasse in dieser die Revolution vorbereitende Phase nicht stille stehen. Konflikte mit den Industriellen, mit der Bourgeoisie, mit der Staatsgewalt, egal, von welcher Seite sie provoziert werden, nehmen ihren nötigen Lauf.

Im Laufe dieser Konflikte – insofern sie die lebenswichtigen Interessen der gesamten Arbeiterklasse, oder ihre Mehrheit, oder dieses oder jenes Teils davon betreffen – entwickeln die arbeitenden Massen einen Sinn für die Notwendigkeit der Einheit in der Aktion, sei es die Einheit beim Widerstand gegen die Angriffe des Kapitalismus oder die Einheit bei der Offensive gegen ihn. Jede Partei, die sich mechanisch diesem Bedürfnis der Arbeiter nach Aktionseinheit entgegenstellt, wird mit Sicherheit und mit Recht von den Arbeitern verurteilt.

Dementsprechend ist die Einheitsfront weder von ihrem Ursprung noch von Ihrem Wesen auch keineswegs eine Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen elner kommunistischen und einer sozialistischen Parlamentsfraktion, oder zwischen den Zentralkomitees der beiden Parteien ... Das Problem der Einheitsfront – auch wenn in dieser Epoche eine Spaltung zwischen den verschiedenen politischen Organisationen, die sich auf die Arbeiterklasse berufen, unvermeidbar ist – entsteht aus der dringenden Notwendigkeit, für die Arbeiterklasse die Möglichkeit einer Einheitsfront im Kampf gegen den Kapitalismus zu sichern.

Für diejenigen, die diese Aufgabe nicht verstehen, ist die Partei nur eine Propagandavereinigung, aber nicht eine Organisation für den Massenkampf.

Die Einheitsfront setze also unsere Bereitschaft voraus, in bestimmten Grenzen und über spezifische Fragen unsere Aktionen mit jenen von reformistischen Organisationen abzustimmen, solange diese den Willen wichtiger Teile des kämpfenden Proletariats noch ausdrücken.

Aber haben wir uns nicht von Ihnen getrennt? Doch. Weil wir mit ihnen über wichtige Fragen der Arbeiterbewegung nicht einverstanden sein können.

Wir suchen trotzdem Einheit mit ihnen? Ja. Immer dort, wo die Massen, die uns folgen, gemeinsam zu kämpfen, und wo die Reformisten selbst gezwungen werden, ein mehr oder weniger aktives Instrument dieser Kämpfe zu sein ...

Eine Politik, die sich darauf zielt, die Aktionseinheit zu sichern, garantiert nicht automatisch, daß die Aktionseinheit wirklich in allen Fällen erreicht wird. Im Gegenteil, in vielen, vielleicht sogar in den meisten Fällen werden organisatorische Absprachen nur teilweise erreicht, wenn überhaupt. Gerade deswegen ist es notwendig, daß die kämpfenden Arbeiter die Möglichkeit bekommen, sich zu überzeugen, daß dort, wo eine Aktionseinheit nicht erreicht wird, die Ursachen nicht in unserer formalistischen Unversöhnlichkeit liegen, sondern im mangelnden wirklichen Kampfgeist der Reformisten. [22]

Der vierte Kongreß der Komintern (1922) war der letzte, den Lenin besuchte, und der letzte, dessen Beschlüsse Trotzki im wesentlichen für richtig hielt. Ein Jahrzehnt später nahm Trotzki in einer Grundsatzerklärung zur frühen Komintern Stellung:

Die Internationale Linke Opposition steht auf dem Boden der ersten vier Kongresse der Komintern. Das bedeutet nicht, daß sie sich vor jedem Buchstaben ihrer Entscheidungen beugt. Viele Beschlüsse haben ihre Aktualität verloren und sind von den Ereignissen überholt worden. Trotzdem bleiben alle ihre wesentlichen Prinzipien (in bezug auf Imperialismus und den bürgerlichen Staat; Demokratie und Reformismus; Probleme der Machtergreifung; die Diktatur des Proletariats; das Verhältnis zur Bauernschaft und zu den unterdrückten Nationen; Arbeit in den Gewerkschaften; Parlamentarismus; die Einheitsfrontpolitik) noch heute der höchste Ausdruck proletarischer Strategie in der Epoche der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Dagegen lehnt die Linke Opposition die Beschlüsse des fünften und sechsten Kongresses (1924 und 1928) als revisionistisch ab. [23]

1923 traten einerseits das Dreigespann Stalin-Sinowjew-Kamenew und andererseits die Linke Opposition hervor. In Europa erlitt die Komintern zwei lähmende Niederlagen. Im Juli nahm die Kommunistische Partei Bulgariens, die die Unterstützung fast der ganzen Arbeiterschaft genoß, gegenüber einem rechten Putsch gegen die Regierung der Bauernpartei eine „neutrale“, oder genauer völlig passive, Stellung ein. Erst nach der Zerstörung des bürgerlich-demokratischen Regimes, und nach der Errichtung einer Militärdiktatur und der erfolgreichen Unterdrückung der Volksmassen, erst dann (am 22. September) organisierte die KPB ohne jegliche ernsthafte politische Vorbereitung einen überstürzten Aufstand, der niedergeschlagen wurde und dem ein furchtbarer weißer Terror folgte.

Deutschland befand sich mittlerweile in einer tiefen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Krise, die durch die französische Besetzung der Ruhr beschleunigt und durch die astronomische Inflation, die das Geld wortwörtlich wertlos machte, verschärft wurde. „Im Herbst 1923 war die Lage in Deutschland verzweifelter, das Elend größer und die Aussichten hoffnungsloser als zu irgendeinem Zeitpunkt seit 1919.“ [24] Ein Aufstand wurde für Oktober geplant, nachdem die KPD in Sachsen eine Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten gebildet hatte; er wurde aber im letzten Augenblick abgeblasen. (Nur in Hamburg wurde seine Absetzung nicht rechtzeitig bekannt, der isolierte Aufstand wurde durchgeführt und nach zwei Tagen niedergeschmettert.)

Trotzki kam zu dem Schluß, daß eine historische Gelegenheit verpaßt worden sei. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Politik der Komintern nicht nach den Bedürfnissen des internationalen Klassenkampfs bestimmt, sondern immer mehr in der ersten Phase nach den Interessen der Stalinfraktion im innerparteilichen Kampf der KPdSU und später nach den außenpolitischen Interessen der Stalinregierung. Nach einem kurzen Linksschwenk 1924 steuerte die Komintern bis 1928 nach rechts, dann 1928-34 in eine ultralinke [linksradikale] Politik und schließlich weit nach rechts in der Periode der Volksfront (1935-39). Jeder dieser Abschnitte wurde von Trotzki sorgfältig analysiert und kritisiert. Es ist zweckmäßig, seine Kritik durch drei Beispiele darzulegen.

 

 

Das anglo-sowjetische Gewerkschaftskomitee

Außer der Chinesischen Revolution von 1925-27, die wir schon diskutiert haben, war Trotzkis Kritik der Politik der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) (die sie unter Leitung der Komintern durchgeführt hat) bis und während des Generalstreiks von 1926 seine wichtigste Anschuldigung der Komintern während ihrer ersten rechten Phase.

Der Generalstreik vom Mai 1926 war ein entscheidender Wendepunkt in der britischen Geschichte – und er war eine ungemilderte Niederlage für die Arbeiterklasse. Er brachte einer langen, obwohl nicht ununterbrochenen, Periode der Arbeitermilitanz ein ende, führte zu einer hinausgezögerten Periode der Vorherrschaft des rechten zur offenen Klassenkollaboration geneigten Flügels innerhalb der Gewerkschaften und führte zur Verstärkung des von der Labour Party verkörperten Reformismus auf Kosten der Kommunistischen Partei.

Während der Periode 1924-25 rückte die Gewerkschaftsbewegung deutlich nach links. Die von der CPGB inspirierte Basisbewegung, die Minority Movement, die 1924 um die Parolen: „Stoppt den Rückzug!“ und „Zurück in die Gewerkschaften!“ gegründet wurde, gewann beträchtlichen Einfluß. Gleichzeitig kam die offizielle Bewegung unter dem Einfluß einer Gruppe von links geneigten Funktionären. Und ab Frühjahr 1925 arbeitete der Trade Union Congress (TUC), der Dachverband der Gewerkschaften, und der sowjetische Gewerkschaftsverband unter dem Deckmantel des Englisch-Sowjetischen Gewerkschaftskomitees, was den Mitgliedern des Vorstands eine bestimmte „revolutionäre“ Aura sowie Deckung vor linken Kritikern verlieh.

Der Kern der Kritik Trotzkis war, daß die CPGB – der Politik der Komintern entsprechend – das Vertrauen der Massen in die linke Bürokratie aufbaute (die damalige Hauptparole der CPGB war: „Alle Macht dem TUC-Vorstand“!), daß aber diese im entscheidenden Augenblick mit Sicherheit die Bewegung verraten werde. (Was natürlich dann im Generalstreik der britischen Gewerkschaftsbewegung 1926 auch geschah.) Stattdessen solle die CPGB unabhängig an der Basis der Gewerkschaften eine Oppositionsbewegung organisieren, um Möglichkeiten, die die linken Funktionäre anböten, auszunutzen, jedoch sich keinesfalls auf sie verlassen. Im Gegenteil, sie solle die kämpfenden Kollegen mit Nachdruck warnen und auf den Verrat vorbereiten.

Sinowjew ließ uns verstehen, er hoffe, die Revolution werde Zugang nicht durch das enge Tor der britischen kommunistischen Partei finden, sondern durch die breiten Pforten der Gewerkschaften. Der Kampf um die Gewinnung der in den Gewerkschaften organisierten Massen durch die kommunistische Partei wurde durch die Hoffnung auf der schnellstmöglichen Verwendung des fertigen Gewerkschaftsapparats zum Zweck der Revolution ersetzt. Aus dieser falschen Position sprang die spätere Politik des Anglo-Sowjetischen Komitees, die der Sowjetunion sowie auch der britischen Arbeiterklasse einen Schlag versetzte; einen Schlag, der nur von der Niederlage in China übertroffen wurde ... Als Ergebnis der größten revolutionären Bewegung in Großbritannien seit dem Chartismus ist der britische kommunistische Partei kaum gewachsen, während der Vorstand das Heft noch fester in der Hand als vor dem Generalstreik hat. Solche sind die Ergebnisse dieses einmaligen „strategischen Manövers“. [25]

Er argumentierte nicht, die Politik der unabhängigen kommunistischen Arbeit hätte notwendigerweise den Streik gewinnen können.

Kein Revolutionär, der seine Worte abwägt, würde behaupten, man hätte einen Sieg garantieren können, wenn man diese Linie weiterführe. Aber ein Sieg war möglich nur auf diesem Weg. Eine Niederlage auf diesem Weg wäre, eine Niederlage auf einem Weg, der später zum Sieg führen könnte. [26]

Aber dieser Weg

erschien den Bürokraten der Kommunistischen Internationale zu lang und zu unsicher. Sie glaubten, daß durch den persönlichen Einfluß von Purcell, Hicks, Cook u.a. [den linken Funktionären im TUC-Vorstand] ... sie allmählich und unmerklich [sie] ziehen könnte ... in die Kommunistische Internationale. Um so einen Erfolg zu garantieren, ... sollte man den lieben Freunden keineswegs bekümmern oder verärgern ... zu einer radikalen Maßnahme mußte man ergreifen ... der wirklichen Unterordnung der Kommunistischen Partei der Minority Movement ... Als Führer dieser Bewegung kannten die Massen nur Purcell, Hicks und Cook, für die außerdem Moskau verbürgte. Bei einer ernsthaften Probe verrieten diese „linken“ Freunde beschämend das Proletariat. Die revolutionären Arbeiter wurden verwirrt, sanken in die Apathie und erstreckten [erweiterten] natürlich ihre Enttäuschung auf die Kommunistische Partei selbst, die nur der passive Teil dieses ganzen Mechanismus des Verrats und der Perfidie gewesen war. Die Minority Movement wurde auf Null reduziert; die Kommunistische kehrte zum Zustand einer unbedeutenden Sekte zurück. [27]

Sich auf „linke“ Funktionäre zu verlassen, ist bis heute noch ein Merkmal, das zwischen Linksreformisten und Revolutionären unterscheidet. Trotzkis Kritik ist also immer noch von Großer Bedeutung, nicht nur in Großbritannien.

 

 

Deutschland in der dritten Periode

Der 6. Weltkongreß der Komintern (Sommer 1928) leitete eine heftige Reaktion gegen die rechte Linie von 1924-28 in das andere Extrem ein. Ab jetzt wurde eine ultralinke [linksradikale] Linie von eigentümlich bürokratischem Charakter ohne Rücksicht auf die jeweiligen nationalen Umstände allen kommunistischen Parteien verfügt. Diese neue Linie spiegelte das Inkrafttreten des ersten 5-Jahresplans und die Durchsetzung der Zwangskollektivierung in der Sowjetunion wider, wobei man eine „dritte Periode“ der Entwicklung ausrief, die von „aufsteigenden revolutionären Kämpfen“ gekennzeichnet sein sollte. In der Praxis hieß es, daß zu einer Zeit, als der Faschismus vor allem in Deutschland eine echte und wachsende Gefahr wurde, die Sozialdemokratie zum Hauptfeind erklärt wurde.

So erklärte das 10. Plenum des EKKI 1929:

In dieser Situation sich verschärfender imperialistischer Widersprüche und einer Zuspitzung des Klassenkampfs wird der Faschismus immer mehr zur üblichen bürgerlichen Herrschaftsform. In Ländern, wo starke sozialdemokratische Parteien existieren nimmt der Faschismus die besondere Form des Sozialfaschismus an, der in immer wachsendem Maße der Bourgeoisie als Werkzeug zur Lahmlegung der Aktivitäten der Massen im Kampf gegen das Regime der faschistischen Diktatur dient. [28]

Folglich müßte die Politik der Einheitsfront in ihrer bisherigen Form verworfen werden. Es könnte nicht mehr die Rede davon sein, daß die sozialdemokratischen Massenparteien und die unter ihrem Einfluß stehenden Gewerkschaften in eine Einheitsfront gegen den Faschismus gezwungen werden sollten, denn diese seien selbst „Sozialfaschisten“. Die Sozialdemokratie sei sogar – dem 11. Plenum des EKKI (1931) zufolge – „der aktivste Faktor und der Schrittmacher bei der Entwicklung des kapitalistischen Staates zum Faschismus. [29]

Diese abartige und völlig falsche Einschätzung sowohl des wahren Charakters des Faschismus als auch der Eigenschaften der Sozialdemokratie führte zwangsläufig zum falschen Schluß, daß „starke sozialdemokratische Parteien“ und „ein Regime der faschistischen Diktatur“ vereinbar seien, und daß beide in der Tat schon längst vor Hitlers Machtübernahme nebeneinander und gleichzeitig existiert hätten. „In Deutschland hat die Regierung von Papen-Schleicher mit Hilfe der Reichswehr, des Stahlhelms und der Nazis eine Form der faschistischen Diktatur errichtet,“ gab 1932 das 12. Plenum des EKKI kund. [30]

Mit steigender Dringlichkeit und Verzweiflung argumentierte Trotzki gegen diese schreiende Dummheit. Von 1929 bis zur Katastrophe 1933 veröffentlichte er Schriften über die deutsche Krise, deren Scharfsinn und Überzeugungskraft von keinem Marxisten übertroffen worden sind.

Das zentrale Thema aller dieser Schriften war die Notwendigkeit einer „Arbeitereinheitsfront gegen den Faschismus“, um den Titel einer der berühmtesten zu nennen. Trotzki bemühte sich weiterhin, all den abartigen Argumenten nachzugehen, die Stalins Altardiener bei ihrem Versuch, das Unglaubhafte glaubwürdig zu machen, verbreiteten. Seine Schriften aus dieser Zeit setzen sich mit einer Vielzahl von pseudomarxistischen Argumenten auseinander, und gleichzeitig legen sie mit außergewöhnlicher Klarheit den „höchsten Ausdruck der proletarischen Strategie“ dar. Hier können wir nur einen kleinen Bruchteil vorstellen.

Gegenwärtig stellt die offizielle Presse der Komintern das Ergebnis der deutschen Wahlen als einen grundlosen Sieg des Kommunismus hin, der die Losung „Sowjet-Deutschland“ auf die Tagesordnung bringt. Die bürokratischen Optimisten wollen den Sinn des Kräfteverhältnisses, das sich in der Wahlstatistik offenbart hat, nicht verstehen. Sie betrachten das Anwachsen der kommunistischen Stimmenzahl ganz unabhängig von den revolutionären Aufgaben, die die Situation stellt, und den daraus erwachsenden Schwierigkeiten.

Die Kommunistische Partei bekam 4.600.000 Stimmen gegenüber 3.300.000 im Jahre 1928. Der Zuwachs von 1.300.000 Stimmen ist vom Standpunkt der „normalen“ Parlamentsmechanik, selbst wenn man das Anwachsen der Gesamtwählerzahl berücksichtigt, ein ungeheurer. Aber der Stimmengewinn der Partei verblaßt vollkommen vor dem Sprung des Faschismus von 800.000 Stimmen auf 6.400.000 Stimmen. Keine geringere Bedeutung für die Bewertung der Wahlen besitzt die Tatsache, daß die Sozialdemokratie, trotz bedeutender Verluste, ihren Grundbestand gehalten und noch immer eine bedeutend höhere Anzahl von Arbeiterstimmen als die Kommunistische Partei bekommen hat.

Wenn man sich fragt, welche Kombination internationaler und nationaler Bedingungen geeignet wäre, die Arbeiterklasse am stärksten zum Kommunismus zu drängen, so könnte man keine günstigeren Bedingungen für eine solche Wendung anführen, als die gegenwärtige Lage in Deutschland: die Schlinge des Young-Plans, der Zerfall der herrschenden Gruppen, die Krise des Parlamentarismus und die erschreckende Selbstentlarvung der regierenden Sozialdemokratie. Unterm Aspekt dieser konkreten historischen Bedingungen bleibt das spezifische Gewicht der deutschen Kommunistischen Partei im öffentlichen Leben des Landes trotz der Eroberung von 1.300.000 Stimmen unverhältnismäßig gering. [...]

Aber die wichtigste Fähigkeit einer wirklich revolutionären Partei ist, der Wirklichkeit ins Auge sehen zu können. [...]

Um aus der sozialen Krise eine proletarische Revolution werden zu lassen, ist es – abgesehen von anderen Bedingungen – nötig, daß ein entscheidender Teil der kleinbürgerlichen Klassen sich auf die Seite des Proletariats stellt. Das gibt dem Proletariat die Möglichkeit, sich als Führer an die Spitze der Nation zu stellen. Die letzten Wahlen zeigen und darin liegt ihre wichtige symptomatische Bedeutung – eine entgegengesetzte Tendenz. Unter den Schlägen der Krise tendierte das Kleinbürgertum nicht zur proletarischen Revolution, sondern zur äußersten imperialistischen Reaktion und zog dabei bedeutende Schichten des Proletariats mit.

Das gigantische Anwachsen des Nationalsozialismus ist Ausdruck zweier Tatsachen: der tiefen sozialen Krise, die die kleinbürgerlichen Massen aus dem Gleichgewicht bringt, und des Fehlens einer revolutionären Partei, welche schon heute in den Augen der Volksmassen der berufene revolutionäre Führer wäre. Wenn die Kommunistische Partei die Partei der revolutionären Hoffnung ist, so ist der Faschismus als Massenbewegung die Partei der konterrevolutionären Verzweiflung. Wenn die revolutionäre Hoffnung die gesamte proletarische Masse ergreift, so zieht sie unfehlbar bedeutende und stets anwachsende Schichten des Kleinbürgertums hinter sich her auf den Weg der Revolution. Gerade auf diesem Gebiet zeigen die Wahlen ein ganz entgegegesetztes Bild: die konterrevolutionäre Verzweiflung hat die kleinbürgerlichen Massen mit solcher Gewalt erfaßt, daß sie bedeutende Schichten des Proletariats mit sich zog. [...]

Der Faschismus ist in Deutschland zu einer wirklichen Gefahr geworden er ist Ausdruck der akuten Ausweglosigkeit des bürgerlichen Regimes, der konservativen Rolle der Sozialdemokratie und der akkumulierten Schwäche der Kommunistischen Partei im Kampf gegen dieses Regime. Wer das leugnet, ist blind oder ein Schwätzer. [31]

Um die Situation jetzt zu retten, schrieb Trotzki, sei es notwendig, zunächst die Kommunistische Partei aus ihrem unfruchtbaren Ultraradikalismus zu ziehen. Die Komintern folge einer Politik des „bürokratischen Ultimatismus“ (sie versuche die Arbeiterklasse „zu vergewaltigen, wo es mißlingt, sie zu überzeugen“)müsse durch eine in der Einheitsfrontpolitik begründeten Politik des aktiven Manövers.

Die Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse mit einem Schlage für eine Offensive zu mobilisieren, ist eine schwere Aufgabe. Nach den Niederlagen der Jahre 1919, 1921 und 1923, nach den Abenteuern der „dritten Periode“ haben sich bei den deutschen Arbeitern, die ohnehin schon durch mächtige konservative Organisationen gebunden sind, starke Hemmungen herausgebildet. Andererseits aber eröffnet die organisatorische Festigkeit der Arbeiter, die es den Faschisten bisher fast vollständig verwehrt hat, in ihre Reihen einzudringen, die größten Möglichkeiten für Defensivkämpfe. Man darf nicht vergessen, daß die Einheitsfrontpolitik im allgemeinen in der Defensive viel wirksamer als in der Offensive ist. Konservativere oder zurückgebliebenere Schichten des Proletariats lassen sich leichter In den Kampf ziehen, um das zu verteidigen, was sie bereits besitzen, als um Neues zu erobern. [32]

Trugschlüsse aller Art wurden von den Stalinisten eingesetzt, um die Sache zu vernebeln und um das, was einmal die Politik der Komintern war, als „konterrevolutionären Trotzkismus“ abzustempeln. Die Einheitsfront, hieß es zum Beispiel, könne nur „von unten“ heranwachsen; also sei jedes Abkommen mit den Sozialdemokraten auszuschließen. Einzelne Sozialdemokraten dürften jedoch an einer „Roten Einheitsfront“ teilnehmen, vorausgesetzt, daß sie die Führung der KPD hinnähmen.

Immer mehr wurde die verhängnisvolle Illusion gepflegt, die man mit der Parole „Nach Hitler kommen wir“ zusammenfassen kann. Immer wieder betonte Trotzki, daß dies eine Perspektive der Passivität und der Ohnmacht, in radikale Rhetorik verkleidet, sei. Und immer wieder kehrte er zur Schlüsselfrage – zur Frage der Einheitsfront – zurück, wobei er alle verwirrende Wortklauberei bloßstellte, Verleumdungen beiseitewischte und seinen eigenen Standpunkt mit Nachdruck verdeutlichte.

Der Händler trieb die Ochsen auf den Schlachthof. Kam der Schlächter mit dem Messer auf sie zu.

„Schließen wir die Reihen und nehmen wir diesen Henker auf die Hörner!“ schlug einer der Ochsen vor.

„Worin ist der Schlächter ärger als der Händler, der uns mit dem Knüttel hierher getrieben,“ erwiderten ihm die Ochsen, die politische Erziehung in der Pension Manuilski genossen hatten.

„Aber wir können ja nachher auch mit dem Händler fertig werden!“

„Nein,“ antworteten die prinzipiellen Ochsen ihrem Ratgeber, „du deckst die Feinde von links, bist selbst ein Sozialschlächter!“

Und sie weigerten sich, die Reihen zu schließen. (aus Äsops Fabeln) [33]

Die KPD hielt an ihrem schicksalhaften Kurs fest. Hitler kam an die Macht. Die Arbeiterbewegung wurde vernichtet.

 

 

Die Volksfront und die spanische Revolution

Nach dem Sieg Hitlers in Deutschland fühlten sich die Führer der Sowjetunion dazu gezwungen, eine Art „Versicherung“ durch ein militärisches Bündnis mit den damals wichtigsten Westmächten Frankreich und Großbritannien zu suchen. Als Werkzeug von Stalins Diplomatie – denn das war sie allmählich geworden – wurde die Komintern jetzt jäh nach rechts gelenkt. Der 7. (und letzte) Kongreß wurde 1935 eröffnet, um der Weltöffentlichkeit klarzumachen, daß Revolutionen nicht mehr auf der Tagesordnung stünden. Stattdessen wurde „die vereinte Volksfront im Kampf für den Frieden und gegen die Kriegshetze“ verlangt. „Alle diejenigen, die am Erhalten des Friedens Interesse haben, sollen in die Einheitsfront einbezogen werden,“ hieß es. [34]

Unter denjenigen, die am Erhalt des Friedens Interesse hatten, befanden sich auch die Sieger von 1918, nämlich die herrschenden Klassen Frankreichs und Großbritanniens, deren Gunst die neue Linie zu gewinnen suchte. „Heute ist die Lage nicht mehr so wie 1914,“ erklärte im Mai 1936 das EKKI.

Heute sind nicht nur die Arbeiterklasse, die Bauernschaft und die arbeitenden Massen entschlossen, den Frieden zu erhalten, sondern auch die unterdrückten Länder und die schwachen Nationen, deren Unabhängigkeit durch den Krieg gefährdet ist ... In der gegenwärtigen Phase bemühen sich auch eine Reihe von kapitalistischen Staaten darum, den Frieden zu erhalten. So entsteht die Möglichkeit, gegen die Gefahr eines imperialistischen Krieges eine breite Front der Arbeiterklasse, der arbeitenden Massen und ganzer Nationen zu bilden. [35]

Eine solche „Front“ diente selbstverständlich und unvermeidlich nur dem Erhalt des imperialistischen Gleichgewichts. Um diese Tatsache zu verschleiern, wurde weidlich reformistische Rhetorik benutzt, was eine Zeitlang große Erfolge brachte. Der weitverbreitete Wunsch nach Einheit brachte die Kommunistischen Parteien anfänglich in der Tat deutliche Gewinne. Zwischen 1934 und Ende 1936 wuchs z.B. die französische Partei von 30.000 bis auf 150.000 an, die 100.000 Mitglieder der Kommunistischen Jugend nicht mitgerechnet. Die spanische Partei, die am Ende der „dritten Periode“ (1934) weniger als tausend Mitglieder hatte, wuchs bis Februar 1936 auf 35.000 und bis Juli 1937 auf 117.000 Mitglieder an. Neue Mitglieder wurden gegen jegliche Kritik von links geschützt, indem die Komintern den Glauben schürte, daß die Trotzkisten wortwörtlich Agenten des Faschismus seien.

Im Mai 1935 wurde ein Nichtangriffspakt zwischen Frankreich und der Sowjetunion unterschrieben. Im Juli desselben Jahres waren die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) und die Sozialistische Partei (SFIO) zu einer Übereinstimmung mit der Radikalen Partei, dem Rückgrat der französischen bürgerlichen Demokratie, gekommen. Mit einem Programm der Reform und für ein „kollektives Sicherheitssystem“ gewann im April 1936 die aus diesen drei Parteien bestehende „front populaire“ die Nationalwahl. Die PCF, die mit der Parole „Für ein starkes, freies und glückliches Frankreich“ in die Wahl ging, bekam 72 Sitze und wurde so ein unverzichtbarer Bestandteil der parlamentarischen Mehrheit Leon Blums, des Führers der SFIO und Premierministers der „front populaire“. Maurice Thorez, Generalsekretär der PCF, konnte mit Stolz erklären: „Wir haben von unseren Feinden die Dinge, die sie von uns gestohlen und mit den Füßen getreten hatten, mutig zurückerobert. Wir haben uns die Marseillaise und die Trikolore zurückgeholt.“ [36]

Dem Wahlsieg der Linken folgte eine gewaltige Streik- und Fabrikbesetzungswelle, an der sich im Juli 1936 sechs Millionen Arbeiter beteiligten. Jetzt bemühte sich der ehemalige Befürworter des „Aufstiegs der revolutionären Kämpfe“, diese Bewegung einzuschränken und zu bremsen und sie auf der Basis der Zugeständnisse des „Matignon-Abkommens“ (das die 40-Stunden-Woche und bezahlten Urlaub vorsah) zu beenden. Bevor das Jahr zu Ende war, hatte sich die PCF weiter nach rechts bewegt als der sozialdemokratische Bündnispartner, indem sie die Erweiterung der Volksfront zu einer „Französischen Front“ durch die Eingliederung von rechten, deutschfeindlichen Nationalkonservativen verlangte.

Da das Bündnis mit Frankreich ein Stützpunkt in Stalins Außenpolitik geworden war, spielte die französische Partei eine bahnbrechende Rolle für die neue Politik, die aber bald von der ganzen Komintern übernommen worden war. Nach Francos Versuch, die Macht zu ergreifen, brach im Juli 1936 die spanische Revolution aus. Die Kommunistische Partei Spaniens (PCE), schon Teil der regierenden Volksfront, die die Februarwahl gewonnen hatte, tat alles in ihrer Macht stehende, um zu verhindern, daß die Bewegung den Rahmen der „Demokratie“ sprengte. Und mit Hilfe der russischen Diplomatie und natürlich der Sozialdemokraten hatte sie dabei viel Erfolg. Jesus Hernandez, Redakteur der Tageszeitung der PCE legte die neue Politik folgendermaßen aus:

Es ist völlig falsch zu behaupten, daß die gegenwärtige Arbeiterbewegung nach dem Bürgerkrieg das Ziel hat, die proletarische Diktatur zu errichten ... Wir Kommunisten weisen diese Vermutung nachdrücklich zurück. Wir sind allein von dem Wunsch bewegt, die demokratische Republik zu verteidigen. [37]

Dieser Parteilinie entsprechend verschob die PCE zusammen mit ihren bürgerlichen Bündnispartnern die Politik der republikanischen Regierung immer weiter nach rechts. Eine ihrer ersten Handlungen im Laufe des sich hinziehenden Bürgerkriegs war, die POUM, eine Partei links von der PCE, aus der Regierungskoalition zu treiben. Trotzki hatte die Organisation heftig kritisiert, als sie der Volksfront beigetreten war. Er hatte vorausgesagt, wie sie sich so politisch entwaffnen und gleichzeitig der PCE wie auch den linken Führern der Sozialistischen Partei Rückendeckung von links geben werde.

„Die Verteidigung der republikanischen Ordnung, solange sie die Verteidigung des Eigentumsrechts umfaßt,“ müßte in der spanischen Republik zu einer Terrorwelle gegen die Linke führen, die wiederum den Weg für den Sieg Francos vorbereitete. [38]

Im Dezember 1937 schrieb Trotzki folgendes:

Das spanische Proletariat hat erstklassige Kampfeigenschaften an den Tag gelegt. Seinem spezifischen Gewicht in der Wirtschaft des Landes, seinem politischen und kulturellen Niveau nach stand es vom ersten Tag der Revolution an nicht unter, sondern über dem russischen Proletariat vom Beginn des Jahres 1917. Die Haupthindernisse, die seinem Sieg im Wege standen, waren seine eigenen Organisationen. Die kommandierende Clique der Stalinisten bestand ihren konterrevolutionären Funktionen entsprechend aus bezahlten Agenten, Karrieristen, deklassierten Elementen und überhaupt allem möglichen sozialen Abfall. Die Vertreter der anderen Arbeiterorganisationen – schwächlichen Reformisten, anarchistischen Phrasendreschern, hilflosen POUM-Zentristen – brummten, seufzten, schwankten, manövrierten, paßten sich aber letzten Endes den Stalinisten an. Das Ergebnis dieses ihres Handinhandarbeitens war, daß das Lager der sozialen Revolution – die Arbeiter und Bauern – sich der Bourgeoisie, richtiger, ihrem Schatten unterstellt, seines Wesens, seiner Seele und seines Blutes beraubt sah.

Am Heldentum der Massen, oder am Mut einzelner Revolutionäre fehlte es nicht. Aber die Massen waren sich selbst überlassen und die Revolutionäre isoliert, ohne Programm, ohne Aktionsplan. Die „republikanischen“ Heerführer kümmerten sich mehr um die Unterdrückung der sozialen Revolution als um militärische Siege. Die Soldaten verloren das Vertrauen zu den Kommandanten, die Massen das Vertrauen zur Regierung, die Bauern hielten sich abseits, die Arbeiter ermüdeten, Niederlage folgte auf Niederlage, die Demoralisierung wuchs. All das war unschwer schon zu Beginn des Bürgerkrieges vorauszusehen. Dadurch, daß die Volksfront sich die Aufgabe stellte, das kapitalistische Regime zu retten, weihte sie sich der militärischen Niederlage. Den Bolschewismus auf den Kopf stellend, spielte Stalin mit vollem Erfolg die Rolle des Haupttotengräbers der Revolution. [39]

Heutzutage versucht kaum jemand (außer einer Handvoll winziger unbedeutender ehemalig maoistischer Sekten), die stalinistische Linie der „3. Periode“ zu rechtfertigen. Was die Volksfront betrifft, sehen die Dinge anders aus. Wenn man von Unterschieden in Ort und Zeit absieht, sind der „Eurokommunismus“ und der sogenannte „historische Kompromiß“ nichts anderes als eine Neuauflage der Volksfrontpolitik. Weiterhin wiederholen einige von denen, die formell der eurokommunistischen Strömung weit links stehen, im Wesen die gleichen Fehler, die Trotzki unter dem Motto „Anglo-Sowjetischem Gewerkschaftskomitee“ bekämpfte.

Die zentralen Fragen sind also nicht nur von historischer Bedeutung, sondern auch von unmittelbarem praktischem Interesse. Trotzkis Schriften über Strategie und Taktik bezüglich dieser wichtigen Fragen sind eine wahre Schatzkammer. Seit 1923 hat keiner Analysen hervorgebracht, die in Weitsichtigkeit und Scharfsinn mit seinen zu vergleichen sind. Für Revolutionäre sind sie heute noch wirklich unverzichtbar.

 

 

Anmerkungen

1. Protokoll des 1. Weltkongreß der Komintern, Erlangen, 1972.

2. J. Degras: The Communist International 1919-1943, Bd.1, London 1971, S.16. (aus dem Englischen übersetzt.)

3. ebenda, S.6.

4. Lenin: Collected Works, Bd.28, Moskau 1960 S.455. (aus dem Englischen.)

5. Vgl. S. Haffner: Failure of a Revolution: Germany 1918-1919, London 1973, S.152.

6. Lenin: ebenda,. Bd.21. S.40. Ebenfalls: Lenin u. Sinowjew. Gegen den Strom, S.6. Von: J. Braunthal. Geschichte der Internationale, Bd.2, Berlin 1978. S.57-8.

7. J. Degras, a.a.O., Bd.1, S.12-3.

8. ebenda, S.19.

9. Lenin: a.a.O., Bd.25, S.393.

10. ebenda, S.311.

11. Degras, a.a.O., S.13.

12. Lenin: a.a.O., Bd.31, S.206-7.

13. Lenin: ebenda, S.206. Vergl. auch: Referat über die Internationale Lage und die Hauptaufgabe der Kommunistischen Internationale. Lenin: Ausgewählte Werke. Bd.3. S.517-9.

14. vgl. Lenin: Referat über die Internationale Lage und die Hauptaufgabe der Kommunistischen Internationale, in Lenin: Ausgewählte Werke, Bd.3, S.517-9. (Anmerkung des Herausgebers.)

15. Degras: a.a.O., Bd.1, S.109.

16. Protokoll des 2. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, Erlangen 1972, S.91-3.

17. ebenda, S.95.

18. Trotsky: The First Five Years of the Communist International, Bd.1, New York 1935, S.141.

19. ebenda, S.303-5.

20. ebenda, S.294-5.

21. J. Degras: a.a.O., Bd.1, S.230.

22. Trotsky: The First Five Years ..., Bd.2. S.91-5.

23. Leon Trotsky: Writings of Leon Trotsky 1932-33, New York 1972, S.51-5.

24. E.H. Carr: The Interregnum 1923-24, Harmondsworth 1965, S.221.

25. Trotsky: Lessons of the General Strike, in Trotsky’s Writings on Britain, Bd.II, London 1974, S.241 u. 245.

26. ebenda, S.244. (Hervorhebung im Originaltext.)

27. ebenda, S.252-3.

28. J. Degras. The Communist International 1919-1943, Bd.3, London 1971, S.44.

29. ebenda, S.159.

30. ebenda, S.224.

31. Trotzki: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, September 1930, S.31.

32. Trotzki: Was nun?, Januar 1932.

33. Trotzki: Was nun?, zit. nach L. Trotzki: Schriften über Deutschland, Frankfurt 1971, S.304.

34. Degras: a.a.O., Bd.3, S.375.

35. ebenda, S.390.

36. ebenda, S.384.

37. F. Morrow: Revolution and Conterrevolution in Spain, New York 1938, S.34.

38. ebenda, S.35.

39. Trotzki: Spanische Lehren, Berlin 1976, S.15-16.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.3.2001