Duncan Hallas

 

Trotzkis Marxismus

 

Einleitung

Leo Trotzki wurde 1879 geboren und wuchs zur Reife und zum Bewußtsein auf in einer Welt, die zu Ende gegangen ist, der Welt des sozialdemokratischen Marxismus der Zweiten Internationale.

In jeder Generation gibt es viele mögliche Geisteswelten, die in außerst verschiedenen Umständen, gesellschaftliche Organisationsweisen und Ideologien verwurzelt sind, die gleichzeitig existieren. Die der Sozialdemokratie war die fortschrittlichste, die engste Annäherung an eine wissenschaftliche materialistische Weltanschauung, die damals existierte.

Daß Lew Dawidowitsch Bronstein (den Namen Trotzki borgte er von einem Gefängniswärter), Sohn einer ukrainisch-jüdischen Bauernfamilie, diese Weltanschauung erlangte, war merkwürdig genug. Der ältere Bronstein war ein wohlhabender Bauer, ein Kulak – sonst hätte Trotzki sehr wenig formelle Ausbildung bekommen –, und er war Jude in einem Land, wo der Antisemitismus offiziell ermuntert wurde und wirkliche Pogrome nicht selten waren. Jedenfalls wurde der junge Trotzki nach einer anfänglichen Periode der romantischen Revoluzzertums [Revolutionismus] Marxist – und sehr bald unter den Bedingungen der zaristischen Autokratie Berufsrevolutionär und politischer Gefangener. Zum ersten Mal im alter von 19 Jahren verhaftet, wurde er zu 4vier Jahre Verbannung nach Sibirien verurteilt, nachdem er 18 Monate im Gefängnis verbracht hatte. Er entkam 1902 und von da an bis zu seinem Tode war die Revolution sein Beruf.

Dieses kleine Büchlein beschäftigt sich mit Ideen eher als mit Ereignissen. Am allerwenigsten ist es ein Versuch,eine Biographie zu schreiben. Die drei Bände von Isaac Deutscher werden lange die maßgebende biographische Studie bleiben, egal was man von den politischen Schlußfolgerungen des Autors denkt.

Trotzdem stoßt jeder Versuch, eine Zusammenfassung der Trotzki’schen Ideen darzustellen, sofort auf eine Schwierigkeit. Viel mehr als die meisten marxistischen Denker (Lenin war eine hervorragende Ausnahme) beschäftigte sich Trotzki während seines ganzen Lebens mit den unmittelbaren Problemen, die vor Revolutionären in der Arbeiterbewegung standen. Faß jede Sache, die er sagte oder schrieb, bezieht sich auf irgendwelche unmittelbare Frage, auf irgendwelchen aktuellen Kampf. Der Gegensatz zu dem, was später den „westlichen Marxismus“ benannt wurde, könnte kaum auffälliger sein. Ein sympathisierender Chronist der letzteren Tendenz hat geschrieben: „Das erste und grundsätzlichste seiner Merkmale ist die strukturelle Trennung dieses Marxismus von der politischen Praxis.“ [1] Das ist das letzte, das man je über den Trotzki’schen Marxismus behaupten könnte.

Deshalb muß man einige Elemente des Hintergrunds darstellen, gegen das Trotzki seine Ideen bildete, egal wie flüchtig und unzulänglich diese Darstellung sein mag.

Rußland war rückständig, Europa fortschrittlich [fortgeschritten]. Das war sie Grundvorstellung aller russischen Marxisten (und natürlich nicht allein der Marxisten). Europa war fortgeschritten deswegen, weil seine Industrialisierung gut entwickelt war, und weil die Sozialdemokratie in der Form beträchtlicher sich auf dem marxistischen Programm berufener Arbeiterparteien schnell wuchsen. Für die Russen (und gewissermaßen für alle) waren die Parteien der deutschsprachigen Länder die wichtigsten. Die sozialdemokratischen Parteien im Deutschen und im Österreichischen Reich waren wachsende Arbeiterparteien, die völlig marxistischen Programme angenommen hatten (das deutsche Erfurter Programm 1891 und das österreichische Heinfelder Programm 1888). Ihr Einfluß auf russischen Marxisten war gewaltig. Die Tatsache, daß Polen, dessen Arbeiterklasse sich schon bewegte, zwischen den Reichen des Zaren und der beiden Kaiser geteilt war, verstärkte die Verbindung. Man erinnert sich sicher daran, daß Rosa Luxemburg im von Rußland besetzten Polen geboren wurde, wurde aber bekannt in der deutschen Bewegung. Das war keineswegs ungewöhnlich. Sozialdemokraten damals betrachteten „nationale“ Grenzen als etwas zweitrangig.

In bezug auf Ideen wurde diese wachsende Bewegung (in Deutschland zwischen 1878 und 1890 illegal, die aber 1890 anderthalb Millionen Stimmen bei einem beschränkten Wahlrecht gewann) durch die von Friedrich Engels errungene Synthese des frühen Marxismus und der Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts aufrechterhalten. Sein Buch Anti-Dühring (1878) – ein Versuch, eine allgemeine wissenschaftlich begründete Weltanschauung zu bilden – war die Grundlage für die Popularisierungen (Vulgarisierungen) von Karl Kautsky, dem „Papst des Marxismus“, und der tiefergreifenden Darstellungen des Russen G.W. Plechanow.

In dieser aufregenden intellektuellen und praktischen Welt – denn Engels und seine Anhänger und Nachahmer hatten eine Verbindung zwischen der Theorie und der Praxis in der Arbeiterpartei gebildet – wuchs Trotzki intellektuell auf und wurde bald zu Meer als einem Anhänger seiner Älteren. Seine Achtung vor Engels war riesig.

Trotzdem forderte er innerhalb einiger Jahren seiner ersten Aufnahme der marxistischen Weltanschauung die damalige marxistische Orthodoxie in der Frage der rückständigen Ländern heraus. Aber zuerst traf er die Führer des russischen Marxismus im Exil und spielte eine auffallende Rolle beim 1903er Parteitag der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei – der wirklichen Gründungskonferenz.

Trotzki entkam aus Wercholensk in Sibirien versteckt unter einer Ladung Heu im Sommer 1902. Bis Oktober war er beim leitenden Zentrum der russischen Sozialdemokratie angekommen, das damals in der Nähe vom Bahnhof Kings Cross lag. Lenin, Krupskaja, Martow und Wera Sassulitsch wohnten alle in diesem Gegend und hieraus wurde Iskra, der Organ der Befürworter einer zentralisierten disziplinierten Partei, hergestellt und an das Untergrund in Rußland geschickt. Trotzki wurde bald in die Auseinandersetzungen in der Iskra-Redaktion eingezogen – Lenin wollte ihn in die Redaktion einbringen, Plechanow wandte sich entschlossen gegen die Idee –, und dadurch lernte er im engsten Kreis die künftigen Führer des Menschewismus, Plechanow und Martow, sowie Lenin kennen. Denn die Spaltung der Iskra-Gruppe brütete schon.

Sie wurde offen beim Parteitag im Sommer 1903. Die Iskra-Anhänger standen zusammen und leisteten Widerstand gegen die Forderungen der jüdischen sozialistischen Organisation, des Bunds, für Autonomie in bezug auf Arbeit unter jüdischen Arbeitern und gegen die reformistische Neigung der Ökonomisten. Dann spaltete sich die Iskra-Gruppe selbst in die bolschewistische Mehrheit und die menschewistische Minderheit.

Die Sache war zuerst nicht klar – selbst die Streitfragen waren noch nicht im klaren. Am Anfang stellte sich Plechanow an Lenins Seite, Trotzki unterstützte den menschewistischen Führer Martow.

Zwei Jahre später war Trotzki zurück in Rußland. Die 1905er Revolution war im Gange. In deren Verlauf stieg Trotzki auf seine volle Größe. Immer noch bloß 26 Jahre alt wurde er zum prominentesten einzelnen revolutionären Führer und zu einer international bekannten Persönlichkeit. Er tauchte aus dem Hintergrund der Kleingruppen- und Emigrantenpolitik auf und verwandelte sich in einen großartigen Redner und einen Massenführer. Als Präsident Dress Petersburger Sowjets konnte er einen beträchtlichen Grad an taktischer Führung ausüben und zeigte dasjenige Gespür und diejenigen eisernen Nerven, die ihn während der größeren Umwälzungen von 1917 gekennzeichneten.

Die Revolution wurde niedergeschlagen. Das zaristische Heer wurde erschüttert, aber nicht gebrochen. Aus der Erfahrung – der „Generalprobe“, wie Lenin sie nannte – bewegten sich die voneinander abweichenden Tendenzen in der Sozialdemokratie weiter auseinander. Namentlich immer noch ein Menschewik entwickelte Trotzki seine eigene einzigartige Synthese, die Theorie der permanenten Revolution.

Den nächsten Jahrzehnt verbrachte er wieder in den kleinen Emigrantenkreisen und versuchte immer wieder vergeblich, die bis jetzt unvereinbaren Tendenzen zu vereinigen. Dann kam der Krieg, die Tätigkeit gegen den Krieg und Februar 1917 den Sturz des Zaren. Juli 1917 trat Tootzki der Bolschewistischen Partei bei, die jetzt eine wirkliche Massenarbeiterpartei geworden war, und die Kraft seiner Persönlichkeit, seiner Talente und seines Rufs war so gewaltig, daß innerhalb von Wochen er in der ersten Reihe in den Augen der Masse der Parteianhänger stand, nur Lenin hatte Vorrang über ihn. Ihm wurde die eigentliche Organisation des Oktoberaufstands; im Alter von 38 wurde er zu einer der zwei oder drei wichtigsten Persönlichkeiten in Partei und Staat und ein bißchen später wurde er auch zu einem der bedeutendsten Führer der weltweiten kommunistischen Bewegung, der Kommunistischen Internationale. Er war der Hauptgründer und -leiter der Roten Armee und übte Einfluß in jedem politischen Bereich aus.

Trotzkis Schicksal war es aber, von diesen Höhen niedergeschlagen zu sein. Der Fall war nicht einfach eine persönliche Tragödie. Trotzki stieg während des Aufstiegs der Revolution auf und fiel während des Niedergangs der Revolution. Seine persönliche Geschichte ist mit der Geschichte der Russischen Revolution und des internationalen Sozialismus zusammengeschmolzen. Ab 1923 führte er die Opposition [den Widerstand] gegen die wachsende Reaktion in Rußland – gegen den Stalinismus. Aus der Partei 1927 ausgeschlossen und aus der UdSSR 1929 ausgewiesen, verbrachte er seine letzten elf Jahre bei einem heldenhaften [heroischen] Kampf mit fast unmöglichen Chancen, um die authentische [echte] kommunistische Tradition am Leben zu halten und sie in einer revolutionären Organisation zu verkörpern. Verunglimpft und isoliert wurde er schließlich 1940 auf Stalins Befehl ermordet. Er hinterließ eine gebrechliche internationale Organisation und einen Schriftenschatz, der eine der reichsten bestehenden Quellen des angewandten Marxismus ist.

Dieses Buch konzentriert sich auf vier Themen. Sie schöpfen keineswegs den Trotzki’schen Beitrag zum marxistischen Denken nicht aus, denn er war ein außergewöhnlich produktiven Schriftsteller mit ungewöhnlich breiten Interessen.

Nichtsdestotrotz beschäftigte sich sein Lebenswerk zentral mit diesen vier Fragen und die überwiegende Mehrheit seiner umfangreichen Schriften beziehen sich darauf in einer oder der anderen Weise.

Sie sind: Erstens die Theorie der „Permanenten Revolution“, ihre Relevanz für die russischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts und späteren Entwicklungen in den kolonialen und halbkolonialen Ländern – denjenigen, die man heute die „Dritte Welt“ nennt.

Zweitens das Ergebnis der russischen Oktoberrevolution und die ganze Frage des Stalinismus. Trotzki machte den ersten ausdauernden Versuch, eine historisch-materialistische Analyse des Stalinismus durchzuführen, und seine Kritik, egal welche Kritiken man vielleicht davon machen muß, ist der Ausgangspunkt für alle späteren ernsthaften Analysen von einem marxistischen Standpunkt gewesen.

Drittens die Strategie und Taktik von revolutionären Massenparteien in einer breiten Vielfalt von Situationen, ein Gebiet, worauf der Trotzki’schen Beitrag keineswegs dem Marxschen und dem Leninschen unterlegen ist.

Viertens das Problem des Verhältnisses zwischen Partei und Klasse und die historische Entwicklung, die die revolutionäre Bewegung auf einen Randstatus in Hinsicht der Massenorganisationen der Arbeiterklasse reduzierte.

Isaac Deutscher beschrieb Trotzki während seiner letzten Jahre als den „Erben des übriggebliebenen Nachlasses des klassischen Marxismus“. Das war er, und viel mehr. Es ist genau das, was seinem Denken ihre enorme aktuelle Relevanz verleiht.

 

 

Anmerkung

1. Perry Anderson: Considerations on Western Marxism, London 1976, S.29.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.3.2001