Duncan Blackie u.a.

 

Der Zerfall Jugoslawiens
und
der Krieg auf dem Balkan

(Teil 2)

 

Die Generalprobe

Die Integration in den Weltmarkt hatte zwei Folgen. Die eine war, daß das Schicksal der jugoslawischen Wirtschaft von der restlichen Welt abhängig war (und wir werden noch sehen, was für katastrophale Folgen die Weltwirtschaftskrise für Jugoslawien hatte). Die zweite Folge war, daß die regionalen Bürokratien der wettbewerbsfähigeren Teile Jugoslawiens ein größeres Verlangen nach einer Abspaltung entwickelten.

Besonders in den nördlichen Republiken war dies zu beobachten. Mit ihren relativ entwickelten Volkswirtschaften hatten sie sich schon länger Chancen auf dem Weltmarkt ausgerechnet. Die Republikversammlung von Bosnien-Herzegowina, im armen Süden, verabschiedete daher 1968 eine Resolution, in der man „Ausgleichszahlungen für die ungünstigen Auswirkungen eines integrierten Marktes“ verlangte. Die slowenische Parteiführung dagegen forderte eine stärkere Integration in den westeuropäischen Markt und unterstützte dahingehende Massendemonstrationen auf den Straßen von Ljubljana. Beinahe wäre die Bundesregierung gestürzt, bevor die Kampagne gestoppt wurde. [40]

Allerdings wurde die Kampagne auf konsequentere Art und Weise in Kroatien wiederaufgenommen. Drei Punkte kamen hier zur Sprache: Die Bundeskontrolle über ausländische Gewinne in Kroatien, die Unterstützung ärmerer Regionen durch Republiken wie Kroatien mittels des Investitions-Fonds sowie die dominierende Stellung der Belgrader Banken, die angeblich Investitionen in Belgrad förderten. Die meisten Elemente der gegenwärtigen Krise zeichneten sich bereits damals ab:

Das waren alte Klagen. Aber es gab neue Faktoren, die sie gefährlicher machten. Vor allem gab es den Hintergrund einer steigenden Inflation, eines riesigen Zahlungsbilanzdefizits, steigenden Lebenshaltungskosten und zunehmender Arbeitslosigkeit. Zwar stieg die industrielle Produktion von 1968-71 um 43 Prozent, aber selbst der offizielle Index der Lebenshaltungskosten verzeichnete einen fast ebenso hohen Anstieg. 1971 betrug der durch Exporte gedeckte Anteil an Importen gerade 55,5 Prozent (1965 noch 84,7 Prozent), und die Zahl der jugoslawischen Gastarbeiter stieg auf 800.000 – mehr als ein Fünftel der im Lande Beschäftigten. Daher schienen ökonomische Kontrollen vom Zentrum nötiger denn je zu sein. Gleichzeitig wurde mehr und mehr deutlich, daß der Bundesapparat seit 1969 zunehmend ineffektiv arbeitete, selbst wenn er nicht von Vetos der Republiken lahmgelegt war. Im Winter 1970/71, z.B., schlug der Versuch, Preiskontrollen einzuführen, fehl, weil die betroffenen Unternehmen erklärten, ihre Produkte seien neuartig und deshalb nicht an die Kontrollen gebunden. [41]

Die kroatischen Kommunisten-Führer (einschließlich des heutigen Präsidenten Kroatiens Franjo Tudjman) waren damals darauf aus, mit dem Zentrum eine günstigere Stellung im Bund auszuhandeln. Die Krise war noch nicht ernst genug, als daß sie es riskiert hätten, die Sicherheit der Föderation zu verlassen und sich in die gefährlichen Gefilde des Weltmarktes zu wagen. Ihr Flirt mit nationalistischen Forderungen schuf jedoch schon bald eine Situation, in der sie wählen mußten zwischen Belgrad auf der einen oder Lostrennung auf der anderen Seite.

Der kroatische Nationalismus befand sich seit 1967 im Aufwind. 1968 hatte Matica Hrvatska mit der Herausgabe der Zeitschrift Kritika begonnen; 1970 hatte die Organisation eine Massenbasis. Die Nationalisten waren allerdings nicht die einzige stärker werdende Opposition. 1968 entstand im Kosovo eine starke Bewegung gegen die nationale Unterdrückung, die zerschlagen werden konnte; Belgrad war ein Zentrum für einen radikalen Liberalismus, und die Studenten forderten auf den Straßen „Nieder mit der roten Bourgeoisie“; radikale Intellektuelle sammelten sich um die Zeitschrift Praxis in den Kneipen Ljubljanas.

Eine Bewegung, die an diese Oppositionsgruppen zum Zwecke eines gemeinsamen Kampfs appelliert hätte – die Kämpfe der Arbeiter in Zagreb und Belgrad gegen die zentrale Bürokratie vereinigend – hätte den zentralen Staatsapparat lahmlegen können. Um dies zu erreichen, hätten sich die Bewegung jedoch darauf konzentrieren müssen, eine politische Opposition zum bestehenden System aufzubauen und Alternativen auszuarbeiten, die die Belange aller Nationalitäten berührt hätten.

Matica jedoch bewegte sich in eine andere Richtung – hin zu einem Kulturnationalismus. Die Organisation betonte alles, was an den Kroaten anders war, und lieferte der zentralen Bürokratie somit einen guten Ansatzpunkt, um einen Keil zwischen Kroaten und Arbeitern in Belgrad zu treiben. Es gelang der Regierung sogar, Serben in Kroatien mit dem Schreckgespenst einer drohenden nationalen Verfolgung zu mobilisieren.

Das soll nicht heißen, daß Matica und ihre Anhänger „Faschisten“ waren (wenngleich die größten Auslandsorganisationen zu dieser Zeit in München den 30. Jahrestag des faschistischen Staates im 2. Weltkrieg feierten). Es bedeutete jedoch, daß das Mißtrauen gegenüber den kroatischen Nationalisten so groß war, daß Teile der Serben begannen, sich zu bewaffnen. „Als diese Manifestationen des kroatischen Nationalismus zunahmen, erinnerte sich die serbische Bevölkerung Kroatiens wieder an die furchtbaren Massaker des Jahres 1941 und traf Vorbereitungen zur Selbstverteidigung.“ [42]

Scharfe Drohungen von Tito – einschließlich der Anspielungen auf die Möglichkeit, Breschnews Panzer einzuladen – reichten schließlich aus, um die kroatischen Kommunisten-Führer einzuschüchtern. Ende 1971 bis Anfang 1972 wurde die nationalistische Bewegung zerschlagen; es kam zu über 400 Festnahmen, und Matica wurde verboten. Allerdings mußte Tito auch Reformen durchführen, um eine Wiederholung der Krise zu verhindern. Diese Reformen fanden ihren Niederschlag in der Verfassung von 1974, die den Provinzen Kosovo und Wojwodina in Serbien größere Autonomie zugestand und den Regierungen der einzelnen Republiken mehr Macht übertrug.

Es hatte sich also das Muster wiederholt, daß eine verstärkte Marktorientierung zu wirtschaftlicher Dezentralisierung führte, was wiederum die Versuchung einer politischen Lostrennung stärkte. Die Antwort der Zentrale darauf war ein kurzes hartes Durchgreifen, gefolgt von mehr Dezentralisierung. Ein wichtiges Merkmal dieser Ereignisse unterscheidet sie allerdings von dem, was sich in den achtziger Jahren abspielen sollte. 1971 flirteten die Kommunisten mit einer nationalistischen Bewegung, ließen sie dann jedoch fallen, als sie sie nicht länger für ihre Zwecke benutzen konnten. In den achtziger Jahren hingegen benutzten die Herrscher den Nationalismus, um ihre Haut zu retten, waren dann aber nicht mehr in der Lage, ihn wieder zu stoppen.

 

Die Wirtschaftskrise von 1973 (sogenannte Ölkrise) ließ den Wert der Exporte um 25 Prozent sinken, was 34 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachte. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete schätzungsweise ein Viertel der gesamten Arbeiterschaft im Ausland. Die Krise traf diese Arbeiter ebenfalls, was dazu führte, daß viele von ihnen nach Jugoslawien zurückkehrten bzw., daß die weiterhin im Ausland Beschäftigten ihre Überweisungen in die Heimat drastisch kürzten. Die Arbeitslosenrate stieg 1973 auf 4,2 Prozent und 1976 auf 11 Prozent an. [43] Trotzdem schien die Kreditaufnahme im Ausland in den siebziger Jahren die Krise lösen zu können. In dieser Zeit kam auch die Bezeichnung „Wunderwirtschaft“ auf.

Die Krise von 1979 traf die Wirtschaft erneut hart. Das Zahlungsbilanzdefizit erreichte 6 Prozent des Bruttosozialprodukts, und eine neue Runde der Kreditaufnahme wurde eingeläutet. [44] Jede neue Krise wurde noch dadurch verschlimmert, daß der Staat vollkommen unfähig war, angemessen zu reagieren: „Die internen politischen und sozialen Belastungen des Landes verschlimmerten die bestehenden wirtschaftlichen Probleme so sehr, daß Jugoslawien in eine permanente Krise gestürzt wurde und der Lebensstandard auf das Niveau von 1967 zurück- fiel.“ [45]

Die herrschende Klasse reagierte mit verstärkter Investitionstätigkeit, was jedoch nicht zu einer Belebung der Wirtschaft führte. Die Zahlungsbilanzkrise verschlimmerte sich sogar noch. Die einzige Lösung lag darin, sich erneut an die westlichen Banken zu wenden, was in den frühen achtziger Jahren natürlich bedeutete, daß man riesige Summen zurückzahlen mußte – 1982 wurden 23 Prozent der Exporterlöse für die Schuldentilgung benötigt. Der Internationale Währungsfond war für eine wachsende Anzahl der Kredite verantwortlich und stellte dementsprechend auch wachsende Ansprüche an die Wirtschaftspolitik. Diese beinhalteten eine Kürzung der Inlandsnachfrage, die Lenkung von Investitionen in den Exportbereich, die Reduzierung des Handelsbilanzdefizits sowie eine Reformierung des Kreditwesens. [46] Die Talfahrt setzte sich fort, und als ein Ergebnis der wirtschaftlichen Probleme entfernten sich die Ökonomien der einzelnen Republiken mehr und mehr voneinander.

Das Stabilisierungsprogramm wurde nicht umgesetzt. „Unter dem Druck ausländischer Gläubiger wurden nur einige Maßnahmen ergriffen, um die Lücken zu stopfen, die sich überdies häufig als kontra-produktiv herausstellten.“ Gleichzeitig sackte der Lebensstandard dramatisch ab, und die ökonomische Krise entwickelte sich zu einer „politischen und sozialen Krise, einer Vertrauenskrise.“ [47] Alle Versuche, vom Zentrum aus einen Aufschwung zu planen, stießen auf die „seit langem in den Republiken und Provinzen bestehende Tendenz zur Autarkie.“ [48]

1981 wurden 66 Prozent des Handels innerhalb der Regionen, 22 Prozent zwischen den Regionen und 12 Prozent mit dem Rest der Welt abgewickelt. „Weniger als 4 Prozent der Investitionen überquerten die Grenzen zwischen den Republiken und Provinzen ... eine Kooperation in Form von Joint Ventures war sehr selten.“

Wir sollten hier kurz verweilen, um auf die „Erfolge“ des sogenannten jugoslawischen Wunders einzugehen. Das System hat auf der ganzen Linie versagt und für die Masse der Bevölkerung eine Verschlechterung des Lebensstandards herbeigeführt. Man muß sich in Erinnerung rufen, daß die Arbeiterlöhne 1961 nicht höher waren als in den dreißiger Jahren, und auch wenn sich die Lage in den sechziger und siebziger Jahren verbesserte, ging es danach beständig abwärts, wobei die weniger entwickelten Gebiete noch stärker darunter zu leiden hatten, als der ohnehin kümmerliche Durchschnitt.

Die folgende Tabelle zeigt, wie sich die verfügbaren Realeinkommen von 1963-85 entwickelt haben: [49]

1963

1973

1979

1982

1984

Ganzes Land

100

170

204

172

144

Kroatien

100

171

199

175

146

Serbien

100

171

211

181

154

Montenegro

100

154

179

155

117

Mazedonien

100

156

174

143

114

Seit 1984 ist der Lebensstandard weiter gefallen, 1988 allein um 24 Prozent. [50] Somit verdienen die Arbeiter nach 40 Jahren fast genau das gleiche wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Bezieht man außerdem den in den letzten drei Jahren erfolgten quasi-Kollaps der jugoslawischen Wirtschaft mit ein, so geht es den Arbeitern schlechter als vor dem Krieg. Das jugoslawische Modell mit seiner Kombination aus bürokratischer Kontrolle und Markt hat sich zunehmend zur wirtschaftlichen Katastrophe hinbewegt. Führung auf Führung versuchte, mit diversen Tricks der Krise zu entrinnen – alle versagten. Und Mitte der achtziger Jahre wurde deutlich, daß sich die herrschende Klasse in einer schweren Krise befand.

 

 

Die Antwort von unten

Der schlechte Zustand der jugoslawischen Wirtschaft führte Mitte der achtziger Jahre zu einer starken Zunahme riesiger Finanzskandale. Der größte dieser Skandale betraf das bosnische Konglomerat Agro-Kommerz, das, unter dem Schutz keines geringeren als des zukünftigen Bundespräsidenten, einen 200 Millionen-Dollar-Schwindel organisierte. 13.000 Arbeiter wurden im Verlauf des Skandals, bei dem auf Geheiß der Republik-Führung Falschgeld gedruckt worden war, entlassen. 1986 waren 2.400 Unternehmen – ein Zehntel der Gesamtanzahl – in ähnliche Fälle verwickelt.

Neben der auseinanderfallenden herrschenden Klasse erhob sich eine andere Kraft, die auf dem Weg schien, die Kontrolle über die Situation zu übernehmen: die Arbeiterklasse. Die Statistik zeigt die steigende Tendenz der Kämpfe – 100 Streiks 1983, 699 1985, 851 1986 und 1.530 im Jahre 1987 mit einer Beteiligung von mehr als 300.000 Arbeitern. Quantität schlug um in Qualität. Es handelte sich nicht länger um isolierte, kurzlebige Aktionen wie in den sechziger Jahren, sondern sie breiteten sich aus und zogen viele an, die sich in Opposition zu den von der Regierung inszenierten Lohnstopps befanden. 1986 begann die herrschende Klasse ihr Selbstvertrauen zu verlieren, und es bestand die Möglichkeit einer Entscheidungsschlacht zwischen Bossen und Arbeitern.

In den Jahren seitdem haben sich die sozialen Spannungen jedoch in eine völlig andere Richtung entwickelt – nicht mehr der gemeinsame Kampf der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten Jugoslawiens gegen ihre „rote Bourgeoisie“ steht auf der Tagesordnung, sondern den verschiedenen Hügeln der herrschenden Klasse Jugoslawiens gelang es, diesen gemeinsamen Kampf der Arbeiter durch das Schüren von Nationalismus zu spalten und somit vorerst die Gefahr zu bannen, von einer erstarkenden Arbeiterbewegung gestürzt zu werden. Im folgenden wollen wir darauf eingehen, wie es zu dieser Entwicklung kam, die schließlich zu den Schrecken des heutigen Krieges im ehemaligen Jugoslawien führte.

 

 

Die Kampagne gegen die Albaner

„Worüber wir hier reden, kann nicht länger Politik genannt werden – es ist eine Frage des Vaterlandes“, sagte der serbische Parteiführer Slobodan Milosevic 1987 vor einer Parteiversammlung. [51] Er kam gerade von einer Massendemonstration der Serben in Kosovo Polje, auf der er an die Kämpfe im Mittelalter gegen die Türken erinnerte haue, um die serbischen Arbeiter davon zu überzeugen, daß die größte Gefahr für sie die in dieser Region lebenden Albaner darstellten. In Kosovo Polje allerdings hatte 1389 eine Schlacht gegen die Osmanen stattgefunden, bei der die Albaner gemeinsam mit den Serben gekämpft hatten! Trotzdem wurde Milosevic begeistert empfangen – ein Resultat der Tatsache, daß die serbische Bevölkerung keine Perspektive sah, ihrer Unzufriedenheit anders Luft zu machen.

Wenn es in Jugoslawien ein Volk gibt, daß seit dem Zweiten Weltkrieg unter nationaler Unterdrückung zu leiden hatte, dann die Albaner, die über 80 Prozent der im Kosovo lebenden Bevölkerung ausmachen. Das von den Großmächten 1913 geformte Albanien beinhaltete nur einen Teil der tatsächlich von Albanern bewohnten Gebiete. Das heutige Kosovo sowie Teile von Mazedonien wurden den Serben 1913 als Entschädigung für ihre Bemühungen in den Balkankriegen zugeschlagen. Zwischen den Weltkriegen wurde Kosovo als besetztes Gebiet betrachtet, und Serben wurden mit finanzieller Unterstützung und Landgeschenken ermutigt, sich dort niederzulassen. In dieser Zeit zogen ca. 40.000 orthodoxe Slawen nach Kosovo und eine halbe Million Albaner wurden vertrieben. [52]

Auch wenn die Nachkriegsordnung einige Verbesserungen für die Albaner brachte, so waren sie noch immer benachteiligt. Während Kroaten, Serben, Slowenen und andere offiziell als „Nationen“ betrachtet wurden und deshalb ihre eigenen Republiken mit dem dazugehörigen Grad an Autonomie vom Zentrum erhielten, nannte man die Albaner eine „Nationalität“. Ihr Staat, so sagte man, sei auf der anderen Seite der Grenze, in Albanien – obwohl es damals in Jugoslawien kein schlimmeres politisches Verbrechen gab, als sich öffentlich mit Albanien zu identifizieren.

Kosovo ist der ärmste Teil Europas. Oft wurde behauptete, daß auch hier ein Wirtschaftswunder stattfand, daß es „ein einmaliges Beispiel einer sozio-ökonomischen Entwicklung“ [53] darstelle. In Wirklichkeit jedoch blieb es stets hinter den anderen Gebieten Jugoslawiens zurück. 1954 betrug das Pro-Kopf-Einkommen 48 Prozent des jugoslawischen Durchschnitts, 1975 ganze 33 Prozent. Das grundlegende Problem bestand darin, daß die Unterstützung vom Zentrum die Zwänge des Marktes nicht ausgleichen konnten. Die industrielle Arbeitsproduktivität betrug nur 70 Prozent und die Kapitalakkumulationsrate weniger als 50 Prozent des nationalen Durchschnitts. [54] 1988 erhielten drei Viertel der Bevölkerung staatliche Hilfe. Die Arbeitslosigkeit betrug 50 Prozent und über 70 Prozent der Frauen waren Analphabeten. [55]

Nach dem Sturz Rankovics 1966 folgte eine kurze Periode der Liberalisierung sowie mehr Autonomie durch die Verfassung von 1974. Als jedoch 1968 Studenten eine Bewegung für wirkliche Unabhängigkeit anführten, wurden sie niedergeschlagen. 1981 kam es erneut zu Protesten: Am 11. März zogen Studenten durch Pristina und forderten eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, woraufhin sie von der Polizei angegriffen wurden. Zwei Wochen später, am 26. März, kam es erneut zu Demonstrationen. [56]

Mitte und Ende der achtziger Jahre verschlechterte sich die Behandlung der Albaner von Seiten der Parteiführer noch, als diese nach Lösungen für ihre chronischen Probleme suchten. Andere Kräfte nahmen die anti-albanische Kampagne auf: Serbische Nationalisten innerhalb und außerhalb der Partei, Intellektuelle, die orthodoxe Kirche sowie ein buntes Gemisch um das Kosovo-Komitee herum entwarfen eine Petition, das sogenannte Memorandum, in dem sie die Partei- und Staatsführung beschuldigten, Hochverrat an der serbischen Sache begangen zu haben, und den Albanern vorwarfen, sie wollten eine „bürgerliche Gesellschaft regiert von einem pro-faschistischen Regime.“

Die serbische Bürokratie sah sich zunehmend zwischen zwei verschiedenen Polen. Die eine Gruppe wollte, nach slowenischem Vorbild, mehr Offenheit und Liberalisierung einführen, in der Hoffnung, auf diese Weise die Unzufriedenheit zumindest teilweise in den Griff zu bekommen. Die andere Gruppe, unter der Führung von Slobodan Milosevic sowie einer Gruppe von Hardlinern, die in den frühen achtziger Jahren an die Spitze des Parteiapparats gelangt waren, bevorzugte eine andere Strategie. Sie wollten eine autoritäre Lösung: zum einen wollten sie die den Republiken und Provinzen zugestandene Autonomie rückgängig machen und zum anderen wollten sie durch das Schüren von Nationalismus die Arbeiterbewegung schwächen, um so die Basis für einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung des Landes zu schaffen.

1987 hatten Milosevic und seine Anhänger die Kontrolle über die Partei in Belgrad erlangt. Sie beeilten sich, sich an die Spitze der serbischen nationalistischen Bewegung zu stellen und diese zu führen. Die offiziellen Medien führten eine lächerliche, aber effektive Verleumdungskampagne gegen die Kosovo-Albaner – von erfundenen Vergewaltigungen serbischer Frauen bis hin zur angeblichen Gefahr einer Übervölkerung durch die so kinderreichen Albaner. Es wurden neue Gesetze verabschiedet, die die serbische Bevölkerung als Kolonialherren wiedereinsetzten. Es erging ein Verbot, Land an Albaner zu verkaufen. Fabriken wurden ausschließlich für Serben gebaut und Albaner wurden von Serben aus ihren Dörfern vertrieben. Und die Medien hetzten: „Laßt uns gehen, Brüder und Schwestern, und Kosovo angreifen.“ [57] Die serbischen Führer behaupteten, daß in der „Wiege der Nation“ ein Völkermord stattfinde, was die Abnahme des serbischen Bevölkerungsanteils in Kosovo bewiese.

Es stimmte, daß viele Menschen, soweit möglich, Kosovo verließen – schließlich war jeder Zweite arbeitslos. Aber während hunderte von jungen Albanern in den letzten Jahren von den Serben getötet wurden, hat bisher noch kein albanischer „Terrorist“ auch nur einen einzigen Serben umgebracht. [58]

Milosevic organisierte in Serbien, Kosovo und der Wojwodina Massenkundgebungen, um die Albaner zu terrorisieren und um mit der Macht von Massenveranstaltungen serbische Arbeiter an den Chauvinismus zu binden und andere Teile der Bürokratie zu disziplinieren. Auf diese Weise gelang es Milosevic, trotz seiner armseligen Bilanz in Bezug auf die Wirtschaft der Republik, eine große Anhängerschaft um sich zu scharen.

Als deutlich wurde, daß es Milosevic darum ging, die Regierungen der Wojwodina, Montenegros sowie Kosovos zu stürzen, wurden sich die Führer der anderen Republiken plötzlich der von ihm ausgehenden Gefahr bewußt. Die Regierung der Wojwodina in Novi Sad wurde durch offiziellen Druck und Massenmobilisierungen zu Fall gebracht. Das gleiche versuchte Milosevic auch in Montenegro. Spätestens die Ereignisse dort hätten jedoch sogar ihm deutlich werden lassen müssen, daß er mit dem Feuer spielte. Zwar konnten die Nationalisten letztendlich die Führung Montenegros absetzen; aber auf dem Weg dorthin hätten sie mehrere Male beinahe die Initiative an die für ihren eigenen Interessen kämpfenden Arbeiter verloren.

Die Ereignisse zeigten, daß in Serbien zwei Stränge der Verbitterung vorhanden waren: Der eine wurde von den Nationalisten hervorgerufen, und der andere durch das in der Arbeiterschaft entstandene Bewußtsein, daß die chauvinistischen Kundgebungen die katastrophale Lage der Wirtschaft nicht würden verbessern können. 58 Prozent der Arbeiter in Belgrad verdienten zu diesem Zeitpunkt nicht genug, um ihre Grundbedürfnisse befriedigen zu können.

Durch das Spielen der nationalistischen Karte haue Milosevic überall die Einsätze erhöht, und so sehr die anderen Parteiführer sein Vorgehen auch bewunderten und zu kopieren versuchten, so wendeten sie sich schließlich doch gegen ihn. Den Kroaten und Serben war es zwar nicht um die Albaner gegangen, aber sie wußten, daß ein bedingungslos triumphierender Milosevic auch sie, die kroatische Bürokratie, in eine schwächere Position drängen würde.

Im November 1988 hatten sich Serben und Bundesführung darauf geeignet, daß die Kosovo-Präsidentin Jashira sowie ihr Nachfolger Vllasi zurücktreten sollten. Dagegen gab es jedoch großen Widerstand. Bergarbeiter setzten sich in Bewegung, um 70 Kilometer nach Pristina zu marschieren, wo sie an einer Demonstration von einer halben Million Menschen teilnahmen (in Kosovo leben gerade 2 Millionen Menschen). Es gelang den Demonstranten zwar nicht, die Rücktritte zu verhindern, aber es wurde der Grundstein gelegt für einen Generalstreik, der Anfang 1989 gegen die serbischen Repressionen inszeniert wurde. 1.300 Bergarbeiter in den Blei- und Zinkminen von Trepca besetzten ihre Schächte und traten für acht Tage in den Hungerstreik.

Die Bergarbeiter erreichten zwar die Entlassung von drei besonders verhaßten Bürokraten, die von den Serben eingesetzt worden waren. Aber nachdem es in Serbien zu Massendemonstrationen gegen die Entlassung kam, wurden diese wiedereingesetzt und führende Streikaktivisten verhaftet. Anfang 1990 verhaftete man Vllasi, Ende des Jahres wurde Kosovo der Direktherrschaft Belgrads unterstellt. Nun sahen sich die Führer der anderen Republiken gezwungen zu handeln. Kroatien und Slowenien zogen ihre Milizen aus dem Kosovo zurück.

Inzwischen verschärfte sich die Krise der Wirtschaft weiter und Milosevic gelang es, die verzweifelte serbische Bevölkerung gegen die unterdrückten Albaner im Kosovo als Sündenböcke aufzubringen. Schließlich gelang es der zerfallenden Bürokratie sogar, nicht unterdrückte Nationen, wie die Kroaten, in den Krieg hineinzuziehen.

 

 

Der zweite Bruch: Serben und Kroaten

Ende der achtziger Jahre gab es oberflächlich betrachtet eine Ruhepause. 1988 und 1989 herrschte eine chronische Inflation, die auf ihrem Höhepunkt 2.500 Prozent betrug. Doch es schien, als ob man die Krise im Griff hätte, nach einer Reihe von Maßnahmen, einschließlich der Einführung des neuen Dinars, der an die DM angebunden wurde. Zu Beginn des Monats April 1990 betrug die Inflationsrate 1,5 Prozent. [59]

In Jugoslawien selbst hauen die Maßnahmen katastrophale Auswirkungen. Die neue Währung konnte lediglich die wirkliche Inflation verschleiern, von der die Arbeiter betroffen waren. „Jugoslawien wurde über Nacht von einem der billigsten Länder in Europa zu einem der teuersten.“ [60]

1987 hatten sich die Republiken Kosovo, Mazedonien und Montenegro alle für bankrott erklärt. Anfang 1990 schrieben selbst in der wohlhabendsten Republik Slowenien 40 Prozent der Unternehmen rote Zahlen. [61] Die Streikwelle ging weiter. Die Produktion fiel 1990 um 23 Prozent und um weitere 21 Prozent in den ersten fünf Monaten 1991. Es gibt keine neueren Daten der gesamtjugoslawischen Wirtschaft – sie hörte ungefähr im Sommer 1991 auf zu existieren, Opfer der politischen Krise, die durch die kränkelnde Ökonomie und die Politik der Herrschenden verursacht worden war. [62]

Wir haben gesehen, wie die ökonomische Krise die Tendenz hatte, die verschiedenen Republiken auseinanderzutreiben, um die Interessen der regionalen Bürokratien zu schützen. Nun antworteten die Führer der Republiken auf die tiefe Krise, indem sie den Nationalismus in nicht gekanntem Ausmaß entfachten, um den Zorn der Arbeiterklasse abzulenken. Die jugoslawische herrschende Klasse setzte kollektiv eine Kette von Ereignissen in Gang, die 1991 zum Auseinanderfallen führte.

Über zwei Jahre, zuerst in Serbien, dann überall, förderten die „kommunistischen“ Bosse ein Anwachsen des Nationalismus, um die Arbeiterbewegung zu stoppen. Aber indem sie dies taten, und gleichzeitig dabei scheiterten, die ökonomischen Bedingungen zu verbessern, bekam die zunächst kontrollierte und manipulierte Bewegung, die 1987 initiiert wurde, zunehmend eine eigene Dynamik. Überall begannen Nationalisten glaubhafter als die Parteibosse zu organisieren. Überall wurde die Forderung nach dem Ende des Kommunismus erhoben. Nun versuchten die kommunistischen Bosse sich aus der Verantwortung für das Chaos zu ziehen.

In Slowenien holte Milan Kucan seine Sektion der Partei aus der Föderalen Liga der Kommunisten heraus und kündigte Wahlen an. Die oppositionelle DEMOS Koalition gewann die Wahlen und nahm schnell die Forderung auf Lostrennung auf, als Voraussetzung um überhaupt über die Zukunft Jugoslawiens zu diskutieren. Kucan selbst schaffte es, Präsident zu bleiben. Und nun benannte dieser langjährige Verbündete der jugoslawischen herrschenden Klasse seine slowenische Kommunistische Partei um in „Partei der demokratischen Erneuerung“. Andere kommunistische Führer frischten ebenfalls ihr Image auf. Die Sozialistische Partei Serbiens wurde geboren aus der Fusion der Kommunistischen Partei mit anderen Frontorganisafionen. In Kroatien änderten die Kommunisten den Namen der Kommunistischen Partei in „Partei der Demokratischen Veränderung“ und riefen Wahlen aus, doch sie konnten nicht an der Macht bleiben. Am 22. April wurden die kroatischen Wahlen von der Kroatischen Demokratischen Union (HDZ) gewonnen.

Die HDZ wird angeführt von Franco Tudjman, einer von Titos Kumpanen, ein Offizier des Generalstabs und ein Bürokrat, zuständig für Kaderfragen in der Armee. [63] Im Sommer 1990 kündigte die HDZ an, daß die föderale Autorität über Kroatien beendet sei. Im Dezember gab es Wahlen in Serbien, die von den ehemaligen Kommunisten gewonnen wurden. Am 22. Dezember nahm das kroatische Parlament eine neue Verfassung an, die das Recht auf Lostrennung vorsah, und am nächsten Tag sprach sich in Slowenien ein Volksentscheid mit über 90 Prozent für die Lostrennung aus. Währenddessen erschütterten die politischen Konsequenzen der ökonomischen Krise die Wirtschaft vollends. Im Frühling 1990 verhängten die Führer Serbiens eine wirtschaftliche Blockade gegenüber Slowenien. Gegen Ende des Jahres hielten die nördlichen Republiken ihre Beiträge für den gemeinsamen Staatshaushalt zurück, mit dem Argument, daß es ungerecht sei, soviel für eine Armee zu zahlen, die im Zweifelsfall gegen sie benutzt würde.

Mit Beginn des Jahres 1991 gab es keine jugoslawische Wirtschaft mehr. Im Januar druckten die Republiken Kroatien, Mazedonien, Montenegro und Serbien alle ihren eigenen Vorrat an Geld. Die serbischen Führer hofften, daß der Vorrat von 1,6 Milliarden Dollar an Geldnoten, den sie heimlich gedruckt hatten, die Arbeiter für eine Weile zufriedenstellen würde. [64] Im Februar scheiterten Verhandlungen über eine neue föderative Struktur. Zu diesem Zeitpunkt hatte schon der Guerillakampf zwischen den Repräsentanten der Republik und den lokalen Serben begonnen. Die Serben machten bei der letzten Volkszählung 12 Prozent der Bevölkerung Kroatiens aus. Einige lebten in vorwiegend serbischen, viele in gemischten Dörfern. Sie und ihre Vorfahren haben mit Kroaten über Jahrhunderte gelebt und gearbeitet. In vielen Fällen ist es unmöglich festzustellen, wer sich zuerst niedergelassen hat.

Milosevic versuchte diese Serben zu seiner Fünften Kolonne zu machen, indem er sie als Frontlinie der serbischen Nation ansprach, die aus ihrer Heimat vertrieben werden, wenn der kroatische Nationalismus nicht geschlagen wird.

Unter seiner Schirmherrschaft wurde im Februar 1990 die „Serbisch Demokratische Partei“ gegründet und im Juli erklärte der serbische Nationalrat die Unabhängigkeit für Serben. Er hätte damit nur wenig Erfolg gehabt, wären nicht zur gleichen Zeit Dinge in Kroatien geschehen, die Erinnerungen an die kurze, aber bittere Periode während des Zweiten Weltkrieges wach riefen, in der serbische Kroaten vom Völkermord bedroht waren.

Tudjman sprach von einem „Groß-Kroatien“, und seine Partei marschierte durch von Serben bewohnte Städte mit der Losung: „Gott im Himmel und Tudjman im Heimatland“. [65] Einer der früheren Berater Tudjmans erklärte:

... wir hätten die Serben in Kroatien politisch entwaffnen sollen, indem wir ihnen kulturelle und rechtliche Autonomie zugesichert hätten ... wir haben es zu spät erlaubt. Der Wahlkampf im letzten Jahr wurde von der Christlich Demokratischen Union mit einem kroatischen nationalistischen Programm gewonnen. Tudjrnan verlangte, daß alle Serben einen Eid auf Kroatien schwören. Das spielte den serbischen Nationalisten und Slobodan Milosevic in die Hände, der uns als Faschisten anklagte.

Im August 1990 stimmten die Serben in Kroatien für eine Autonomie. Die Vertreter Kroatiens ignorierten das Abstimmungsergebnis und schickten Polizeitruppen. Das löste am 28. und 29. September Aufstände in Petrinka, Dvorn na Uni und Donji Lapac in der Nähe von Knin aus. [66]

Der Gärungsprozeß aus ökonomischer Krise, Enttäuschung durch die Kommunisten und Handeln der Nationalisten führte zu einer Situation, in der die Parteibürokraten nur einen blutigen Ausweg sahen – Krieg zu führen.

Anfang 1991 protestierten Tausende von serbischen Arbeitern vor dem Parlamentsgebäude der Republik in Belgrad für Lohnzahlungen, die ihnen vorenthalten wurden. Ein Generalstreik der Metall- und Textilarbeiter aus ähnlichen Gründen konnte nur knapp abgewendet werden. Die Financial Times berichtete am 27.06.91:

... die unangefochtene Stellung von Slobodan Milosevic, dem sozialistischen (früher kommunistischen) Präsidenten, wurde auf die Probe gestellt, nachdem Zehntausende in den Straßen gegen die Übernahme der Medien durch die Sozialistische (früher Kommunistische) Partei demonstrierten. Zwei Menschen wurden getötet und 90 verletzt. Milosevic geriet in Panik. Sechsmal rief er die Armee zur Hilfe, um die Demonstration niederschlagen zulassen. Die Armee traf endlich ein, blieb aber nur für einen Tag. Milosevic wurde nicht von der Armee gerettet. Er wurde von seinem Rivalen Präsident Tudjman gerettet. Am 25. März trafen sich beide heimlich in Karadjorvedo in Serbien. Dort wurde eine Übereinkunft erzielt, Markovic zu stürzen und Bosnien-Herzegowina zwischen Serbien und Kroatien aufzuteilen.

Zwei Tage später demonstrierten 50.000 Menschen in Belgrad für Pressefreiheit.

Der April war sehr spannungsgeladen. Das Bundesparlament verurteilte die Versuche von Slowenien und Kroatien sich abzuspalten; in Kroatien kam es zu Demonstrationen gegen den Krieg; in Serbien gingen 700.000 Arbeiter in den Streik; die Präsidenten der sechs Republiken stimmten dem Wunsch zu, im Juni 1991 ein Referendum über die Zukunft des Landes abzuhalten.

Im Mai schwappten die Haß- und Gewaltreden zwischen Serben und Kroaten auf die Straßen ... [67]

Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien beide ihre Unabhängigkeit. Sofort danach marschierte die Bundesarmee in Slowenien ein, angeblich um die Staatsgrenze zu schützen, in Wirklichkeit um das Gebiet zu unterwerfen. Mit dem Widerstand, der sie erwartete, hatten sie nicht gerechnet. Panzer rollten durch die Straßen von Ljubljana, aber die Slowenen waren nicht gebrochen. Die lokalen Führungen verfügten über Waffenvorräte und der Kampf breitete sich sehr schnell über das ganze Land aus.

Jeder erwachsene Jugoslawe kennt die Taktiken, die angewendet werden müssen, um eine Invasionsarmee zu bekämpfen. Die Militärstrategie Jugoslawiens war davon bestimmt, sowohl der NATO als auch dem Warschauer Pakt einen Einmarsch zu riskant zu machen. Das wendeten die Slowenen jetzt gegen den unerwarteten Feind an. Hubschrauber wurden abgeschossen, Panzer außer Gefecht gesetzt und die multinationale Bundesarmee verlor sehr schnell ihre Kampfentschlossenheit.

Jetzt weitete sich der Kampf auf ein wesentlich gefährlicheres Gebiet, nämlich Kroatien, aus. Hier hatte der Kampf einen anderen Charakter. Die Armee war jetzt zu einem Werkzeug Serbiens geworden. Die angeheizte nationalistische Stimmung in den vorangegangenen zwei Jahren sorgte dafür, daß die Serben in Kroatien die reguläre Bundesarmee unterstützten. Hier stellte sich nicht das Problem, daß die Serben wie in Slowenien schnell die Lust zum Kämpfen verlieren würden. In vielen Fällen kämpften die serbischen Freischärler um ihre eigenen Häuser und Dörfer. Mitte September 1991 war klar, daß unabhängig davon, ob Milosevic oder Tudjman das Land aufteilen würden, beide in einem Teufelskreis gefangen waren, der nicht leicht zu durchbrechen ist.

Der Angriff auf Slowenien hatte bereits die Rolle der Bundesarmee als eine Institution der Föderation zerstört. Mit dem Krieg in Kroatien wurde das erneut bestätigt. Sie blieb, weil ein Ende der Kämpfe die alten Probleme zurückholen würde. Die Fahne des Nationalismus würde von solchen Kräften wie der Serbischen Erneuerungsbewegung um Vuk Draskovic hochgehalten. Die ökonomische Krise würde wieder in den Vordergrund treten.

Die Logik dieser Überlegung hat die Bundesarmee nach Bosnien geführt und könnte sie auch nach Mazedonien führen. In jedem Fall wird sich der Krieg und Völkermord ausweiten und noch mehr zum bestimmenden Element und ein Zurück immer schwieriger.

 

 

Warum eine Intervention des Westens keine Lösung ist

Die andauernden und sich mehr und mehr ausweitenden Kämpfe haben viele Politiker und Kommentatoren, aber auch große Teile der Bevölkerung zu dem Schluß kommen lassen, daß eine Intervention des Westens – durch europäische oder UN-„Friedenstruppen“ – die einzige Möglichkeit ist, das Blutvergießen auf dem Balkan zu stoppen. „Nur durch militärische Gewalt“, so lautet das Argument, „können die fanatischen Extremisten dort zur Vernunft gebracht werden.“

Auch wir sind für eine sofortige Beendigung des Krieges und haben kein Interesse daran, daß die Kämpfe – ob in Bosnien-Herzegowina, Kroatien oder anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien – auch nur einen Tag weitergehen. Es ist ein Krieg von Milosevic in Serbien und Tudjman in Kroatien um die territoriale Aufteilung des ehemaligen Jugoslawiens, insbesondere heute um Bosnien-Herzegowina. Die Geheimabsprache zwischen den Kriegsgegnem Serbien und Kroatien um die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas macht das deutlich. Die „ethnischen Säuberungen“ der Gebiete von beiden Seiten mit allen den Greueln an der Bevölkerung sind nur die logische Konsequenz dieses Eroberungskrieges zwischen den herrschenden Klassen Serbiens und Kroatiens. Die zum Teil zwangsrekrutierten Soldaten auf beiden Seiten sind nur das Kanonenfutter für die Interessen der Herrschenden. Solange diese Kriegstreiber nicht durch eine Bewegung und Widerstand von unten von ihrer jeweiligen Bevölkerung gestoppt bzw. gestürzt werden, wird es keine Aussicht auf einen Frieden auf dem Balkan geben.

Eine Militärintervention des Westens würde die Probleme auf dem Balkan nicht im geringsten lösen, sondern sie sogar noch verschlimmern.

Wie der Überblick über die Geschichte Jugoslawiens gezeigt hat, waren es Großmachtinteressen und die Einmischung von außen, die stets blutige Konflikte in der Region geschürt und die auch den Grundstein für die nationalistischen Kampagnen von Milosevic und Tudjman und damit für den gegenwärtigen Krieg gelegt haben. Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich, Engländer und Franzosen, Deutschland und Italien – sie alle hetzten in der Region eine nationale Gruppe gegen die andere auf und zettelten Kriege an, die die Wirtschaft ruinierten und den Ausgangspunkt für neue Krisen und Kriege bildeten. Mehr als 150 Jahre westlicher Intervention und imperialer Politik auf dem Balkan sind mit Schuld an den Grausamkeiten in Sarajevo und Dubrovnik, und es wäre fatal zu denken, daß eine Intervention heute einen anderen Effekt haben könnte. Nicht zuletzt waren es die Auflagen des internationalen Währungsfonds, die die Wirtschaftskrisen Jugoslawiens verschärften.

Auch heute geht es den Großmächten nicht um „Menschenrechte“, „Demokratie“ oder „Frieden“ in der Region, sondern einzig um Einflußsphären – darum, bei der Neuaufteilung nach dem Zusammenbruch des jugoslawischen Bundesstaates ein Wörtchen mitreden zu können. Frankreich, England, die USA und die Bundesrepublik: Sie alle haben seit dem Auseinanderfallen Jugoslawiens entscheidend dazu beigetragen, daß der Krieg weiter angeheizt wurde und sich die Leiden der Bevölkerung vergrößerten. Zum Kampf um die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas und der „ethnischen Säuberung“ mit der Vertreibung von Millionen gab die EG quasi selbst das Startzeichen, als sie erklärte, die Unabhängigkeit der Republik nur unter der Voraussetzung anzuerkennen, daß drei „Kantone“ (ein serbischer, ein kroatischer und ein moslemischer) gebildet werden.

Die Bundesregierung hat in dem Krieg zwischen Serbien und Kroatien Stellung auf Seiten des Kriegstreibers und Nationalisten Tudjman bezogen und leistet diesem großzügige Wirtschaftshilfe mit 150 Millionen DM. Diese „Wirtschaftshilfe“ der BRD ist unter der Bedingung des Krieges nichts anderes als Waffenhilfe und dient der Unterstützung der Kriegsziele von Tudjman in Bosnien-Herzegowina und der Vertreibung der bosnischen Bevölkerung. Sie verspricht sich davon in Zukunft eine Stärkung des eigenen Einflusses in einer Region, in der man schon traditionell Großmachtinteressen verfolgt hat. In der deutschen Presse läuft eine beispiellose Kampagne gegen Serbien; es vergeht kein Tag, an dem nicht über die Greueltaten der serbischen Armee berichtet wird, über Internierungslager, Morde und Vergewaltigungen. Daß die von der Bundesregierung unterstützte Regierung Kroatiens nicht anderes betreibt, wird verschwiegen. Um das Schicksal der Millionen Flüchtlinge dagegen schert man sich bestenfalls am Rande: Bosnischen Flüchtlingen ohne Visum wird die Einreise nach Deutschland verweigert bzw. nur unter dem Druck der Öffentlichkeit kleckerweise zugelassen. Kriegsmüde Deserteure, die das Gemetzel ihrer Regierungen nicht mehr länger mitmachen wollen, wird erst recht die Einreise in die BRD verweigert. Sie werden damit weiter den Zwangsrekrutierungen ausgesetzt und als Kanonenfutter in die Arme der kriegführenden Regierungen getrieben. Die riesigen Flüchtlingslager auf dem Balkan erhalten zur Unterstützung Kleckerbeträge und minderwertige Hilfsgüter.

Auch die von der UNO einseitig gegen Serbien beschlossenen Sanktionen werden das Blutvergießen nicht stoppen. Selbst wenn es dadurch gelänge, Milosevic zu schwächen, so würde das dann nur dazu führen, daß Tudjman bei seinen erklärten Kriegszielen in Bosnien gestärkt würde. Im übrigen heißt die Durchsetzung eines Embargos gegen Serbien nichts anderes, als militärisch an der Seite Kroatiens in diesen Krieg einzugreifen.

Die Bundesregierung unter Rühe und Kinkel lehnen wie auch die anderen Großmächte heute einen militärischen Einsatz im Balkan ab. Ein solches militärisches Abenteuer lohnt sich für sie nicht; schließlich gibt es ja auch kein Öl in Sarajevo. Aber sie nutzen das Mitleid und die Solidarität der Bevölkerung in der BRD zynisch aus, um endlich wieder dazu zu kommen, daß der weltweite Einsatz deutscher Militärs für die deutschen Kapitalinteressen in der deutschen Bevölkerung hoffähig wird. Das Ziel der Bundesregierung in diesem Konflikt ist die Änderung der Verfassung, die dem deutschen Militarismus nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege einige Fesseln angelegt hat.

Wir lehnen jedwede Intervention des Westens auf dem Balkan ab. Selbst vom humanitären Gesichtspunkt aus betrachtet würde eine solche Intervention zu noch mehr Toten und noch größeren Flüchtlingsströmen führen. Und von der gesamtpolitischen Bedeutung her wäre es geradezu eine Katastrophe, wenn der Imperialismus erneut direkt der Region seinen Stempel aufdrücken könnte. Die Herrschaft des Imperialismus überall auf der Welt würde dadurch gefestigt und anti-imperialistische Kämpfe würden geschwächt werden.

Die UNO sind keine wohltätige, „neutrale“ Organisation, die als eine Art Schiedsrichter über den kriegführenden Nationen steht und um das Wohl der Menschen besorgt ist. Sie wird vielmehr dominiert von den Interessen der mächtigsten Staaten – allen voran die USA – und werden von diesen zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzt. Was dies in der Praxis bedeutet, zeigte sich im Golfkrieg, als die US/UN-Intervention zu 200.000 toten Irakern führte, während gleichzeitig die Kurden und Schiiten dem Terror Husseins ausgeliefert blieben und deren Aufstände gegen Hussein unterminiert wurden.

Dasselbe trifft auf die EG zu: Sie ist ein Verein reicher Kapitalisten, der einzig und allein die Interessen des europäischen Großkapitals vertritt.

EG und UNO sind also internationale Zusammenschlüsse von Gangstern, denen es darum geht, unter Einsatz aller Mittel möglichst viel Beute zu machen und dabei auch die eigenen Gangster-Konkurrenten zu übervorteilen. Zu glauben, daß sie Willens und in der Lage sind, den blutigen Konflikt auf dem Balkan zu beenden, wäre das gleiche, wie von der Mafia zu erwarten, daß sie entscheidende Schritte gegen die Kriminalität unternimmt.

Wie der Krieg wirklich gestoppt werden kann, zeigen Kriegsgegner in den Republiken des ehemaligen Jugoslawien seit Ausbruch der Kampfhandlungen. Sie demonstrieren und streiken gegen ihre Führer, die die Schuld an der derzeitigen Misere trifft, und setzen sich für deren Absetzung ein. Im März kam es in Sarajevo zu einer riesigen Anti-Kriegs-Demonstration mit über 80.000 Menschen; in Belgrad sind Proteste von mehreren Tausend Menschen gegen den Präsidenten Milosevic an der Tagesordnung. Am 25. Mai 92 fand in Belgrad ein riesiges Rockkonzert zugunsten der Antikriegsbewegung statt. Die Stimmung radikalisiert sich zusehends; über 10.000 Wehrdienstverweigerer sitzen in serbischen Gefängnissen – ein Anzeichen für die wachsende Kriegsgegnerschaft der Bevölkerung.

Nur die Verbreiterung dieser Antikriegsbewegung wird den Kriegstreibern in den Regierungen das Handwerk wirklich legen können. Für diese Antikriegsbewegung aber hat die Bundesregierung keinerlei Unterstützung; sie wird systematisch totgeschwiegen.

Diese Opposition muß sich weiter verbreitern, und auch unter Kroaten und Moslems muß eine ähnliche Entwicklung stattfinden, hin zur Erkenntnis, daß man mehr mit der Bevölkerung in den anderen Republiken gemeinsam hat, als mit den eigenen Bossen, der ehemaligen „roten Bourgeoisie“.

Es ist heute die Aufgabe aller Kriegsgegner in Deutschland, die Pläne der Bundesregierung zur Ausweitung des Einsatzes deutscher Soldaten, gleichgültig ob unter UN- oder EG-Flagge, in den Arm zu fallen. Das dient nur den Interessen der Reichen, und wir sollen wieder das Kanonenfutter sein. Und es ist wichtig, denjenigen wie dem DGB-Chef Meyer, der diese Politik der Bundesregierung unterstützt, mit Resolutionen und Unterschriftensammlungen in den Gewerkschaften entgegenzutreten.

Stattdessen sollten wir eine breite Solidarität mit den verfolgten Kriegsgegnern und Deserteuren und der Antikriegsbewegung im ehemaligen Jugoslawien aufbauen.

 

 

Anmerkungen

40. D. Wilson, Tito’s Yugoslavia, Cambridge 1979, S.196

41. ebenda, S.196-7

42. ebenda, S.202

43. International Socialism 41, S.20

44. ebenda, S.21

45. D. Rusinow, a.a.O., S. xiv

46. International Socialism 41, S.21

47. D. Rusinow, a.a.O., S.1

48. S. Burg, Political Structures, in: Rusinow, a.a.O., S.12

49. B. McFarlane, a.a.O., S.203

50. L.J. Cohen, a.a.O., S.439

51. New Left Revview 174, S.20

52. H. Poulton, a.a.O., S.59

53. Problems of Communism, März/April 1983, Washington, S.65-70

54. ebenda, S.65

55. BBC Survey of World Broadcasts EE/0305, 10.11.88

56. Problems of Communism, a.a.O., S.61

57. New Left Review 174, S.21

58. M. Glenny, The Rebirth of History, London 1990, S.122

59. ebenda, S.125/126

60. ebenda, S.125/126

61. H. Poulton, a.a.O., S.37

62. Financial Times, 27.6.91

63. M. Glenny, a.a.O., S.128

64. Financial Times, 27.6.91

65. H. Poulton, a.a.O., S.33

66. ebenda, S.26

67. Financial Times, 27.6.91

 


Zuletzt aktualisiert am 21.12.2001