Kevin Corr und Andy Brown

 

Die Arbeiteraristokratie
und die
Wurzeln des Reformismus

(Teil 1)

 

[Einleitung]

Eine Untersuchung der Arbeiteraristokratie ist keine Forschungsreise durch irgendwelchen historischen Friedhof, sondern eine lebendige Frage. Sie ist eine wichtige Debatte für jede Generation von Marxisten gewesen. Das Bestehen einer Arbeiteraristokratie und ihre Anwendung als Erklärung für die Wurzeln des Reformismus ist oft als die marxistische Orthodoxie angenommen worden. Die Abstammung hat man von Marx und Engels und mit größer Rechtfertigung von Lenin verfolgt. Der Begriff ist in die Hauptströmung der marxistischen Geschichtsschreibung [Historiographie] eingegangen. Die Vorstellung, daß eine Elite innerhalb der Arbeiterklasse eine privilegierte Position auf Kosten der Übrigen erhalten hätte, ist oft später vorgebracht worden, um mehrere Argumente anzubieten, warum die Arbeiterklasse nie die Agentur der sozialen Revolution sein könnte. Für Nationalisten der Theorie der „Dritten Welt“ ist es deswegen, weil alle Arbeiter in den fortgeschrittenen Wirtschaften auf Kosten der Arbeiter der Dritten Welt profitieren. Für schwarze Nationalisten ist es deswegen, weil weiße Arbeiter auf Kosten der schwarzen Arbeiter profitieren. Für Feministinnen ist es deswegen, weil männliche Arbeiter auf Kosten weiblicher Arbeiterinnen profitieren.

Unter den verschiedenen Theorien des ungleichen Austausches, die das Verhältnis im Rahmen der Handelsbedingungen zwischen der industrialisierten und der entwickelnden Welt umfassen, untermauert der Glaube, daß eine Arbeiteraristokratie von den Superprofiten des Imperialismus profitiert, zum großen Teil die ganze Argumentation. die Tatsache, daß diese Theorien sich auf Lenin stützen, um ihre Behauptungen billigen, ist besonders ärgerlich, denn in mindestens einem Fall das Niveau des Klassenkämpfe in den fortgeschrittenen Ländern für die Monopollage der imperialistischen Länder beschuldigt [verantwortlich gemacht] wird. Die Argumentation lautet folgendermaßen: Weil Gewerkschaften in Europa und Nordamerika den Fall der Löhne und der Beschäftigung während einer Rezession hätte verhindern können und die schwachen oder nichtexistierenden Gewerkschaften in es nicht hätten machen können, dann profitierte die Arbeiterschaft in den Industrie direkt auf Kosten der Arbeiterschaft in den weniger entwickelten Ländern. Mit anderen Worten: Arbeiter in den fortgeschrittenen Ländern beteiligten sich direkt an der Expropriation des Mehrwerts, der vom Proletariat der weniger entwickelten geschaffen worden sei. [1]

Wie Nigel Harris darauf hingewiesen hat; ein großer Teil dieser Theorien des ungleichen Austausches bieten eine theoretischen Erläuterung für gefühlsmäßige Reaktion vieler Intellektueller in der Dritten Welt, wenn sie den Lebensstandard in der industrialisierten Welt mit der entsetzlichen Armut in den weniger entwickelten Länder vergleichen. [2] Einige fanden es eigentlich leicht, die Orientierung ihres Arguments von der Verteidigung der Interessen der Weltarbeiterklasse zur Verteidigung der Interessen der nationalen herrschenden Klassen der Länder der Dritten Welt zu verschieben, ohne daß sie ihre Anwendung der marxistischen Sprache ändern mußten. Arghiri Emmanuel postuliert eine grundsätzliche Asymmetrie im System – in einem Gebiet hohe Löhne und niedrige Profite und im anderen niedrige Löhne und hohe Profite. [3] Das kommt fast darauf, die Welt in einer rein nationalistischen Weise in „proletarische“ und „bürgerliche“ Nationen aufzuteilen.

Aber egal was damit gemeint ist, paßt die Ansicht, daß die westliche Arbeiterklasse nicht mehr ausgebeutet werde und deshalb sich der Bourgeoisie angeschlossen habe, sehr gewandt mit den rechten Argumenten über den „Abschied von der Arbeiterklasse“ zusammen. André Gorz, der Guru dieser Botschaft, redet darüber, wie „eine auf Massenarbeitslosigkeit basierte Gesellschaft vor unseren Augen entsteht. Sie besteht aus einer wachsenden Masse von ständigen Arbeitslosen einerseits, einer Aristokratie von festangestellten Arbeitern andererseits, und dazwischen ein Proletariat von Arbeitern mit befristete Stellen“. [4] Jetzt scheint es, daß eine Festeinstellung einen zum Aristokraten sowie zum Ausbeuter macht.

Das ganze wird von der Voraussetzung einer optimalen Lohnniveau und der Annahme untermauert, daß der wirkliche Kampf innerhalb der Arbeiterklasse um den größtmöglichen Anteil eines Kuchens von gleichbleibender Größe stattfindet. Manchmal wird das Argument in einen nationalen Rahmen gesetzt (Aristokraten gegen Nichtaristokraten) und manchmal in einem weltweiten Umfang; es hängt davon ab, wer das Argument vorstellt. Aber dieses Argument ermöglicht es dem Kapital, die Rolle des neutralen Beobachters zu spielen, der mißbilligend über „geizige Arbeiter“ und „Egoismus“ reden kann – ein Bild, das in der Konservativen beliebt ist und zunehmend von der Labour Party angenommen wird.

In einer Welt, wo Reallöhne fallen und 40 Millionen Menschen in den industrialisierten Ländern arbeitslos sind, sieht eigentlich das Argument, daß es eine arbeiteraristokratische Gewerkschaftsbewegung mit einem Monopol über das Angebot an Arbeitskräfte gebe, „ebenso doof [aus], wie es immer außerhalb den Leitartikeln und Kommentaren der Daily Telegraph hätte Aussehen sollen“ (um die Worte von Nigel Harris anzuwenden). [5] Leider scheint es, als ob diese Kommentaristen einige merkwürdige Mitläufer haben.

Dieser Artikel wird die Ursprünge der marxistischen Theorie der Arbeiteraristokratie und ihre Anwendung in der Geschichtsschreibung über die britische Arbeiterbewegung untersuchen. Er wird argumentieren, daß das Argument hoffnungslos fehlerhaft ist, auch in ihrer besten Inkarnation – in der von Lenin angebotenen politischen Analyse. In ihrer kühnsten und zusammenhängendsten Anwendung auf die Geschichte der britischen Arbeiterklasse, die von John Foster, ist sie dazu unfähig, eine überzeugende Erklärung der Wurzeln des Reformismus zu bieten.

 

 

Die Arbeiteraristokratie bei Marx

Die Anwendung des Begriffs Arbeiteraristokratie als Kausalerklärung für den Griff des Reformismus auf der Arbeiterklasse schuldet Lenin viel mehr als Marx und Engels. Aber überall in seinen Schriften über das Thema ist die Berufung [der Verweis] auf die Autorität von Marx und Engels deutlich [explizit] und wiederholt. Obwohl Lenin zugibt: „Weder Marx noch Engels lebten, um die imperialistische Epoche des Weltkapitalismus zu sehen, die nicht früher als 1898-1900 anfing“, ist es klar, daß er die eigene Analyse als eine Erweiterung und eine Aktualisierung einer akzeptierten Theorie in der marxistischen Tradition. [6] Eigentlich unterscheidet sich Lenins Beschreibung der Arbeiteraristokratie jedoch qualitativ von der von Marx und Engels. Noch ist es überhaupt offensichtlich, daß Marx und Engels eine konsequente Analyse einer solchen Erscheinung hatten, und noch weniger, daß ihre Anwendung des Begriffs die Basis für eine Kausalerklärung des Reformismus in der Weise legte, wie Lenin ihn benutzte.

In der Periode unmittelbar nach 1850, als die erstaunliche Metamorphose in der Tätigkeit und der Haltung der englischen Arbeiterklasse offensichtlich wurde, fiel Marx unter den Sozialisten als jemanden auf, der an die gewerkschaftliche Tätigkeit und die Notwendigkeit, daß Sozialisten sich daran beteiligen sollten. Diese Ansicht hatten nur eine winzige Minderheit. Als er 1869 die Ansichten von 20 Jahren vorher überlegte, bemerkte Marx, „daß 1847, als alle politischen Ökonomen und alle Sozialisten über einen Punkt einig waren – die Trade Unions zu verurteilen – ich ihre historische Notwendigkeit nachgewiesen habe.“ [7] Engels war mit Marx’ Schätzung von den Ansichten der Sozialisten über gewerkschaftliche Tätigkeit einverstanden. [8]

Die Arbeiterbewegung und besonders die Gewerkschaften standen für Marx und Engels im Zentrum der Politik. Sie hielten eine Analyse der Gewerkschaften, die relativ entwickelt und relativ positiv war. Sie betrachteten die Gewerkschaften als Organe des elementaren Widerstands gegen das Kapital, Verteidiger der unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen, Mittel für die Entwicklung des Klassenbewußtseins und Kampfschule für die Arbeiterklasse. Gewerkschaften seien absolut notwendig in den aktuellen Kämpfen der Arbeiterklasse und deuteten vom elementaren Widerstand zur schließlichen Klassenmacht weiter. [9] Die frühen Argumenten zur Verteidigung der Gewerkschaften wurden gegen linke Chartisten (die Marx als die besten politischen Elementen der Periode betrachtete) und die Owenisten, die weiter für einige Zeit ein Ziel blieben. So sagte Marx 1853 in einem offenbaren Angriff gegen Ernest Jones (einen führenden linken Chartisten):

Es gibt eine Klasse von Menschenfreunden, und sogar von Sozialisten, die Streiks als äußerst schädlich für die Interessen des „Arbeitenden selbst“ ... Ich bin im Gegensatz davon überzeugt, daß ... die ständigen Konflikte zwischen Meistern und Männern die unentbehrliche Mittel dazu, das Geist der arbeitenden Klassen aufzubauen, sie in einem großen Verein gegen die Eingriffe der herrschenden Klasse zu kombinieren. [10]

In Notizen für ein Referat hatte Marx schon 1847 geschrieben, daß Gewerkschaften „ die Mittel zur Vereinigung der Arbeiterklasse sind, die Vorbereitung auf dem Sturz der ganzen alten Gesellschaft zusammen mit ihren Klassengegensätzen“. [11] Er kehrte immer wieder über die nächsten 20 Jahre zu diesem Thema zurück und benutzte es immer wieder gegen Chartisten, Owenisten, Anarchisten und Lassalleaner, die alle aus verschiedenen Gründen die Wichtigkeit der Gewerkschaften hinunterspielten. Die vollständigste Verteidigung der gewerkschaftlichen Organisation und Zusammenfassung ihres Potentials ist in Lohn, Preis und Profit, worin Marx wiederholt betonte, daß die gewerkschaftliche Organisation eine Voraussetzung für weitere politische Entwicklung in der Arbeiterklasse sei. Er deutete darauf hin: „diese Tätigkeit der Gewerkgenossenschaften ist nicht nur rechtmäßig, sie ist notwendig. Man kann ihrer nicht entraten, solange die heutige Produktionsweise besteht.“ [12] Engels beschrieb Gewerkschaften folgendermaßen: „Sie sind die Kriegsschulen der Arbeiter, in der sie sich auf den großen Kampf vorbereiten, der nicht mehr zu vermeiden ist ... Und als Kriegsschule sind sie von unübertrefflicher Wirkung.“ [13]

Damit wird nicht gemeint, daß Marx und Engels nicht die Einschränkungen der gewerkschaftlichen Organisation anerkannten. Sie sind im Schluß von Lohn, Preis und Profit dargestellt und wurden von Engels 1891 mit sehr ähnlichen Worten wiederholt. [14] Der Hauptpunkt besteht aber darin, daß für Marx und Engels die Gewerkschaften der 1860er und 1870er Jahre der Entwicklung und des Potentials der Arbeiterklasse stünden. Sie waren auch, man soll merken, sehr wohl die elitären fachorientierten Gewerkschaften, die in den Schriften vieler Historiker zum Synonym für die Arbeiteraristokratie geworden sind. Für Marx waren diese die wirkliche Kräfte bei der Gründung der Internationale, gerade deren Anwesenheit zusammen mit den französischen Revolutionären Marx veranlaßte, seine normale Gewohnheit zu brechen und sich an der Gründungsveranstaltung in London zu beteiligen. Während er keine Illusionen in ihnen hatte – er erklärte Engels, „Dieselben Leute werden in ein paar Wochen Meetings mit Bright und Cobden für Stimmrecht halten“ –, scheint es klar, daß er diese Leute nicht als konservative Kraft betrachtete, noch als Leute, die Interessen feindlich gegenüber denjenigen der Arbeiterklasse im allgemeinen hielten. [15]

Nichtsdestoweniger erschien der Begriff Arbeiteraristokratie ganz früh in Marx, er verwendete ihn zum ersten Mal 1850 in einem Überblick über den Rückgang des Chartismus. Er spürte:

Die Kleinbürger, die immer noch der Partei angehören, verbündet mit der Aristokratie der Arbeiter, bilden einen rein demokratischen Flügel, dessen Programm sich auf das Volkscharta und einige andere kleinbürgerliche Reformen beschränkt. Die Masse der Arbeiter, die unter wirklich proletarischen Bedingungen leben, gehört dem revolutionären Flügel der Chartisten an. [16]

Hal Draper argumentierte, der Begriff hier sei als „beschreibende Parallele“ verwendet worden, d.h. als praktisches Etikett ohne Seide analytische Bedeutung, mehr oder weniger wie die linken Chartisten ihn benutzten. [17] Ernest Jones z.B. fragte (in einer Passage, die gegen Gewerkschaften als solche argumentierte):

Kämpfen wir gegen Klassenherrschaft? Na denn. Es gibt Klassenherrschaft innerhalb der eigenen Reihen und wir sollen auch dagegen kämpfen. Kämpfen wir gegen aristokratisches Privileg? Na denn, es gibt ein aristokratisches Privileg übelster Art unter den gut bezahlten Berufen und wir sollen auch dagegen kämpfen. Die Wahrheit ist die beste Politik. Die Aristokratie der Arbeit muß überwunden werden, genau wie alle anderen Aristokratien. [18]

Hier spielte Jones anscheinend schwer mit den linguistischen und moralischen Assoziationen des Worts Aristokratie, aber der Begriff bedeutet mehr als einfache Assoziationen, die eine Wirkung haben. Er sprach von „gut bezahlten Berufen“. In seinem Hinweis von 1851 identifizierte Marx nicht die Aristokraten als solche, aber stellte sie deutlich in einer bestimmten soziologischen Gruppe, insofern er sie der „Masse der Arbeiter, die unter wirklich proletarischen Bedingungen leben“, gegenüberstellte. Während der Begriff sehr ungenau ist, scheint er mehr zu sein als ein praktisches Etikett, das darauf gezielt ist, eine bestimmte Wirkung zu haben. Wenn die Aristokraten nicht präzise identifiziert werden, gibt es mindestens einen allgemeinen Hinweis darauf, wo man sie in der Gesellschaft finden könnte.

Die Arbeiteraristokratie erscheint aber nicht als die größere Kausalerklärung für den Rückgang der Tätigkeit der Arbeiterklasse. Marx’ Erklärung basiert sich auf der Niederlage der 1848er Revolutionen in Europa. In seiner Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation war Marx ganz spezifisch darüber, indem er die Niederlagen und ihre Auswirkungen beschreibt. Die Folge war angeblich: „Alle Versuche, die Chartistenbewegung aufrechtzuerhalten oder neu zu gestalten, scheiterten vollständig ... Hatte daher zwischen den britischen und den kontinentalen Arbeiterklassen keine Gemeinsamkeit der Aktion existiert, existierte jetzt jedenfalls eine Gemeinsamkeit der Niederlage.“ [19] Marx betrachtete die Periode als beispiellos: „ ... nie zuvor schien die englische Arbeiterklasse so ausgesöhnt mit einem Zustand politischer Nichtigkeit.“ [20] Der Hinweis ist auffallend auf die ganze Arbeiterklasse, nicht eine Minderheit darin. Marx verwendete nicht den Begriff Arbeiteraristokratie, aber sehr bezeichnend sagte er doch: „Anderer seiner früher tätigsten Glieder (d.h. des britischen Proletariats), durch den Köder größerer Beschäftigung und augenblicklicher Lohnerhöhung bestochen, ‚trugen den bestehenden Verhältnissen Rechnung‘.“ [21] Also waren die Keime der späteren Engels’schen Analyse einer Arbeiteraristokratie, deren Position sich auf Englands kolonialem Monopol stützte, waren schon bei Marx anwesend. Aber es ist nicht klar, daß Marx die Aristokratie der Arbeit in seinem Überblick von 1851 mit denjenigen, die „den bestehenden Verhältnissen Rechnung trugen“, als Ergebnis des Aussicht auf niedrigere Arbeitslosigkeit und höhere Löhne identifizierte. Das ist zu sagen, daß keine Verbindung zwischen Großbritanniens monopolistischer Handels- und Kolonialposition und einer erkennbaren Arbeiteraristokratie von Marx gemacht wurde.

Ebenso wurde keine mögliche Verbindung zwischen den Gewerkschaften als solchen, oder den Gewerkschaftsführern, und einer Arbeiteraristokratie verdeutlicht. In seiner Inauguraladresse Sturm Londoner Kongreß der Internationale 1871 erwähnte Marx die Gewerkschaften als „aristokratische Minderheit“ ohne die Masse der Arbeiter, die außerhalb der Gewerkschaften blieben, aber wieder scheint es, daß er eher den Begriff in einem allgemeinen beschreibenden Sinn verwendete. [22] Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Kritiken der Gewerkschaftsführer ganz deutlich geworden trotz dem Ernst, mit dem er sie bei der Gründung der Internationale betrachtet hatte. 1869 beschrieb Marx Odger und Applegarth, Führer des TUC (des Dachverbands der Gewerkschaften), als „beide von Vermittlungswut und Respektabilitätseifer besessen“. [23] Darin und in seiner von Engels zitierten Bemerkung, „die englischen Arbeiterführer wären verkauft“, schien er sich auf die Weise zu beziehen, wie die Führung der Gewerkschaften sich für die politische Unterstützung entweder der Liberalen oder der Konservativen Partei engagiert hatten, besonders bei Wahlen. [24]

Bei Marx wurde der Begriff Arbeiteraristokratie in verschiedenen Weisen verwendet. Deutlich hatte er eine Auffassung von einer Schichtung in der Arbeiterklasse, die politische Folgen hatte, ob eine unterschiedliche Haltung zum Chartismus, ein unterschiedliches Verhältnis mit Gewerkschaften (Aristokraten drin, Nichtaristokraten draußen) oder unterschiedliche Haltungen zu den politischen Parteien der herrschenden Klasse. Es gab jedoch keine klare Definition davon, wer die Aristokraten seien. Obwohl es einen Hinweis auf Bestechung gab, wurde die Form der Bestechung vage gelassen und der genaue Mechanismus, durch den eine Bestechung verhandelt oder verwaltet werden sollte, wurde nie beschrieben bzw. analysiert. Marx hatte kein Argument gestellt, daß eine Arbeiteraristokratie als wesentliche Ursache des Niedergangs im Kampf betrachtet werden könnte. Es gab anscheinend keine Vorstellung, daß ein reformistisches Bewußtsein mit einer Massenbasis sich entwickeln könnte. Also wurde die Vorstellung einer Arbeiteraristokratie, die gerade als Initiator und Ernährer des Massenreformismus handelt, mit einer erkennbaren materiellen Basis für ihre Existenz, wurde nicht bei Marx diskutiert. Zu Marx’ Zeiten gab es keinen Massenreformismus, weder in der Form großer allgemeiner Gewerkschaften noch in der Form einer Labour Party. Gerade das ermöglichte es Marx, den Begriff Arbeiteraristokratie als Synonym für „Arbeiterführer“ zu benutzen, aber gerade diese Identifikation wurde von späteren Autoren abgelehnt.

 

 

Engels’ Entwicklung von Marx

Engels aber entwickelte besonders in den Jahren nach Marx’ Tod die Idee einer Arbeiteraristokratie als unmittelbare Ursache des Konservatismus in der britischen Arbeiterklasse. Er war auch etwas spezifischer darüber, wer die Aristokraten seien, sowie über die Faktoren, die es ihnen ermöglichte, ihre privilegierte Position zu halten: das industrielle und kommerzielle Monopol Großbritanniens.

Wie Marx nahm Engels zuerst das Aufkommen einer Arbeiteraristokratie Anfang der 1850er Jahre wahr. Es gibt zwei unterschiedlichen Themen hier. Das erste besteht darin, „daß das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert“. [25] Dies scheint zum großen Teil darin zu bestehen, daß sie in einer Zeit von Niederlagen immer mehr von der bürgerlichen Ideologie annehmen, und bezieht sich auf die gleiche Periode wie Marx in seinen Bemerkungen über die Wirkungen der Niederlagen von 1848. Man soll es nicht Erklärung nehmen, daß wirklich eine Verbürgerlichung stattfindet. Eigentlich scheint sein vorrangiger Zweck zu sein, eine fast moralistische Mißbilligung der Passivität der englischen Arbeiterklasse und ihrer Organisationen auszudrücken. Die Verbindung mit Englands Monopollage wird nicht in dieser Passage impliziert, obwohl es eine deutliche Verbindung zwischen der Prosperität der Wirtschaft und dem Potential für die Triumphe der bürgerlichen Ideen gibt.

Engels war Kategorisch über das zweite Thema, nämlich die Verbindung zwischen dem kolonialen Monopol Englands und der Korruption einer bestimmten Schicht des Proletariats. „Die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands.“ [26] Diese Formulierung erschien sehr früh in Engels, spezifischer als in Marx’ Schriften der gleichen Periode, und wurden von Lenin zitiert, als er sein Argument für die Wirkung der Arbeiteraristokratie zur Zeit des Ersten Weltkriegs darstellte. 1851 schrieb Engels, die englische Bourgeoisie „benutzt die Prosperität oder Halbprosperität, um das Proletariat zu kaufen“. [27] Es gab weniger Hinweise während der 1860er und 1870er Jahre, als Marx und Engels sich zusammen mit einigen Gewerkschaftsführern an der Internationale beteiligten und das Niveau der Tätigkeit der Arbeiterklasse sich erhöht hatte. Bis zu den 1880er Jahre kehrte Engels wiederholt zum Thema und beschrieb England als „ein Land, wo die Arbeiterklasse immer mehr als anderswo an den Vorteilen der ungeheuren Ausdehnung der großen Industrie teilgenommen hat, wie dies in dem den Weltmarkt beherrschenden England nicht anders sein konnte“. [28] Indem er die Phrase „wie dies ... nicht anders sein konnte“ benutzt, schient Engels die Entwicklung einer Arbeiteraristokratie in den materiellen Bedingungen der Periode zu orten, eher als in kulturellen bzw. ideologischen Faktoren.

So finden wir bei Engels eine viel explizitere [deutlichere] Erklärung der Verbindung zwischen der kommerziellen und wirtschaftlichen Lage Englands und der Korruption der englischen Arbeiter als bei Marx. Noch einmal wieder gibt es jedoch keine Beschreibung bzw. Erklärung des Mechanismus, durch den die Bestechung funktioniert.

Was die Frage angeht, wer genau in der Arbeiterklasse profitiere, gibt es wieder etwas Verwirrung. Manchmal scheint diese Korruption sehr allgemein und tief in die Reihen der Arbeiterklasse eingedrungen, wie zur Zeit, wo Engels erklärte: „Das Widerwärtigste hier ist die den Arbeitern tief ins Fleisch gewachsne bürgerliche ‚respectability‘ [Anständigkeit].“ [29] In dieser Passage war er besonders kritisch von den Führern der Arbeiterbewegung, die er als „an die Bourgeoisie verkaufte oder zumindest von ihr bezahlte Leute“ beschrieb. [30] Als er in der Commonweal, der Zeitung der Socialist League, 1885 schrieb, sagte er von den Führern:

Sie bilden eine Aristokratie in der Arbeiterklasse; sie haben es fertiggebracht, sich eine verhältnismäßig komfortable Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptiern sie als endgiltig. Sie sind die Musterarbeiter ..., und sie sind in der Tat sehr nette, traktable Leute für jeden verständigen Kapitalisten im besonderen und für die Kapitalistenklasse im allgemeinen. [31]

Aber was Engels hier zu tun scheint, ist eine enge Identifizierung der „Aristokratie“ mit Gewerkschaftsbürokraten.

Spätere Autoren lehnten es spezifisch ab, „Aristokraten“ mit „Führern“ gleichzusetzen, der ganze Zweck bestand darin, den Blickpunkt auf eine Schicht von Arbeitern zu verschieben.

Anderswo gibt es jedoch keine klare Unterscheidung zwischen den Gewerkschaftsführern und den Gewerkschaften selbst. Engels identifizierte bestimmte Berufe, die er als arbeiteraristokratisch identifizierte: Maschinenbauer, Zimmermänner, Maurer, Schreiner [Tischler] – gerade die Berufe, die das Rückgrat der Gewerkschaften des „Neuen Musters“ bildeten –, und unterschied sie, wie Marx es getan, von der Masse der Arbeiter außerhalb der Gewerkschaften. Er beschrieb diese Gewerkschaften mit ihren verkauften Führern als „jene schlechteste englische“ Gewerkschaften. [32]

Das Vorwort zur 1892 Ausgabe der Lage der arbeitenden Klassen in England war Engels’ vollständigste Verurteilung der „Aristokratie in der Arbeiterklasse“ – eine „kleine privilegierte, geschützte Minorität“, von „‚respektablen‘ Bourgeoisvorurteilen“ durchtränkt, die „dauernden Vorteil“ vom Ertrag des Weltreichs hatte. [33] Wer sie waren, ist nie genau definiert, obwohl Engels’ Haltung zu den Kämpfen der ungelernten Arbeiter im Aufwallen des „Neuen Unionismus“ Ende der 1880er Jahre bot einen starken Hinweis darauf, daß er die ganze Mitgliedschaft der elitären Gewerkschaften der Facharbeiter als impliziert betrachtete. Besonders in Briefen und Artikeln zur Zeit des 1889er Streiks der Londoner Dockarbeiter beschrieb er, wie die neuen Gewerkschaften „sich völlig von den alten Organisationen der Arbeiteraristokratie unterscheiden“. [34] Interessanterweise war er der Meinung, daß die Kämpfe der neuen Gewerkschaften wahrscheinlich die „Aristokraten“ beeinflussen würde: „Wenn die Dockarbeiter sich organisieren, werden alle anderen Gruppen folgen.“ [35] Also wichtigerweise betrachtete Engels die verschiedenen Sektionen der Arbeiterklasse als Teile eines Ganzen. Die Aristokraten waren anscheinend nicht permanent von der Masse der Arbeiterklasse getrennt geworden, noch weniger ein Teil der Bourgeoisie. Es ist denn immer noch schwierig genau festzunageln, wer die Arbeiteraristokraten für Engels seien, obwohl Hinweise darauf andeuten, daß er Facharbeiter im allgemeinen meinte, und vielleicht spezifisch diejenigen, die in den Gewerkschaften des neuen Musters organisiert wurden. Überhaupt eine tiefgehende Analyse der Mechanismen, wodurch die Bourgeoisie sie bestochen hätte, fehlte es auch, aber die Verbindung zwischen einerseits Industrie, Monopol und Weltreich und andererseits der Arbeiteraristokratie war deutlich [explizit], und auf diesem wichtigen Element versuchte Lenin aufzubauen. Stedman-Jones’ Behauptung: „Die Verwendung dieser Vorstellung [Arbeiteraristokratie] ist zweideutig und unbefriedigend“ gilt für Marx sowie Engels. [36] Während, wie Stedman-Jones über Engels bemerkt, „es bislang keine definitive materielle Theorie der Arbeiteraristokratie gibt“, [37] gibt es genug bei Marx und besonders bei Engels’ deutlichen [expliziten] Hinweisen auf die Verbindung zwischen einer Arbeiteraristokratie und der Gesundheit der Wirtschaft der herrschenden Klasse, so daß Lenin die Vorstellung einer Arbeiteraristokratie als zentralen Schwerpunkt seiner Erklärung des Reformismus und deren Rolle im imperialistischen Gemetzel des 20. Jahrhunderts zu entwickeln.

 

 

Lenins Anwendung der These der Arbeiteraristokratie

Lenin setzte sowohl die Existenz einer Arbeiteraristokratie als auch die Tatsache voraus, daß ihre Position auf Englands Kolonial und Handelsmonopol beruhe. Er schrieb: „Für vierzig Jahre von 1852 bis 1892 sprachen Marx und Engels davon, daß ein Teil (nämlich die höheren Führer, die ‚Aristokratie‘) der Arbeiter in Großbritannien zunehmend bürgerlich wurde.“ [38] An einer anderen Stelle erklärte er: „Die Hauptursache dieser Erscheinung haben Marx und Engels ... viele Male am Beispiel Englands erläutert“, nämlich: “Die Monopolstellung Englands hatte dazu geführt, daß sich aus der ‚Masse‘ eine halb kleinbürgerliche, opportunistische ‚Arbeiteraristokratie‘ absonderte.“ [39] Lenin behauptete so eine unmittelbare Verbindung zwischen der seinigen Anwendung des Begriffs und der von Marx und Engels. Es ist jedoch klar, daß Lenin die Vorstellung beträchtlich entwickelt hatte, besonders in ihrem Bezug auf die politische Organisationen der Arbeiterklasse, und sie in einer bitteren Polemik über die Rolle des Reformismus benutzte.

Als Lenin im Vorwort zur 1920 Ausgabe von seinem Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus über „diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ‚Arbeiteraristokratie‘“ schrieb, sprach er von ihr als „die Hauptstütze der II. Internationale“. Er fuhr fort und geißelte sie als „wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung., Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse (labour lieutenants of the capitalist class), wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus.“ [40] Die materielle Basis, auf der die Arbeiteraristokratie stehe, sei jetzt die Superprofite eines voll entwickelten Imperialismus. Diese werden als Profite kategorisiert, den „die Kapitalisten über den Profit hinaus streichen, den sie aus den Arbeitern ihres ‚eigenen‘ Landes herauspressen“ [41] Lenin argumentierte, diese Superprofite seien die Mittel, durch die die Kapitalisten, wie er es darstellte, „die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiterklasse bestechen kann“. [42]

Falls Lenin hier über die gleichen „ Maschinenbauer, Zimmermänner, Schreiner [Tischler], Maurer und Maurerlehrlinge“, die Engels erwähnt hatte, dann – gelinde gesagt – gibt es riesige Implikationen für Drehern Begriff „proletarische Revolution“, wenn man ganze Sektionen der Arbeiterklasse als „Wachhunde des Kapitalismus und Verschmutzter der Arbeiterbewegung“ geißeln würde. [43] Diese Position würde noch erstaunlicher erscheinen, denn gerade diese Gruppen, die von Engels erwähnt worden waren, das Rückgrat nicht nur für Lenins Bolschewiki, sondern auch für die militanten Arbeiterorganisationen in Berlin und Turin bildeten. Sie sollten auch 1920 stark bei der Gründung der Kommunistischen Partei Großbritanniens vertreten werden. Es macht also keinen Sinn, zu glauben, daß Lenin die Arbeiteraristokratie in diesen Arbeitern sah.

Tatsächlich benutzte Lenin den Begriff „Arbeiteraristokratie“ vor allem, um die reformistischen Führer (besonders Kautsky) zu bezeichnen. Im 1920er Vorwort zum Imperialismus schrieb Lenin:

Besondere Aufmerksamkeit ist in der vorliegenden Schrift der Kritik des „Kautskyanertums“ gewidmet, jener geistigen Strömung, die in allen Ländern von den angesehensten Theoretikern, den Führern der II. Internationale (Otto Bauer und Co. in Österreich, Ramsay MacDonald u.a. in England, Albert Thomas in Frankreich usw. usf.) ... vertreten wird. [44]

Lenin suchte eine Erklärung der Katastrophe von August 1914, als fast die ganze sozialdemokratische Bewegung, einschließlich der riesigen SPD mit ihrem marxistischen Programm und ihren als die unmittelbaren Erben von Marx und Engels betrachteten Führern, ihre internationalistische Prinzipien aufgab und die „eigenen“ herrschenden Klassen im imperialistischen Krieg unterstützten. Dabei benutzte er die Theorie der Arbeiteraristokratie, indem er die manchmal zweideutigen von Marx und besonders von Engels skizzierten Vorstellungen anwandte. In einem 1915 geschriebenen Artikel mit dem Titel „Der Zusammenbruch der Internationale“ erklärte Lenin das Wesen des Verrats folgendermaßen:

Die Epoche des Imperialismus ist eine, in der die Welt unter den „großen“ privilegierten Nationen aufgeteilt ist. Brocken [Quentchen] der als Ergebnis dieser Privilegien und dieser Unterdrückung gewonnenen Beute fallen zweifelsohne zum Teil des Kleinbürgertums und der Arbeiteraristokratie und -bürokratie. [45]

Gerade diese „Quentchen der Beute“ hätten laut Lenin das Aufkommen einer reformistischen Strömung ermöglicht, die die eigene herrschende Klasse im imperialistischen Wettbewerb unterstützt hätte.

Während der politische Zweck der Leninschen Anwendung der These der Arbeiteraristokratie vielleicht klar ist, ist seine Darstellung der Schicht überhaupt nicht deutlich. Manchmal scheint es sehr klein zu sein, wie z.B. wenn er sagt: „Diese Schichten ... bilden eine unbedeutende Minderheit des Proletariats und der werktätigen Massen.“ [46] Hier scheint es möglich, daß Lenin wirklich eine kleine Gruppe von möglicher weise politischen und industriellen Führern in der Arbeiterklasse. Einige andere Male kommt er sehr nah daran, die Arbeiteraristokratie als fast ein Synonym für die ganze Mitgliedschaft der Gewerkschaften in Großbritannien und Deutschland festzustellen, mehr oder weniger wie Engels es 40 Jahre früher vor der Entstehung des neuen Unionismus und der großen Unzufriedenheit [1*] gemacht hatte. Lenin beschrieb sie wie Engels als „der Bourgeoisie verkauft“. In seiner Schrift „Imperialismus und die Spaltung im Sozialismus“ sagte er: „Im 19. Jahrhundert waren die Massenorganisationen der britischen Gewerkschaften auf der Seite der bürgerlichen Arbeiterpartei.“ Er fügte hinzu: „Engels unterscheidet zwischen der ‚bürgerlichen Arbeiterpartei der alten Gewerkschaften – der privilegierten Minderheit – und den ‚unteren Schichten‘, der wirklichen Mehrheit, und er wandte sich an sie, da sie nicht von der ‚bürgerlichen Respektabilität‘ infiziert seien.“ Lenin fuhr fort und zog die Schlußfolgerung: „Es ist unsere Pflicht, wenn wir Sozialisten bleiben wollen, tiefer und weiter unten zu gehen, zu den wirklichen Massen.“ [47] Bis 1920 mußte einen Rückzieher bei dieser Position machen, als er die „törichten linken Kommunisten“ zurechtwies, die zur Seite stünden und riefen: „Die Massen! Die Massen!“, während sie es ablehnten in den Gewerkschaften zu arbeiten. [48] Die Frage bleibt, inwiefern diese törichten linken Kommunisten mit dem Finger auf Lenin hätte zeigen können, weil er nicht klar gemacht hatte, daß er nicht die ganze Gewerkschaftsbewegung selbst mit der Arbeiteraristokratie identifizierte.

Ein Beispiel der politischen Folgen eines groben Verständnisses der Leninschen Analyse kann man in den Ansichten von Grigori Sinowjew in dieser Periode finden. Er war einer der engsten Mitarbeiter Lenins, sie hatten gemeinsam Sozialismus und Krieg geschrieben und Lenin hatte mit ihm bei der Schrift Der Krieg und die Krise des Sozialismus zusammengearbeitet. Beide Schriften waren ein Versuch, ein besseres Verständnis der Wurzeln des Reformismus oder des Opportunismus, wie Lenin damals bevorzugte, ihn zu nennen, zu entwickeln. Man kann nur davon ausgehen, daß seine Vorstellungen sehr eng denen von Lenin zu jener Zeit ähnelten. In einem Artikel mit dem Titel „Die gesellschaftlichen Wurzeln des Opportunismus“ hob er die Munitionsarbeiter als deutlichstes Beispiel derjenigen heraus, die „den Aufbau einer neuen Ordnung in der Gesellschaft verhindern“ und „ein Werkzeug der Reaktion“ geworden seien. [49] Später sollte die Geschichte Sinowjews Analyse völlig durcheinanderbringen, am deutlichsten bei gerade dem Beispiel, das er ausgewählt hatte, um sein Argument zu veranschaulichen, dem der Munitionsarbeiter. Über sie schrieb er: „Die Existenz einer kleinen Schicht von Arbeiteraristokraten, denen die Kanonen- und Munitionskönige gelegentlich einen Knochen von ihrem reichen Festmahl der Kriegsprofite werfen, läßt sich nicht zweifeln.“ [50] Aber überall in Europa führten gerade diese Munitionsarbeiter in Betrieben wie DMW in Berlin, Putilow in Petrograd oder Weirs in Glasgow neue Formen der industriellen Militanz während der letzten Jahre des Kriegs an – Kämpfe die in Petrograd und Berlin zur Revolution führten. Falls diese Arbeiter, um Marx zu zitieren, „in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgegeben“ hätten, hätten sie sich sicherlich „sich selbst unweigerlich der Fähigkeit beraubt, irgendeine umfassendere Bewegung in Werk zu setzen“. [51] Das war zu einer Zeit, wo andere Teile der Arbeiterklasse – die unteren Schichten – ruhig waren. Als ganze genommen betrachtete Sinowjew die Wurzeln der Arbeiterbürokratie unmittelbar in der Arbeiteraristokratie. Er schrieb:

Es sind diese sehr enge Interessen der Minderheit der privilegierten Arbeiteraristokraten, die die Sozialchauvinisten mit denen der Arbeiterklasse verwechselt haben. Diese Verwechslung ist ganz verständlich, wenn wir die Tatsache begreifen, daß die Führer der Gewerkschaften und die offiziellen Sozialdemokraten in ihrer Mehrheit aus der gleichen Umgebung der Arbeiteraristokratie stammen. Die Arbeiteraristokratie und die Arbeiterbürokratie sind zwei Blutsbrüder. [52]

So ließ Sinowjew uns mit einer Formulierung, die grob die Bürokratie mit Bezug auf eine Arbeiteraristokratie erklärte, die selbst in einigen Formulierungen mit der ganzen Mitgliedschaft der Gewerkschaften gleichgesetzt wurde. Wie Cliff und Gluckstein bemerkten: „Das alle machte die unterschiedlichen rollen jeder Gruppe verworren und, wenn man es zur logischen Schlußfolgerung zieht, hätte darauf angedeutet, die Arbeit in den bestehenden Gewerkschaften aufzugeben“ – gerade die Position, die Marx und Engels mit so viel Mühe gekämpft hatten. [53] Ein Gefühl für die Verwirrung kann man von Karl Radek bekommen, der rückblickend 1920 zugab: „Am Anfang des Kriegs dachten viele von uns, daß die Gewerkschaftsbewegung erledigt war.“ [54]

Was Radek nicht begreifen konnte, war, daß die Wurzeln des Reformismus viel tiefer als irgendwelche Arbeiteraristokratie gingen, und als die Änderung kam, waren es gerade diejenigen Teile der Arbeiterklasse, die in Gewerkschaften organisiert waren – die sogenannte Arbeiteraristokratie –, die am besten plaziert waren, um zurückzukämpfen. Sie waren nämlich in Rußland und Deutschland daran beteiligt, die Streiktätigkeit zu schüren, die zum Zusammenbruch der Kriegsregierungen führte. Die Unterdrückung und die militärische Disziplin in den Betrieben, wie auch die bestehenden Traditionen der gewerkschaftlichen Organisation unter den betroffenen Arbeitern, waren solche, daß Widerstand sich entwickelte in einer Weise, wie sicherlich weder Sinowjew noch Radek ihn vorgestellt hatten, was auch sehr wohl der Fall für Lenin war. Desillusion über den Zusammenbruch der Zweiten Internationale machte es wahrscheinlich sehr schwierig, eine bestimmte Menge Moralismus zu vermeiden, auch unter den großartigsten Revolutionären.

Es hat viele Kritiken der Leninschen Imperialismustheorie von der ökonomischen Seite her gegeben. Zweifelsohne stellte Lenin nicht die relative Bedeutung der fünf Grundmerkmale des Imperialismus fest und überbetonte z.B. die rolle des Finanzkapitals. Ferner war das Verhältnis zwischen dem Wachstum der überseeischen Investition und der kolonialen Ausdehnung weit komplizierter als das, worauf Lenins Beschreibung andeutete. [55]

Trotz dieser berechtigten Kritiken (und einer beträchtlichen Zahl unberechtigten) ging Lenins Grundbegriff des Imperialismus mit vielen Stärken hervor. Seine Broschüre sollte nicht eine definitive wissenschaftliche Studie sein, sondern eher, wie ihr Untertitel erklärte, ein „gemeinverständlicher Abriß“. Über eine Schlüsselfrage hatte Lenin keine Zweifel: „In seinem wirtschaftlichen Wesen ist der Imperialismus der Monopolkapitalismus.“ Das ermöglichte es ihm, den Imperialismus in seinen historischen Zusammenhang zu plazieren: „Denn Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und gerade aus der freien Konkurrenz wächst, ist der Übergang vom kapitalistischen System zu einer höheren sozioökonomischen Ordnung.“ [56] Daher sollte für Lenin der Ausbruch des Ersten Weltkriegs keine unlogische Abweichung sein (wie Kautsky ihn betrachtete), sondern entstand eigentlich gerade aus der Dynamik des Kapitalismus und vor allem aus der ursprünglich von Marx analysierten Tendenz zur Zentralisation und zur Konzentration des Kapitals.

Nichtsdestotrotz ist gerade Lenins Diskussion über die Arbeiteraristokratie eine wirkliche Schwäche der Broschüre Imperialismus. Er nahm an, daß nur eine konservative Kruste des Proletariats von der massiven Ausdehnung des westlichen Kapitalismus profitierte. Hier gibt es sehr wichtige Implikationen für die Analysen von Historikern der Neuzeit, aber auch für die ganze Prämisse und Voraussetzung einer spezifisch marxistischen Position über diese Frage. Während es sich argumentieren läßt, daß es eine leninistische Position gibt, läßt es sich nicht automatisch argumentieren, daß es eine zusammengesetzte marxistische Position gibt, weder von denen wie Hobsbawm, die dafür argumentieren würden, noch von denen wie Pelling, die dagegen argumentieren würden. In der Tat ist es ebenso möglich, ein Marxist zu sein und die Vorstellung einer Arbeiteraristokratie abzulehnen, wie ein Antimarxisten zu sein und sie wirklich pflegen, indem man es als Teil eines natürlichen Prozesses der sozialen Mobilität innerhalb des wachsenden Kapitalismus betrachtet. Trotzdem ist das ganze Wesen der Debatte im allgemeinen eher das Umgekehrte gewesen: Nichtmarxisten tun die Vorstellung einer Arbeiteraristokratie ab und Marxisten akzeptieren meistens die Idee, die in Lenin als die definitive marxistische Position betrachtet haben, die sich nach Marx und Engels zurückverfolgen läßt.

Gegen den Strom und im Gegensatz zu Lenins Argument von einer dünnen Kruste hat Tony Cliff die Ansicht vorgebracht. daß eine kapitalistische Wirtschaft in so einer Weise funktioniert, daß entstehende Vorteile sich nicht auf einem einzelnen Teil der Arbeiterklasse beschränken lassen. Er macht deutlich, daß die erste Frage, die man stellen muß, wenn man die Leninsche Analyse in Angriff nehmen will, heißt: „Wie führten die Superprofite von z.B. britischen Firmen in den Kolonien dazu, daß man ‚Krümel an die Arbeiteraristokratie‘ in Großbritannien ‚warf‘?“ Er meint: „Die Antwort auf diese Frage entkräftet Lenins ganze Analyse des Reformismus.“ [57]

Cliff argumentierte: „Der Imperialismus und der Export des Kapitals können natürlich Größe Auswirkungen auf dem Lohnniveau im industriellen Land haben, indem sie Beschäftigung vielen Arbeitern geben, die die Maschinen, Eisenbahnschienen, Lokomotive usw. herstellen, die den wirklichen Inhalt des exportierten Kapitals ausmachen..“ Aber, wie Cliff fragte, „wie sollte das nur auf die Reallöhne einer winzigen Minderheit auswirken“, der Arbeiteraristokratie? Er fuhr fort:

Führt die Steigerung der Arbeitsmöglichkeiten und die Abnahme der Arbeitslosigkeit zum aufstieg einer kleinen „Arbeiteraristokratie“, während die Bedingungen der Masse der Arbeiterklasse kaum beeinflußt werden? Sind Bedingungen der mehr oder weniger vollen Beschäftigung einer Steigerung der Lohnunterschiede zwischen Facharbeitern und angelernten Arbeitern dienlich? Überhaupt nicht. [58]

Das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts bietet überzeugende Beweise über diesen Punkt. Hobsbawm sowie Offiziere spielten eine angebliche Steigerung der Lohnunterschiede in der Baumwollindustrie hoch. Dieses Bild einer breiter werdenden Lücke beruht zum großen Teil auf einem Vergleich der Löhne der Spinner und der Weber. Aber diese Zahlen sind fraglich. Anderen Nichtaristokraten in der Baumwollindustrie ging es ebenso gut wie oder besser all den Spinnern, die auf einer Tabelle der prozentualen Lohnerhöhungen zwischen 1860 und 1874 bloß in fünfter Stelle waren. [59] Anscheinend beruhen Fosters Beweise auf den Verdiensten von männlichen Erwachsenen und sind daher vielleicht nicht so repräsentativ, wie er möchte, in einer Industrie, worin Frauen und Jugendliche so stark vertreten waren. Ferner deuten Beweise darauf hin, daß, auch wenn wir eine Vergrößerung der Lohnunterschiede akzeptieren, ihr Verlauf weit davon entfernt war, glatt zu sein. Mitte des Jahrhunderts wurde sie durch Steigerungen und Stürze unterbrochen, die von der allgemeinen Gesundheit der Wirtschaft, besonders vom Zustand der Baumwollindustrie, von bestimmten Auseinandersetzungen in der Industrie und vom allgemeinen Niveau des Klassenkampfs abhingen. [60] Jedenfalls würden steigende Lohnunterschiede in diesem Fall wenig bedeuten. Die Verteilung der Mitglieder der Familien der Spinner über eine breite Palette von Textilberufen hätte bedeutet, daß, auch wenn es eine beträchtliche Vergrößerung der Lohnlücke hätte geben sollen, hätte es nicht zur Entstehung einer deutlich erkennbaren sozialen Schicht geführt. Ein größerer Lohn für ein Familienmitglied würde nicht die ganze Familie in eine völlig neue Untergruppe erheben, um Fosters Phrase zu benutzen. [61]

Hobsbawms eigene Statistiken über die Untergliederung der Aristokraten und der Plebejer in verschiedenen Industrien dienen weiter dazu, das Argument zu verstärken, daß erhöhte Löhne für Hochbezahlte in einer Industrie eigentlich das allgemeine Niveau der Löhne erhöhte. So war in Industrien mit einem hohen Anteil von angeblichen Aristokraten wie dem Eisen- und Stahlgewerbe (27 Prozent) und der Druckindustrie (32 Prozent) die Zahl der Arbeiter, deren Verdienste in der untersten Kategorie (weniger als 25 Shilling pro Woche) lagen, relativ niedrig mit 31 Prozent bzw. 16 Prozent. In den „nichtaristokratischen“ Leinen- und Juteindustrien mit bloß 5 Prozent bzw. 2 Prozent Aristokraten war das allgemeine Lohnniveau viel niedriger mit einer viel höheren Prozentsatz (67 Prozent bzw. 70 Prozent) in der untersten Kategorie. [62]

Der wesentliche Punkt besteht nicht darin, daß es keine Vergrößerung der Lohnunterschiede gab – eigentlich gab es fast sicherlich einigermaßen eine Vergrößerung. Was wichtig ist, ist weniger die Tatsache der Lohnunterschiede, sondern der politische und gesellschaftliche Zusammenhang, worin sie funktionieren.

Jede Diskussion einer Arbeiteraristokratie ist den folgenden beiden Faktoren unterworfen. Erstens. auch wenn man zugibt, daß die Fähigkeit des Imperialismus, Nahrungsmittel und Rohstoffe äußerst billig aus den Kolonialländern zu bekommen, zum ökonomischen Vorteil der Kolonialmacht funktionierte, warum sollte nur eine Minderheit, die Arbeiteraristokratie davon profitieren? Schließlich nehmen Ausgaben für die grundsätzlichen Bedürfnisse des Lebens einen größeren Anteil des Einkommens der Niedrigerbezahlten im Vergleich mit den relativ gut Verdienenden. Zweitens, was zum Teil eine logische Folge des Ersteren ist, vermindert alles, was den Lebensstandard der Masse der Arbeiter, ungelernt sowie angelernt, den Unterschied zwischen ihren Lebensstandard und dem der Facharbeiter. Wie Cliff darauf andeutete: „Je höher der allgemeine Lebensstandard, einschließlich dem Bildungsniveau, desto leichter ist es für ungelernte Arbeiter, angelernte oder sogar Facharbeiter zu werden.“ [63] So werden durch die Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards die Unterschiede zwischen Teilen der Arbeiterklasse verringert. Daten über Löhne für die Periode 1850-1870 zeigen eine Erhöhung der Reallöhne um etwa 40 bis 50 Prozent. [64]

Die Leninsche Theorie der Arbeiteraristokratie läßt sich in diesem Licht beurteilen. Wenn es stimmt, daß niedrigbezahlte Arbeiter, und nicht bloß eine Arbeiteraristokratie, damals reell besser dran waren, gibt es zumindest in Lenins Beschreibung einer breiteren Arbeiteraristokratie über die „Arbeiterbürokratie“ hinaus, die als „Arbeiterkommis“ des Kapitals handelten und ihre Position zum Schaden der Masse der Arbeiterklasse aufrechterhalten. Ebensosehr gibt es Implikationen für diejenigen wie Hobsbawm und Foster, die Lenins Anwendung des Begriffs Arbeiteraristokratie als kausale Erklärung des Wachstums des Reformismus und der Dämpfung der Militanz in der Arbeiterklasse Aufnahmen. Jede Andeutung, daß die wirtschaftlichen Wurzeln des Reformismus viel tiefer waren, als Lenin verstand, läßt ihn sowie seine Nachfolger (besonders diejenigen wie Foster, die eine viel kühner zusammenhängende Analyse vom marxistischen Standpunkt versuchten) offen zur Kritik.

Auch Zusätzlich zu dieser Frage, wie groß die Schicht der Arbeiterklasse war, die vielleicht aus den Profiten des Imperialismus profitierte, und der Frage, wie diese Vorteile möglicherweise auf eine dünne Kruste hätte beschränkt sein können, gibt es noch die Frage, wie eine solche Bestechung hätte funktionieren können. Kein Kapitalist sagt seinen Arbeitern, daß deswegen, weil er höhere Profite gemacht hat, er bereit ist, ihnen höhere Löhne zu bezahlen. Trotzdem wurde keine andere Erklärung davon, warum Kapitalisten die Arbeiteraristokratie bestechen sollten, außer diesem unwahrscheinlichen und offenbar automatischen Prozeß unter den Kapitalisten eines imperialistischen Landes von Lenin angeboten.

Es gibt auch die Frage der Permanenz der Vorteile, die zur imperialistischen Wirtschaft durch den Export des Kapitals hinzukommen. Eigentlich wird es wahrscheinlich eine ökonomische Gegenreaktion geben, wenn der Export des Kapitals damit anfängt, als Hemmschuh für die Wirtschaft des Metropollandes zu werden. Für eine Periode trägt der Imperialismus zur Gesundheit der Wirtschaft im Metropolland bei. Er schafft Märkte, liefert Arbeitsstellen und verbessert das allgemeine Niveau der Löhne, da es eine Nachfrage nach Arbeitskräften gibt.

Tendenzen zur Überproduktion werden ausgeglichen, weil Nachfrage im Innenmarkt sowie im Ausland verursacht wird. Aber das dauert nicht ewig. Das Bedürfnis, die Profite zurückzubringen oder Zinsen auf dem zu den Kolonien exportierten Kapital zu bezahlen, bedeutet, das die Kolonien den Kauf von Waren aus dem Metropolland beschränken und/oder sie durch eigene ersetzen muß. Also führt gerade die Tatsache, daß das imperialistische Land Kapital exportiert hat, tatsächlich zur Überproduktion zu Hause mit darausfolgenden Schließungen und Lohnsenkungen in der Wirtschaft des Metropollandes.

Ebenso kann der Export von Kapitals die Konkurrenzfähigkeit einer imperialistischen Wirtschaft schwächen. Kurzfristig bedeutet der Export von Kapital, daß es zu Hause nicht ständig wiederinvestiert wird und daß daher die Tendenz zum Fall der Profitrate verringert wird. Langfristig aber bedeutet das, daß die Industrie weniger effizient und weniger produktiv wird. Wenn sie auf Konkurrenz stoßt, wird sie aus Märkten gedrängt wird und darauf folgen Entlassungen und Lohnsenkungen. Das offensichtliche Beispiel ist Großbritannien. Als es eine unübertroffene Position als einzige größere kapitalistische Macht hielt, verringert der Export von Kapital die Tendenz zum Fall der Profitrate und das kam der Wirtschaft zugute. Später, als es Konkurrenz von z.B. der deutschen Wirtschaft begegnete, fand es sich in der Position, wo es rasch im Vergleich mit den technisch überlegenen und besser kapitalisierten deutschen Industrien zurückging. [65]

Man könnte zur Verteidigung von Lenin argumentieren, diese Bumerang-Wirkung sei vielleicht nicht offensichtlich gewesen, da die Ära des Imperialismus erst am Ende des 19. Jahrhunderts angefangen sei. Diese Verteidigung von Lenin geht aber an einer weiteren Frage vorbei. Wenn das bestehen einer Arbeiteraristokratie so fest von der Ära des Imperialismus abhängt, wie dann kann man sie als Erklärung des Reformismus Mitte des 19. Jahrhunderts anwenden, als der britische Kapitalismus sicherlich nicht auf ihrem höchsten Stadium des Imperialismus war? Dieser Punkt ist die grundsätzliche Schwäche im Falle des vorsichtigsten Verteidigers Lenins, John Foster, wie unten gezeigt.

Die Urheber des Begriffs „Arbeiteraristokratie“ in der marxistischen Tradition bewiesen nicht deutlich, daß eine solche Schicht die Hauptursache des Reformismus sei, weder während des 19. noch des 20. Jahrhunderts. Eigentlich versuchte Marx nie, das zu machen. Die Definition einer solchen Aristokratie ist überhaupt nicht klar und scheint, sehr von den politischen Umständen abzuhängen, in denen das Argument gemacht wurde. Ferner wird keine Erklärung davon angeboten, wie eine solche Schicht hätte gekauft werden können. Die Vermutung, daß eine Schicht der Arbeiterklasse bestochen worden sei, scheint, nicht im Zusammenhang davon zu funktionieren, was wir über Klassenverhältnisse im allgemeinen oder besonders die Ereignisse in Großbritannien in der zweiten des 19. Jahrhunderts wissen. Trotzdem ist die Verwendung der Begriffs „Arbeiteraristokratie“ als kausale Erklärung für die Passivität oder die Fügung der Arbeiterklasse Teil der Hauptströmung der marxistischen Geschichtsschreibung über das 19. bzw. 20. Jahrhundert geblieben.

 

 

Die Zwischenkriegsperiode

Während der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg „machte die Durchführung der stalinistischen Orthodoxie wenig, um eine ernsthafte kritische Analyse dieser Seite der marxistischen Theorie zu ermutigen“. [66] Im allgemeinen neigten Schriften über das Thema, der Parteilinie aus Moskau zu folgen. So sprach während der Dritten Periode, als die Sozialdemokratie als Sozialfaschismus betrachtet wurde, Ralph Fox in seinem Buch Der Klassenkampf in der Epoche des Imperialismus vom „vorläufigen Sieg des Opportunismus unter englischen Arbeitern“, der auf dem „Kolonialismus und der Entwicklung der Arbeiteraristokratie“ beruhte. Er widerspiegelte den politischen Punkt der Moskauer Linie indem er „ein Bündnis zwischen der Arbeiteraristokratie und dem niederen Kleinbürgertum“ sprach und fügte hinzu, alle anderen Erklärungen seien „falsch und antileninistisch“. [67]

Noch tatsächlich beschränkte sich die Anwendung des Begriffs auf Anhänger der Moskauer Orthodoxie. Nach dem Aufstieg Hitlers und der Niederschlagung der deutschen Arbeiterklasse konnte Max Adler, von Trotzki als „zentristischer Barometer“ beschrieben, schreiben:

Zur Zeit erfährt die ganze Arbeiteraristokratie zweifelsohne einen ernsten Niedergang. Die Tatsache allein ist ein schmetterndes Argument gegen die reformistische Orientierung, die hauptsächlich von der Arbeiteraristokratie vertreten wurde und wird. [68]

Die Schriften Adlers sind ein gutes Beispiel des Grades, zu dem der Moralismus die Schriften der Linke über dieses Thema in der Zwischenkriegsperiode durchdrang, und der allgemeinen Annahme der These der Arbeiteraristokratie auch über die Reihen der Komintern hinaus. [69] „Eigentumsbesitz wurde zu einem Band, das die proletarische Schicht der Arbeiteraristokratie stärker zur Gegenwart fesselte als zur künftigen Aufgabe des Proletariats.“ [70] Während diese Ansicht vielleicht allzu bekannt aus unserer eigenen Zeit ist, ist sie kaum eine marxistische Analyse.

Nach der Dritten Periode und der Wirkung des Hitlerschen Anstiegs Hand die Macht, änderte die Komintern ihre Schätzung der Verhältnisse innerhalb der Arbeiterbewegung und wechselte zur Politik der Volksfront. Die Geschichtsschreibung der Kommunistischen Partei widerspiegelte getreu diese veränderte Orthodoxie aus Moskau. Für Allen Hutt und A.L. Morton, wie Field bemerkt, „war die Arbeiteraristokratie anders als in der Dritten Periode wieder im Laufbahn, wo sie potentiell Teil der fortschrittlichen Bewegung sei“. Sie sei nichtsdestotrotz „für den Sektionalismus der britischen Arbeiterbewegung verantwortlich“ und daher ein Fessel auf die Einheit. Field betonte seinen Punkt mit einer erläuternden Untersuchung der Darstellung des Chartismus in den Schriften der Historiker aus der Kommunistischen Partei. „Während Fox die allgemeinen Gewerkschaften und die Chartistenbewegung der 1830er und 1840er Jahre wegen ihrer revolutionärer Strenge gelobt hatte, betonten Hutt und Morton ihre Einheit.“ Die wachsende Betonung auf Einheit, um nicht Ärger für die Volksfrontpolitik zu machen, erklärt vielleicht einigermaßen, warum in seinem Buch Eine Volksgeschichte von England A.L. Morton den Imperialismus diskutierte, ohne die Vorstellung einer Arbeiteraristokratie, die besondere Vorteil bekommt, zu erwähnen. [71]

 

 

Anmerkungen:

1. Für eine Darlegung dieser Theorie s. J.L. Love, Raul Prebisch and the Origins of the Doctrine of Unequal Exchange, Latin American Research Review, XV. 3 1980, S.47ff.

2. N. Harris, Theories of Unequal Exchange, International Socialism 2:33, Herbst 1986, S.117.

3. s. die Diskussion ebenda, S.116.

4. A. Gorz, Farewell to the Working Class, London 1982, zit. in A. Rogers, A new underclass, International Socialism 2:40, Herbst 1988, S.68.

5. N. Harris, a.a.O., S.118.

6. Lenin, Imperialism and the Split in Socialism (nachher ISS), in Lenin on Britain, Moskau k.D.

7. Marx an John Malcolm Ludlow, 10. April 1869, in MEW, Bd.32, Berlin 1965, S.600.

8. Engels an August Bebel, 15. Oktober 1875, in MEW, Bd.34, Berlin 1966, S.161-2.

9. s. H. Draper, Karl Marx’s Theory of Revolution, Bd.2, New York 1978, S.92.

10. Marx, Artikel in der New York Tribune, 14. Juli 1853, in MEW, Berlin 196?, S. .

11. MEW, Bd.6, S.55. (?)

12. Marx, Instruktionen für die Delegierten des Zentralrats: 6. Gewerkgenossenschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in MEW, Bd.16, S.197.

13. Engels, Die Lage der arbeitenden Klassen in England, in MEAW, Bd.I, S.178-9.

14. Marx, Lohn, Preis und Profit, in MEW,16, Berlin 1962, S.152; Engels In Sachen Brentano contra Marx wegen angeblicher Zitatsfälschung, in MEW, Bd.22, Berlin 1963, S.95-96.

15. Marx an Engels, 4. November 1864, in MEW, Bd.31, Berlin 1965, S.16.

16. Marx, Überblick März-Oktober 1850, in MEW, Bd.7, Berlin 196?, S.445. (?)

17. Draper, a.a.O., Bd.2, S.106.

18. E. Jones, Die Politik der Wahrheit, in Notes to the People, Bd.2, 1852, S.862.

19. Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in MEW, Bd.16, Berlin 1962, S.10.

20. ebenda.

21. ebenda.

22. Marx, Aufzeichnung der Reden von Karl Marx über die Trade-Unions. I., in MEW, Bd.17, Berlin 1962, S.649.

23. Marx an Engels, 5. April 1869, in MEW, Bd.32, Berlin 1965, S.293.

24. Engels an Friedrich Adolph Sorge, 21. September 1872, in MEW, Bd.33, Berlin 1966, S.524; zit. in Lenin, ISS, S.?.

25. Engels an Marx, 5. Oktober 1858, in MEW, Bd.29, Berlin 1963, S.358.; zit. in Lenin, ISS, S.?.

26. Engels an Karl Kautsky, 12. September 1882, in MEW, Bd.35, Berlin 1967, S.357; zit. in Lenin, ISS, S.?.

27. Engels an Marx, 5. Februar 1851, in MEW, Bd.27, Berlin 1963, S.180; zit. in Lenin, ISS, S.?.

28. Engels, Die englischen Wahlen, in MEW, Bd.18, Berlin 1962, S.496.

29. Engels an Friedrich Adolph Sorge, in MEW, Bd.37, Berlin 1967, S.321.

30. Engels an Marx, 11. August 1881, in MEW, Bd.35, Berlin 1967, S.20; zit. in Lenin, ISS, S.?. Im Quelle ist der Text in englischer Sprache: „men sold to, or at least paid by the middle class“.

31. Engels, England 1845 und 1885, in MEW, Bd.21, Berlin 1962, S.194.

32. Engels an Marx, 11. August 1881, in MEW, Bd.35, Berlin 1967, S.20; zit in Lenin, ISS, S.?. In der Quelle ist der Text in der englischen Sprache: „those very worst ones [trade unions]“.

33. Engels, Vorwort zum 2. deutschen Auflage der Lage der arbeitenden Klasse in England, in MEW, Bd.22, Berlin 1962, S.325-9; zit in Lenin, ISS, S.?.

34. Engels an Laura Lafargue, 17. Oktober 1889, in MEW, Bd.37, Berlin 1967, S.288.

35. Engels, [Der Streik der Londoner Dockarbeiter], in MEW, Bd.21, Berlin 1962, S.382.

36. Gareth Stedman-Jones, Class Struggle and the Industrial Revolution, in New Left Review, März-April 1975, S.61.

37. ebenda.

38. Lenin, How the Bourgeoisie Uses Renegades, in On Britain, S.430.

39. Lenin, Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in Lenin, Ausgewählte Werke (LAW), Moskau 1982, S.583.

40. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in LAW, Moskau 1982, S.189.

41. ebenda.

42. ebenda.

43. Lenin, ISS, S.315.

44. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in LAW, Moskau 1982, S.187-8.

45. Lenin, The Collapse of the Second International, in On Britain, S.223.

46. ebenda.

47. Lenin, ISS, S.325–6.

48. Lenin, “Left-Wing” Communism, an Infantile Disorder, in Selected Works, S.459. (anscheinend: Lenin, Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in LAW, Moskau 1982, S.586.)

49. G. Zinoviev, The Social Roots of Opportunism, in J. Riddell (Hrsg.), Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, New York 1984, S.493.

50. ebenda, S.492.

51. Marx, Lohn. Preis und Profit, in MEW, Bd.16, Berlin 1962, S.151–2.

52. Sinowjew, a.a.O., S.492.

53. T. Cliff u. D. Gluckstein, Marxism and Trade Union Struggle, London 1986, S.40.

54. K. Radek, The Second Congress of the Communist International (Protokoll), Bd.2, S.62.

55. Für eine Diskussion darüber s. International Socialism 2:50, Frühjahr 1991, S.6.

56. Lenin, Collected Works, Bd.22, Moskau 1964, S.298.

57. T. Cliff, The Economic Roots of Reformism, in Neither Washington nor Moscow, London 1982, S.110.

58. ebenda.

59. N. Kirk, The Growth of Working Class Reformism in Mid-Victorian England, London 1975, S.91.

60. ebenda, S.98.

61. P. Joyce, Work, Society and Politics, Brighton 1984, Kap.4.

62. Eric Hobsbawm, Labouring Men, London 1964, S.286-87.

63. T. Cliff, a.a.O., S.111.

64. W.G. Hoffman, British Industry 1700-1950, zit. in R. Harrison, Before the Socialists, London 1965; J. Kuczynski, A Short History of Labour Conditions in Great Britain 1750 to the Present, London 1947, S.54.

65. s. Tony Cliff, a.a.O., S.113, für eine längere Diskussion dieser Bumerang-Wirkung.

66. J. Field, British Historians and the Concept of the Labour Aristocracy, Radical History Review,19, 1979.

67. R. Fox, The Class in Britain in the Epoch of Imperialism, London 1932, S.56.

68. M. Adler, Metamorphosis of the Working Class, in Bottomore u. Goode, Austro-Marxism, Oxford 1978, S.217 ff.

69. s. z.B. V. Serge, Memoirs of a Revolutionary, London 1967, u. T. Rothstein, From Chartism to Labourism, London 1929.

70. M. Adler, a.a.O.

71. J. Field, a.a.O., S.68.

 

Fußnoten des Übersetzers

1*. Die Periode 1910-14 in Großbritannien wir als „The Great Unrest“ (die große Unzufriedenheit) bezeichnet, da in dieser Periode große Arbeitskämpfe in fast allen Branchen der Industrie stattfanden.

 


Zuletzt aktualisiert am 12.7.2001