Ian Birchall

 

Arbeiterbewegung und Parteiherrschaft

 

Teil II. (1953-1963)

10. Partei und Klasse in Westeuropa

Die Wende in der Politik der internationalen kommunistischen Bewegung während der fünfziger Jahre, die im vorigen Kapitel umrissen wurde, war eine Wende nach rechts. Sie war grundlegender als der Kurswechsel zur Zeit der zwanziger Jahre, bzw. der Volksfront oder des Zweiten Weltkriegs. Sie war kein bloßer taktischer Schwenker, sondern bedeutete eine Veränderung im gesamten Wesen der Parteien.

Und doch war dies nur das halbe Bild. Es gibt eine in der Linken sehr verbreitete Anschauung, wonach die Arbeiterklasse ständig und spontan nach der Revolution drängt, dabei aber angeblich nur von ihren Führern, gleich ob Sozialdemokraten oder Stalinisten, zurückgehalten und verraten wird. Diese Anschauung gründet sich auf eine oberflächliche und nicht stichhaltige Theorie des Klassenbewußtseins, die das Ausmaß, in dem die Arbeiterklasse instinktiv revolutionär ist, gewaltig überschätzt und zugleich ihre Leichtgläubigkeit und Verführbarkeit übertreibt.

Mit Ende des Zweiten Weltkriegs hatten Marxisten fast aller Richtungen eine schwere Wirtschaftskrise binnen weniger Jahre erwartet. Sie irrten: eine lange Periode der Vollbeschäftigung und Expansion hob an. Die zugrunde liegende Ursache waren die Rüstungsausgaben, die vom Koreakrieg und dem folgenden Rüstungswettlauf herrührten.

Das Ergebnis war, daß es den Arbeitern besser ging, daß sie echte Verbesserungen ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen erreichten. Dieser Umstand ermöglichte es den reformistischen Politikern, sich zumindest die passive Unterstützung der Arbeiterklasse zu erhalten. Das wiederum verhinderte, daß die revolutionäre Linke zwischen den späten vierziger und den späten sechziger Jahren wirkliche Erfolge bei den Arbeitern erzielte.

Das Klassenbewußtsein entwickelte sich in dieser Periode widersprüchlich. Einerseits interessierten sich die Arbeiter immer weniger für die aktive Mitarbeit in den traditionellen Organisationen der Arbeiterklasse. Mit dieser sogenannten Apathie ging jedoch ein viel größeres Selbstbewußtsein auf Seiten einer neuen Arbeitergeneration einher, die nicht die Demoralisierung durch Arbeitslosigkeit und die schweren Niederlagen der dreißiger Jahre erfahren hatte. Die Kämpfe der Arbeiter wurden immer unberechenbarer und unvorhersehbarer.

Vor diesem Hintergrund muß die Durchhaltefähigkeit der KPs in Westeuropa begriffen werden. Trotz der Zerreißproben der Entstalinisierung und des Polyzentrismus behielten die Massenparteien in Frankreich und Italien eine nicht zu unterschätzende Macht über die Klasse, weil es ihnen gelang, ihre Basis durch ihre Arbeit in den Parlamenten, Gemeinden und Gewerkschaften zu erhalten.

 

Frankreich

Auf den ersten Blick ist die Liste der Wahlerfolge der französischen KP eindrucksvoll. Sie erhielt mit einer einzigen Ausnahme (1958) bei jeder Nachkriegswahl mehr als 20% der Stimmen. Sicher hat die Partei der parlamentarischen Arbeit zentrale Bedeutung zugemessen – sie gibt wahrscheinlich mehr Geld für Wahlkämpfe aus als jede andere Partei.

In Wirklichkeit sind die Ergebnisse ihrer parlamentarischen Arbeit jedoch ziemlich begrenzt, in erster Linie deshalb, weil sie sich damit auf das Spiel der Bourgeoisie einläßt und daher auch deren Spielregeln einhalten muß – und diese kann die Regeln jederzeit ändern, wenn sie Gefahr läuft zu verlieren. Unter der Vierten Republik wurde das Wahlrecht zuungunsten der KP verändert. Bei den Wahlen von 1956 erhielt die KP z.B. einen Abgeordneten für jeweils ungefähr 37.000 Stimmen, – die Konservativen für jeweils 33.000, die Sozialisten für 32.000 und die MRP für 28.000. Unter der Fünften Republik war die Manipulation noch ausgeprägter: 1958 bekam die KP einen Abgeordneten für jeweils 39.0000 Stimmen, insgesamt 10, während die Gaullisten für je 20.000 Stimmen einen bekamen, – insgesamt 206. 1962 erhielt die KP für je 98.000 Stimmen einen Abgeordneten – insgesamt 41, während die Gaullisten für je 28.000 einen bekommen – insgesamt 233.

Das Wahlsystem der Fünften Republik benachteiligte die KP auch in anderer Hinsicht. Die Abstimmung fand in 2 Durchgängen statt, zwischen denen eine Woche lag. Die Kandidaten konnten ihre Nominierung nach dem ersten Wahlgang zurückziehen und, wenn sie wollten, ihren Wählern die Unterstützung eines anderen empfehlen. Dies begünstigte natürlich die Parteien der Mitte gewaltig; z.B. stimmte ein kommunistischer Wähler, wenn er sich zwischen einem Sozialisten und einem Gaullisten zu entscheiden hatte, fast mit Sicherheit für den Sozialisten, sozialistische Wähler dagegen würden sich bei der Wahl zwischen einem Kommunisten und einem Gaullisten nicht alle so eindeutig entscheiden, daß sie den Kommunisten wählten. So mußte die KP, um auch nur ihren rechtmäßigen Anteil an Parlamentssitzen zu bekommen, sich mit anderen Parteien über den gegenseitigen Rückzug von Kandidaten absprechen – auch um den unvermeidlichen Preis von politischen Zugeständnissen.

Zudem ist fraglich, wie weit die KP-Stimmen irgendeine Art von Klassenbewußtsein repräsentieren und wie weit sie nur negative oder Protest-Stimmen sind. Die Tatsache, daß die beiden Wahlen, bei denen die KP am schlechtesten abgeschnitten hat, diejenigen waren, die in Krisenzeiten stattfanden (1958 und 1968), bezeugt, wie schwankend die Wählerunterstützung ist. Das bestätigt auch eine Meinungsumfrage von 1951, aus der hervorgeht, daß 50% der kommunistischen Wähler einen Fortschritt durch Reformen vorziehen und nur 41% die Revolution für notwendig halten. Die Stärke der Partei in den ländlichen Gebieten resultiert wohl nicht nur aus den Erfahrungen im Widerstand, sondern auch aus viel älteren radikalen und antiklerikalen Traditionen. Z.B. ist die einzige Erklärung für den hohen kommunistischen Stimmenanteil unter den protestantischen Bauern im Gebiet von Gard in Südfrankreich die, daß es sich um eine antikatholische Geste handelt. Und 1956 hat die KP offenbar viele ihrer ländlichen Stimmen an eine andere radikale Richtung verloren, aber an eine der extremen Rechten – der Poujadisten. Jedenfalls zeigen die Stimmenverhältnisse, daß der kommunistische Wähleranteil am stärksten dort zurückging, wo die Poujadisten am besten abschnitten, und am meisten dort anstieg, wo diese sich nicht zur Wahl stellten.

Bis zu einem gewissen Grad hat die KP aus ihrer revolutionären Vergangenheit noch bestimmte Maßnahmen beibehalten, die ihr völliges Aufgehen im parlamentarischen System verhinderten. Sie übernahm nicht die Praxis aller anderen politischen Parteien Frankreichs, bekannte Lokalgrößen mit einer lokalen Gefolgschaft als Kandidaten aufzustellen, was sie in einem so regional denkenden Land mit Sicherheit Stimmen gekostet hat. Ihre Abgeordneten zahlen ihre Diäten in einen Parteifonds ein, aus dem sie grundsätzlich nur den Lohn eines Facharbeiters ausbezahlt bekommen sollen. In bestimmtem Umfang konnte die KP das Parlament als Plattform ausnutzen. So zeigen z.B. die Parlamentsstatistiken, daß in den sechs Monaten nach der Wahl von 1951 die KP-Abgeordneten im Durchschnitt anderthalbmal solange redeten wie andere Abgeordnete, und daß 4 der 6 redseligsten Abgeordneten Kommunisten waren. Aber die parlamentarischen Verfahrensregeln wurden ständig zu ihrem Nachteil geändert, und was noch wichtiger war: die parlamentarische Situation stellte sie vor die Wahl zwischen der Impotenz in Isolation und dem politischen Kompromiß um sehr begrenzter Ziele willen. Indem die KP die Wahlpolitik zum Zentrum ihrer Praxis machte, beschränkte sie ihre Anhänger auf die Rolle von Wählern, statt danach zu streben, ihre Entwicklung und Mobilisierung politisch voranzutreiben.

Trotzdem erhielt sich die KP immer noch einen soliden Kern von Arbeitermitgliedern. 1966 zeigte eine Untersuchung, daß 43,4% der Parteimitglieder Arbeiter in der Privatindustrie waren, 13,5% in der verstaatlichten Industrie und 18,6% Angestellte. Diese Stärke rührte nicht so sehr aus der Wahlarbeit der Partei her, als vielmehr aus ihrer Beherrschung der CGT, denn trotz des Mitgliederschwundes dieser Gewerkschaft in den fünfziger Jahren blieb die CGT in den Schlüsselsektoren der Schwerindustrie vorherrschend – Maschinenbau, Bauwirtschaft, chemische Industrie, Bergbau, Eisenbahn, Elektrizitätsversorgung.

Die KP behielt die CGT politisch weiter fest im Griff. Deren Statuten sehen vor, daß weder das oberste Gremium (das vereinigte Nationale Komitee) noch das tatsächliche Exekutivorgan (das vereinigte Büro) auf dem zweijährlichen Kongreß gewählt wird. (Das erstere besteht aus den Sekretariaten der verschiedenen Gewerkschaften, das letztere wird von diesem gewählt.) Formal ein Zugeständnis an den föderalen Status der CGT, macht diese Regelung de facto eine Herausforderung ihrer Führung unmöglich. Das Ergebnis ist, daß das Büro entweder aus loyalen Kommunisten besteht, oder aus zuverlässigen nicht kommunistischen Strohmännern (wenngleich sich in den fünfziger Jahren eine reformistische Opposition unter Führung von Pierre Lebrun entwickelte). Mit Ausnahme ihrer Reaktion auf die ungarischen Ereignisse ist die CGT der politischen Linie der KP gefolgt (s. Kapitel 7) und hat regelmäßig zu Demonstrationen wegen internationaler Fragen aufgerufen. Das bedeutete auch, daß, in dem Maße wie die KP versuchte, wieder auf die Bühne des französischen politischen Lebens zurückzukehren, die CGT sich „verantwortungsbewußter“ zeigte, indem sie sich an nationalen Planungs- und Beratungsgremien usw. beteiligte.

Es ist wahr, daß die Stärke der KP in den Fabriken in gewisser Hinsicht im Schwinden begriffen ist. 1962 waren nur wenig mehr als ein Viertel ihrer Zellen Betriebszellen. Und doch ist dieser Rückgang paradoxerweise ein Anzeichen für die Stärke der Partei. Da die Gewerkschaftszweige selbst sich in Anhängsel der KP verwandelten, hat sich der Bedarf an eigenen Parteizellen verringert.

In den Fabriken verdanken KP und CGT ihre Stärke wesentlich der Existenz von Arbeiterdelegierten und Fabrikkomitees, die in der Nachkriegsperiode, als die KP in der Regierung saß, gesetzlich institutionalisiert wurden. Die Wahl von Arbeiterdelegierten unterscheidet sich sehr von der der „shop stewards“ in England. Obwohl die Delegierten von allen Arbeitern, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, gewählt werden, müssen die Kandidaten auf einer Gewerkschaftsliste aufgestellt werden. Das bedeutet, daß die Delegierten nicht aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeit, die Interessen ihrer Kollegen zu verteidigen, gewählt werden, sondern aufgrund ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft – und zwar oft von Arbeitern, die sie gar nicht persönlich kennen. Darüberhinaus werden die Delegierten oft wirksam von außerhalb der Fabrik kontrolliert.

Die Bedeutung der Gewerkschaftsdelegierten im Fabrikleben und der politischen Verankerung der KP hat ein revolutionärer Kritiker der KP so zusammengefaßt:

Trotz alledem sollte man nicht glauben, daß die militanten Gewerkschaftler in den meisten Fabriken privilegierte Leute sind. Die Bourgeoisie schließt Abkommen mit dem Gewerkschaftsapparat, nicht mit einzelnen Militanten. Und Arbeiterdelegierter zu sein bedeutet oft, daß man alle Hoffnungen auf ein Vorwärtskommen aufgeben muß, und häufig auch, daß man trotz aller gesetzlichen Garantien der Repression ausgesetzt ist.

Dennoch ist das Gesetz über Arbeiterdelegierte, genau wie jede andere Gesetzgebung dieser Art, eine Waffe in der Hand des Gewerkschaftsapparates und besonders der CGT, die uns hier beschäftigt, weil sie in Wirklichkeit der Apparat der französischen KP ist. Natürlich ist es nicht die Institution der Arbeiterdelegierten, die wir hier kritisieren, sondern der Gebrauch, den die CGT davon macht, um ihre Militanten auszuwählen und Druck auf sie auszuüben. Es liegt ja auf der Hand, daß einer nicht zur privilegierten Person oder gar zum Klassenverräter wird, wenn er monatlich 15 oder 20 Stunden für die Gewerkschaftsarbeit hat.

Aber da die Gewerkschaftsführung nach eigenem Gutdünken entscheidet, wer von diesen Stunden profitieren soll und wer nicht, kann sie zugleich diejenigen Militanten von allen Aktivitäten ausschalten, die nicht das Glück haben, ihr zu gefallen, in der Mehrzahl der Fälle kann sie sich der Fügsamkeit derer sicher sein, denen ein Gewerkschaftsdelegierten-Mandat gegeben wurde, da sie ihnen notfalls droht, die Mandate nicht zu erneuern.

Man muß dazu sagen, daß die Betroffenen diese Drohung nicht auf die leichte Schulter nehmen können. Denn die 15 oder 20 Stunden Gewerkschaftszeit monatlich, diese Stunden, in denen man der kapitalistischen Ausbeutung und Entfremdung entfliehen und gleichzeitig seine Energie dem Kampf für seine Klasse widmen kann, bedeuten einem Militanten sehr viel. Mit diesen Mitteln hält die französische kommunistische Partei über die CGT ihre Militanten in Schach. So ist es nicht überraschend, daß in den Fabriken nahezu sämtliche Aktivitäten der KP vom Gewerkschaftsapparat durchgeführt werden und daß die Gruppe der KP-Militanten sich weitgehend mit derjenigen der Delegierten in den Fabrikkomitees und der Gewerkschaftsdelegierten überschneidet. Kürzlich hat die CGT in einer ihrer Veröffentlichungen behauptet, im ganzen Land 20.000 Delegierte zu haben. Die Zahl zeigt recht deutlich, auf weiche militanten Kräfte sich die KP in den Fabriken stützen kann. [1]

Die beherrschende Stellung ermöglicht der CGT die Kontrolle über die Kommunikations- und Diskussionsmittel in der Fabrik. Ein Renault-Arbeiter schreibt darüber:

Die CGT mag beschließen, daß ein reihum durchgeführter halb- oder viertelstündiger Streik alle 14 Tage das beste Mittel ist, um die Geschäftsführung zu bekämpfen. Man legt die Entscheidung darüber nicht den Arbeitern zur Abstimmung vor, sondern schickt einige bereits überzeugte Arbeiter in den Werkstätten und Abteilungen herum, um breite demokratische Debatten über das Problem der Organisierung des rotierenden Streiks in Gang zu setzen. So wird die Festsetzung des Tages und der Uhrzeit diesen Basisversammlungen überlassen. Jedem, der Einspruch erhebt, weil er grundsätzlich nicht einverstanden ist, wird man bald klarmachen, daß dies gar nicht zur Diskussion steht. [2]

Abgesehen davon haben die Fabrikkomitees beträchtliche Kompetenzen – natürlich nicht für die Produktion, sondern für die Verwaltung von Kantinen, Ferienwohnungen usw. Das Komitee der Autofabrik Renault-Billancourt hat z.B. über 200 bezahlte Angestellte – und wenn die CGT ein Komitee kontrolliert, bekommen ihre politischen Freunde die Stellen. Gerade das Vorhandensein so vieler Mitglieder und Sympathisanten, die ein wohlbegründetes Interesse an der Unterstützung der KP haben, ermöglichte es der französischen Partei (zumindest bis zum Mai 1968) eine physische Mauer zwischen der Arbeiterklasse und den revolutionären Sozialisten zu errichten, innerhalb der Fabrik konnte ein isolierter Militanter wirkungsvoll von jeder Gewerkschaftsaktivität ausgeschlossen und in einigen Fällen sogar beim Management denunziert werden. Außerhalb der Fabrik wurden Flugblattverteiler und Plakatkleber verprügelt, es kam sogar vor, daß bis zu 20 KPler einen vereinzelten linksradikalen Propagandisten mit Eisenstangen angriffen. [3] All dies wurde mit Behauptungen gerechtfertigt, daß die Linksradikalen im Sold der Regierung oder in Verbindung mit den Faschisten stünden.

Sowohl in Frankreich wie in Deutschland war vor 1914 die Beteiligung von Sozialisten an der örtlichen Verwaltung ein bedeutendes Moment, das die Entwicklung des Reformismus in der Bewegung begünstigte. Die tagtägliche Kleinarbeit in der Verwaltung von einzelnen örtlichen Angelegenheiten lenkte gewaltig vom Kampf für langfristigere Ziele ab. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich im modernen Frankreich, wo die KP einen Großteil ihrer Zeit und Kraft dem Ziel der Machtübernahme in den Gemeinden widmet. Sie tut dies trotz der Tatsache, daß die französische Gemeindeverwaltung noch weniger Entscheidungen treffen oder die Bedürfnisse des Volkes befriedigen kann als in Großbritannien. Die Gemeinderäte werden nur alle sechs Jahre gewählt, und da es in Frankreich eine starke zentralistische Tradition gibt, die bis in die vornapoleonische Zeit zurückreicht, haben die Räte wenig Machtbefugnis, etwas zu tun, ohne daß die Ausgaben dafür von der Regierung bewilligt sind. Bis 1968 wurde das Erziehungswesen vollständig von Paris aus verwaltet, und die lokalen Behörden konnten weder Form noch Inhalt nach eigenem Ermessen verändern. Trotz einiger Reformen in letzter Zeit gibt es auf lokaler Ebene wenig wirkliche Macht. Die kommunistischen Gemeinden können sich vielleicht ein wenig Machtgefühl verschaffen, indem sie die Hauptstraße „Stalinallee“ nennen, aber das ist nur Selbstbetrug.

Worüber die Gemeinden jedoch verfügen, das sind Arbeitsplätze. In einer kommunistischen Gemeinde bekommen sehr viele Parteimitglieder und Sympathisanten einen Arbeitsplatz – sicher keinen mit hohem Gehalt, dafür aber mit der angenehmen Atmosphäre, die besteht, wenn man mit Genossen zusammen und nicht so sehr für einen Boß arbeitet. Diese Leute stellen eine große Loyalitätsreserve für die Partei dar.

In einer Gemeindeverwaltung gedient zu haben ist eine große Hilfe für diejenigen, die parlamentarische Ambitionen haben. Von den 41 KP-Abgeordneten, die 1962 gewählt wurden, waren etwa 15 Bürgermeister und noch mehr Gemeinderäte. Wenn man die Angestellten der kommunistischen Gemeinden und der von der CGT kontrollierten Fabrikkomitees zusammenzählt und noch die Mitarbeiter von kommunistischen Publikationsorganen und kommunistisch kontrollierten oder beeinflußten Kultur-, Sport- und Wohlfahrts-Organisationen dazurechnet, so kommt man auf Tausende von Leuten, deren Treue zur Partei eine materielle Grundlage hat und die gleichzeitig mehr daran interessiert sind, eine Art Gegengesellschaft innerhalb des Kapitalismus zu verwalten, als das System als Ganzes in Frage zu stellen.

 

Italien

Die italienische KP hat, oberflächlich betrachtet, eine noch eindrucksvollere parlamentarische Erfolgsbilanz aufzuweisen als die französische. Sie hat ihre Stimmenzahl und ihren Stimmenanteil bei jeder Nachkriegswahl gesteigert. Die Partei hält Disziplin unter ihren Abgeordneten, indem sie sie den größeren Teil ihrer Diäten in einen Parteifonds einzahlen läßt. Dabei bleibt ihnen immer noch ein hübscher Anteil – 1971 betrug das Gehalt eines italienischen Abgeordneten nach Steuerabzug rund 4.000 DM. Darüberhinaus werden den KP-Abgeordneten ihre Wahlkampfspesen von der Partei bezahlt, während die Abgeordneten der Rechten selbst dafür aufkommen müssen. Ein italienischer Abgeordneter hat noch viele andere Privilegien wie kostenloses Reisen, Gratishaarschnitt, freie Eintrittskarten für Kino und Sportveranstaltungen.

Aber wie die französische Partei bezieht die italienische KP ihre Unterstützung ebensosehr vom traditionellen Radikalismus wie von klassenbewußten Arbeitern. Nicht die industrialisierten Städte im Norden liefern der Partei die meisten Wähler; in diesem Gebiet fällt nur etwa ein Drittel der Arbeiterstimmen an die KP. Ihre stärkste Bastion sind die Landpächter („mezzadri“) und Landarbeiter Mittelitaliens, von denen bis zu zwei Drittel kommunistisch wählen.

Die KP-Abgeordneten beteiligen sich äußerst aktiv am parlamentarischen Leben; sie stellen mehr Fragen und halten mehr Reden als der durchschnittliche Abgeordnete. Aber Kommentatoren haben auch auf ihre „konstruktive“ Haltung zum Parlament hingewiesen – ein bedeutender Prozentsatz der KP-Anträge wird von der Nationalversammlung angenommen oder verwertet, und sie sind immer bereit, eher konstruktive Verbesserungen zu Gesetzen vorzuschlagen als sie einfach zu bekämpfen. [4]

Die Position der italienischen KP in der CGIL war sehr verschieden von der der französischen Partei in der CGT, denn sie teilte sich mit der sozialistischen Partei in die politische Kontrolle. Diese war deshalb nicht weniger straff, und es bestand eine enge Verzahnung zwischen dem Sekretariat der CGIL, der KP-Führung und der Parlamentsfraktion der KP. Die Wahlen zu den Führungsgremien waren selten ein Gegenstand für Auseinandersetzungen – man gestand der Sozialistischen Partei eine überproportionale Vertretung in ihnen zu. Bis zur Mitte der fünfziger Jahre, als die kommunistische Politik im Grunde genommen ununterscheidbar von der sozialistischen war, konnte man die CGIL wegen politischer Fragen mobilisieren; sie organisierte z.B. 1953 Streiks gegen die geplanten Wahlrechtsänderungen, die dazu geführt hätten, daß die KP im Parlament unterrepräsentiert gewesen wäre. Zehn Jahre später spiegelte sich die inzwischen viel respektablere Politik der KP auch in der CGIL wider; sie führte Feldzüge für „Strukturreformen“ durch. Trotzdem entwickelte die CGIL zunehmend auch unabhängige Positionen. Auf dem Kongreß des WGB im Dezember 1961 in Moskau legte sie ein Alternativprogramm vor, das die Notwendigkeit einer flexibleren Anpassung an örtliche Bedingungen betonte sowie die Notwendigkeit der Unabhängigkeit der Gewerkschaften von politischer Kontrolle. In den fünfziger Jahren nahm die Stärke der CGIL bedeutend ab. Dies war weitgehend eine Folge der Demoralisierung und Desillusionierung der Arbeiter über die Taktik ihrer Führung. Daneben war eine noch nicht dagewesene Welle von Angriffen auf die Gewerkschaft dafür verantwortlich. Bei Fiat weigerte sich die Geschäftsleitung, mit der CGIL zu verhandeln und soll sogar die Konkurenzgewerkschaften CISL und UIL finanziell unterstützt haben; 1955 verkündete die US-Regierung, daß keine Lieferverträge für militärische Ausrüstungen mit italienischen Firmen geschlossen würden, in denen die CGIL mehr als 50% der Stimmen bei den Betriebsratswahlen bekam. Trotz der Rückschläge blieb die CGIL jedoch auf nationaler Ebene die stärkste Gewerkschaft, bei den Arbeitern war ihre Führung noch ausgeprägter, denn ihre Konkurrentin, die CISL, erzielte ihre Hauptgewinne bei den Angestellten.

Trotz allem führte die Welle industrieller Militanz in den späten fünfziger und sechziger Jahren zu einer Verbesserung des allgemeinen gewerkschaftlichen Organisationsgrades, und als der Kalte Krieg aufhörte und eine pragmatischere Politik sich entwickelte, konnte die CGIL ihre Position im Vergleich zu ihren Rivalen stärken. Sie kontrollierte ihre Basis durch die Commissione Interna, die den französischen Fabrikkomitees ähnelten; jedoch hatte sie sie nie so fest im Griff wie die KP in Frankreich. All dies verhinderte nicht den langfristigen Verfall der Parteizellen in den Fabriken; die Zahl der Zellen am Arbeitsplatz betrug:

1954:

11.500

1959:

  7.115

1963:

  4.700

(Quelle: Offizielle Parteistatistiken)

Regionale oder lokale Regierungsbeteiligung ist für die italienische KP eine noch wichtigere Grundlage als für die französische. Seit sie die Aussicht auf Beteiligung an der nationalen Regierung 1948 aufgeben mußte, hat die Partei immer für eine Erweiterung der Vollmachten der regionalen und lokalen Behörden agitiert; das Bündnis mit der sozialistischen Partei war für sie wichtiger im Hinblick auf örtliche Wahlen als auf eine parlamentarische Strategie.

Ein besonders gutes Beispiel der KP-Herrschaft ist Bologna in Norditalien, wo die KP den Stadtrat seit Ende des Zweiten Weltkrieges beherrscht. [5] Das Maß ihrer Verankerung zeigt die Tatsache, daß die KP bei den örtlichen Wahlen etwa 45% der Stimmen erhält – mindestens 5% mehr als im selben Wahlbezirk bei den nationalen Wahlen. Der Stadtrat von Bologna kann einige solide Errungenschaften für sich buchen – mit dem Bau billiger Wohnungen und Schulen ist er den meisten großen italienischen Städten voraus. Aber seine finanziellen Grenzen sind trotzdem genau festgelegt, und die Kommunisten sind stolz darauf, den Haushalt im Lot zu halten. 1964 gelang es dem Stadtrat von Bologna, eine Anleihe von 42 Mill. DM auf dem westdeutschen Finanzmarkt auszuhandeln, die die italienische Regierung dann aber blockierte.

Um an der Macht zu bleiben, mußte die KP in Bologna viele Zugeständnisse an die Mittelklasse machen. Man betonte, daß Togliatti wiederholt von einem Bündnis mit den Mittelklassen gesprochen hatte, und war bemüht, damit die Stimmen und Sympathien der vielen Ladeninhaber und Handwerker in der Stadt zu gewinnen. Man machte auch den katholischen Wählern gegenüber entgegenkommende Gesten: 1966 ernannte der Stadtrat den Kardinal Lercaro, den Erzbischof der Stadt, zum Ehrenbürger. Man bedient sich noch einer Unzahl anderer Mittel, um das Eindringen der Partei in das gesamte örtliche Leben zu sichern. Die Stadt verfügt über mehr als 80 Volkshäuser. Das sind Gebäude, die Restaurants, Büchereien und viele soziale Einrichtungen ebenso wie kommunistische Büros enthalten. Die Organisationen der KP reichen vom Kulturkreis Antonio Gramsci für Intellektuelle bis zur Vereinigung der Mütter gefallener Partisanen. Die Parteiführer haben eine persönliche Gefolgschaft. Am wichtigsten sind die Genossenschaften – landwirtschaftliche, Produzenten- und Konsumentengenossenschaften –, die 1956 fast 10.000 Mitglieder hatten. Die KP ist deshalb direkt und indirekt ein wichtiger Arbeitgeber. Das Rathaus bezahlt mehr als 6.000 Angestellte, und viele andere Zugänge zu Arbeitsplätzen sind zumindest teilweise unter Parteikontrolle. Bei Verträgen der Stadt werden die Genossenschaften häufig bevorzugt. In einem Fall baute die Stadtverwaltung bei der Ausschreibung eines Auftrags zum Bau einer Straßenunterführung eine Klausel ein, nach der für jeden Tag, an dem der Verkehr unterbrochen werden mußte, eine Strafe von mehr als 3.600 DM auferlegt wurde. Nur die Genossenschaft konnte sich bewerben, da sie wußte, daß man sich bei ihr nicht auf die Klausel berufen würde. All dies trägt zur großen Stärke der Partei bei. 1963 waren in Bologna von 475.000 Einwohnern 50.000 Mitglieder der Partei. Die Provinz Bologna hatte 126.000 Mitglieder, 5.000 Zellen und 246.000 CGIL-Mitglieder. Diese Basis ist jedoch politisch nicht unbedingt stabil; unter allen Mitgliedern werden täglich nur 15.000 Exemplare der Tageszeitung der Partei, L’Unità, verkauft. Im Süden sind die politischen Bande noch zerbrechlicher. In Neapel verließen während der Wahlkampagne von 1968 50 aktive KP-Mitglieder die Partei, um sich den Zeugen Jehovas anzuschließen, die besser bezahlten und gerne Ex-Kommunisten anheuerten, weil sie erfahrene Propagandisten waren. [6]

 

England

In England war der wachsende Nachdruck, den die KP auf die Parlamentswahlen legte, von einem Verfall ihres Stimmenanteils bei eben diesen Wahlen begleitet. Aber die Bedeutung der Partei lag auf einer anderen Ebene. In einer Situation der Vollbeschäftigung und der Ausdehnung der Akkordarbeit nahm die „shop stewards“-Bewegung, ein einzigartiges britisches Phänomen, an Stärke und Bedeutung zu. KP-Mitglieder wurden vielfach zu „shop stewards“ gewählt. Dies war nicht notwendigerweise Teil einer abgestimmten Strategie, sondern ergab sich daraus, daß sie die militantesten Leute in den Fabriken waren und sich am besten artikulieren konnten. Die Arbeiter – die, wie die Parlaments- und Gemeinderatswahlen zeigten, in keiner Weise ihre politischen Ansichten teilten –, betrauten sie deshalb mit der Verhandlungsführung.

In der Industrie stellte die Partei das einzige gut organisierte politische Netz dar – obwohl sie sich de facto sektiererisch verhielt und sich oft weigerte, ihre Solidarität auf Streiks auszudehnen, weiche von Arbeitern, die nicht in der KP waren, geführt wurden.

Die Parteipresse war voll von Berichten über den politischen Einfluß der KP auf einer elementaren Ebene – auch dann, wenn die Punkte, die sie sich aussuchte, eigentlich von wichtigeren Fragen ablenkten. So z.B. dieser: „Eine überfüllte Versammlung von 500 Technikern (...], auf der die Arbeitslosigkeit diskutiert wurde, hat eine Resolution verabschiedet, die nachdrücklich die Intensivierung des Ost-West-Handels fordert.“, oder: „In Yorkshire sind die ‚Shop Stewards‘ der Firma David Brown in Huddersfield mit ihren Parlamentsabgeordneten zusammengekommen und haben die Aufhebung der Handelsbeschränkungen gefordert.“ [7]

Dennoch verwickelte die Tatsache, daß die Partei in der „shop stewards“-Bewegung verwurzelt war, sie in Widersprüche, denn gleichzeitig strebte sie offizielle Positionen in den Gewerkschaften an und wollte linke Kandidaten in die Gewerkschaftsführungen bringen. Entsprechend ihrer gesamten Einstellung zum Parlamentarismus geriet der Gewinn solcher Wahlen zum Selbstzweck, statt ein bloßes Mittel zur Veränderung der Gewerkschaften zu sein. Das klassische Beispiel hierfür ist die ETU (Elektrikergewerkschaft) die die kommunistische Partei von Ende des 2. Weltkriegs bis 1961 kontrollierte; trotzdem veränderte die KP während dieser ganzen Zeit nicht die hochgradig undemokratische Verfassung der ETU, die dem Gewerkschaftstag nur ein Vorschlagsrecht gegenüber der Exekutive einräumte. Als sich das Blatt wendete, erleichterte dies die Hexenjagd auf die KP um so mehr. Der langfristige Widerspruch zwischen den KP-Militanten und denjenigen Kommunisten, die es zu offiziellen Positionen in der Gewerkschaftsbürokratie gebracht hatten, führte zum allmählichen Niedergang des KP-Einflusses in den Fabriken. Die Auswirkungen der ungarischen Revolution beschleunigten diesen Prozeß. 1962 waren schätzungsweise nur noch ein Achtel der Mitglieder am Arbeitsplatz organisiert; im Grunde genommen war die Partei nicht mehr imstande, eine disziplinierte und zusammenhängende Strategie in der Industrie zu verfolgen. Die ETU-Affäre, in der vor Gericht der Beweis für Beschuldigungen erbracht wurde, daß bestimmte ETU-Führer die Wahlen manipuliert hatten, ist ein Schlüsselbeispiel dieses Zerfalls. Solche Praktiken waren nie ausschlaggebend für den Einfluß der KP in der Industrie gewesen, aber der Rekurs auf sie war symptomatisch für den Niedergang der Partei in einer großen Gewerkschaft. Sie mußte sich in Tricks flüchten, weil sie die Mitglieder nie geschult oder politisch mobilisiert hatte; dieses Versäumnis wurde offenbar, als die Rechten in der Folgezeit das Erreichte zerstören konnten.

 

Der belgische Generalstreik

Am schärfsten stellten sich die Fragen, um die es ging, jedoch in Belgien, und zwar durch einen Generalstreik, der in einiger Hinsicht auf die Ereignisse des Mai 1968 vorausdeutete.

Im Dezember 1960 bereitete die belgische Regierung – eine Koalition von Liberalen und Christsozialen – ein Paket von wirtschaftlichen Maßnahmen unter dem Titel Loi unique vor, das durch die beabsichtigte Streichung sozialer Errungenschaften und die Anhebung der indirekten Steuern einen ernsten Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiter darstellte. Am 20. Dezember begann ein Streik der städtischen Arbeiter, und innerhalb von Tagen hatte er sich auf den größten Teil des Landes ausgebreitet. Streikkomitees wurden gebildet, aber wegen des Fehlens jeder Alternative und wegen der immer noch vorhandenen Basisstärke der sozialistischen Organisationen blieb die Kontrolle des Streiks in Händen der Sozialistischen Partei und der Gewerkschaftsbürokratie. Weil diese Führung nicht bereit war, den Streik durch die Organisation eines Marschs auf Brüssel auf ein höheres Niveau zu heben, verlor er seine Wucht und brach Mitte Januar zusammen.

Die belgische kommunistische Partei war nur eine kleine Organisation; ihr waren noch 10.000 Mitglieder verblieben gegenüber 150.000 bei Kriegsende. Aber sie verfügte über eine solide Basis in einer Reihe von Gewerkschaften, besonders bei den Hafenarbeitern von Antwerpen und den Maschinenbau-Arbeitern Zentralbelgiens. Wenngleich es falsch wäre, die Niederlage des Streiks als das Werk eines Betrugs von Seiten der KP zu bezeichnen, hätte die Sache doch ganz anders aussehen können, wenn die KP entschieden die Führung übernommen hätte.

Statt dessen zog sie es vor, hinter der Sozialistischen Partei und der Gewerkschaftsführung herzuschleichen. Sie unterstützte nicht den Ruf nach einem Marsch auf Brüssel, sondern beschränkte sich darauf, der Regierung gute Ratschläge zu geben wie z.B. diesen: „Vergreifen Sie sich nicht an Belgien, Monsieur Eyskens, an seiner Demokratie und seiner demokratischen Kampftradition für ein besseres Leben. Das ist der Rat, den wir Ihnen geben.“ [8] Dieselbe Ausgabe der Parteizeitung brandmarkte Sabotageakte bei der Eisenbahn als „Vorfälle, die nichts mit der Massenaktion der Arbeiterklasse zu tun haben“.

Am 27. Dezember machte die KP folgende Aktionsvorschläge:

[...] daß... die liberalen und christsozialen Abgeordneten von Streikposten und Arbeiterdelegationen besucht werden und erklärt bekommen, daß es ihre Pflicht ist, dem Willen ihrer Wähler zu gehorchen und nicht den Befehlen der Banken und der Regierung.

Auf dem Höhepunkt eines Generalstreiks lautete also die einzige Parole ... „Beeinflußt eure Abgeordneten!“

Ungefähr am 15. Januar erhob die KP die Forderung nach „Arbeiterversammlungen“, die entscheiden sollten, ob man die Arbeit wieder aufnehmen sollte oder nicht. Das war zwar eine brauchbare Forderung, aber sie kam einige Tage zu spät.

Der Streik wurde dadurch kompliziert, daß Belgien in zwei Gebiete mit verschiedenen Sprachen geteilt ist. Im französischsprachigen wallonischen Gebiet sind die älteren Industrien angesiedelt, und dies ist die Basis der sozialistischen Partei. Das flämische Gebiet wurde später industrialisiert, hier sind die katholischen Gewerkschaften fest verankert. Natürlich kam die Hauptdynamik des Streiks aus dem wallonischen Gebiet; jedoch wurde seine Entwicklung dadurch, daß einige der militantesten Führer, wie Andrè Renard, dem wallonischen Nationalismus ernste Konzessionen machten, nicht gerade begünstigt. Da die KP sich fast ausschließlich auf das wallonische Gebiet stützte, war sie nicht imstande, diese Tendenz wirksam zu bekämpfen.

Der Streik war auch deshalb bedeutsam, weil zum ersten Mal in Westeuropa nach dem Renaultstreik von 1947 eine glaubwürdige, wenn auch kleine Kraft links von der KP auftauchte. Sie war durch den linken Flügel der Sozialistischen Partei um die Zeitung La Gauche, in der der Trotzkist Ernest Mandel eine führende Rolle spielte, sowie durch die sozialistische Jugendorganisation, die Jeunes Gardes Socialistes, repräsentiert. Die letzteren erkannten, die Möglichkeiten, die in dem Streik steckten, und versuchten eine koordinierte Alternative zu den offiziellen Organisationen aufzubauen. Unglücklicherweise war die Gruppe zu klein, um das auch wirksam zu tun, und La Gauche unterstützte die Forderung nach einem Marsch auf Brüssel nicht, sondern tendierte dazu, sich an Andrè Renard anzuhängen.

Eine klare Führung bei der Mobilisierung der Arbeiter, unabhängig von der sozialistischen Parteiführung, hätte den Ereignissen jedoch eine ganz andere Wendung geben können. Dazu sei die Einschätzung eines beteiligten Revolutionärs zitiert:

Natürlich kann man nicht beschwören, daß ein Marsch auf Brüssel schließlich zum Erfolg geführt hätte. Unbestreitbar aber ist, daß kein Erfolg möglich war, solange die machtvolle Energie der Bewegung nicht mittels einer zentralen nationalen Demonstration ausgenutzt wurde. Eine solche machtvolle Demonstration hätte eine enorme Gefahr für die Bourgeoisie dargestellt und den Sturz der Regierung und die Rücknahme des Loi unique garantiert ... Die Energien der Streikenden auf eine zentrale Demonstration zu konzentrieren, alle Kräfte zu vereinigen – diese Strategie hätten die Arbeiterorganisationen einschlagen müssen. Zum anderen hätte die Bewegung auf ein organisiertes Niveau gehoben werden müssen, mit anderen Worten: Die Arbeiter selbst hätten sich eine Führung geben müssen, die in der Lage gewesen wäre, den Streik von der auf ihm lastenden Arbeiterbürokratie zu befreien. Eine solche Führung hätte z.B. ein „Außerordentlicher Kongreß der Streikkomitees“ darstellen können, der ein souveränes Organ für die Leitung der Bewegung gebildet hätte. [9]

 

Die Jugend

Die KPs haben Jugendarbeit immer beträchtliche Bedeutung beigemessen. Dazu hat die Bewegung sich der Jugendabteilung der verschiedenen nationalen Parteien ebenso bedient wie z.B. des Weltbundes der demokratischen Jugend und der Internationalen Studentenunion, die zwar nominell politisch unabhängig waren, aber ihre Basis in Osteuropa hatten und eine orthodoxe Linie verfolgten. So wurden die jugoslawischen Studenten nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito ausgeschlossen. Die verschiedenen internationalen Festspiele, die diese Gremien veranstalteten, bildeten einen Transmissionsriemen zu den Jugendabteilungen der KPs und förderten die Ausbreitung des kommunistischen Einflusses in den unterentwickelten Ländern.

Dennoch prosperierten die KP-Jugendbewegungen seit den fünfziger Jahren nicht mehr. 1965 waren mehr als 50% der italienischen Arbeiter, aber nur 10% der KP-Mitglieder unter dreißig. In der französischen Partei sank der Prozentsatz der unter 25jährigen von 10,2% (1954) auf 9,4% (1966) Während des Algerienkrieges war er sogar noch tiefer gefallen, nämlich auf 5,5% (1959).

Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatten die Jugendorganisationen der französischen Partei 300.000 Mitglieder gehabt. 1956 war die Zahl auf 30.000 gesunken. Einer der Gründe für diesen Niedergang mag die Unfähigkeit der Partei gewesen sein, sich den neuen kulturellen und sozialen Verhaltensweisen der Jugend in den fünfziger und sechziger Jahren anzupassen. Dafür war der Puritanismus und Dogmatismus verantwortlich, der in Parteikreisen vorherrschte. Ein anderer wichtiger Aspekt war die beginnende Entwicklung der Studentenbewegung, einer politisch radikalen Kraft, und die daraus für die KP sich ergebende Notwendigkeit, solche potentiell subversiven Elemente zu isolieren. Diese Tendenz war in Frankreich schon 1956 spürbar, als die Studentenzellen die Opposition gegen die Parteilinie in der Ungarnfrage anführten. Das Ergebnis war, daß die Partei ihre Jugendorganisation in vier voneinander getrennte Sektionen – Studenten, Jungen, Mädchen und Landjugend – umorganisierte. Jungen und Mädchen wurden getrennt gehalten, so daß die Eltern sich nicht beklagen konnten, die kommunistische Jugend setze ihre Kinder moralischen Gefahren aus.

 

Die Frauen

In ähnlicher Weise neigte man dazu, die Frauen auf rein „weibliche“ Aktivitäten festzulegen, obwohl es eine Unzahl von Parteiorganisationen für Frauen gab. Sie gelangten so gut wie gar nicht in politische Führungspositionen. Abgesehen von mechanischen Forderungen nach gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit reagierte man kaum auf die neue Situation eines gewaltigen Zustroms von Frauen in die Industrie, obwohl die französische CGT seit 1964 die Monatszeitschrift Antoinette für arbeitende Frauen herausbrachte.

In sexuellen Fragen, die die Rechte der Frauen betrafen, neigten die kommunistischen Parteien zu hochgradig reaktionären Positionen, die oft dem sowjetischen Dogma entstammten. Das führte dazu, daß die kommunistischen Parteien vollkommen abseits standen, als in den späten sechziger Jahren die militante feministische Bewegung ausbrach. In den fünfziger Jahren wandte sich die französische KP sogar gegen die Geburtenkontrolle die sie als „Malthusianismus“ bezeichnete. Sie war nicht imstande, zwischen der reaktionären Ansicht, die Geburtenbeschränkung könne wirtschaftliche Probleme lösen, und dem individuellen Recht, über Elternschaft frei zu entscheiden, zu differenzieren. Dies rief in den Reihen der Partei Widerspruch hervor; eine Konferenz von kommunistischen Ärzten stimmte mit 200 von 204 Stimmen gegen die parteioffizielle Einstellung. Eine Zeitlang verhielt sich die Partei sogar der Möglichkeit einer schmerzlosen Geburt gegenüber feindselig. [10] Selbst in den siebziger Jahren hat die französische Partei sich noch dafür eingesetzt, die Abtreibung nur aus medizinischen Gründen, aber nicht als allgemeines Recht zuzulassen [11], und die Frauenkommission der italienischen KP hat sich im Namen der „verantwortungsbewußten Zeugung“ und der „Verteidigung der Familie“ gegen eine Legalisierung der Abtreibung gewandt. [12]

 

Die Bauern

Sowohl die französische wie die italienische KP hat sich einen starken Rückhalt bei den Bauern verschafft. Die italienische Partei vergrößerte ihren Stimmenanteil im ländlichen Süden von 11,63% (1964) auf 22,6% (1968). In Frankreich bekommt die KP viele Stimmen in Agrargebieten, und ihre Wochenzeitung Das Land (La Terre) hat mit einer verkauften Auflage von 175.000 großen Einfluß. Aber die soziale Gliederung der Mitgliedschaft spricht eine andere Sprache: der prozentuale Anteil von Bauern und Landarbeitern in der Partei fiel von 13,2% (1959) auf 9,8% (1966).

Die politische Fundiertheit dieser Unterstützung der KP durch die Bauern ist noch viel zweifelhafter. Ein kommunistischer italienischer Gewerkschaftsoffizieller schreibt dazu:

Die PCI im Süden ist eine Klientel-Partei, insofern sie nach der Macht strebt, indem sie sich für die Interessen ihrer Anhänger auf lokaler Ebene und innerhalb des etablierten Systems einsetzt. Die Partei im Süden partizipiert an der Rückständigkeit der Gesellschaft. [13]

Mit anderen Worten paßt sich die Partei dem Bewußtseinsstand und den Interessen der Bauernschaft an, statt zu versuchen, diese als Kampfgefährten der Arbeiterklasse zu gewinnen. Das tritt in Frankreich noch klarer zutage, wo die Bauern immer sehr kämpferisch waren und wo während der sechziger Jahre gemeinsame Komitees von Bauern und Industriegewerkschaftlern gebildet wurden. Die KP hat sich abweisend gegenüber solchen Bauernaktionen wie dem direkten Verkauf von Agrarprodukten auf den Straßen von Paris verhalten, trotz der Tatsache, daß die CGT, die viele Fabrikkantinen kontrolliert, sich mit der Bauernschaft hätte verbinden und dem Handelsprofit einen wirksamen Schlag versetzen können.

 

Die Arbeitseinwanderer

Die Arbeitseinwanderung hat sich in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs enorm ausgebreitet. Das politische Verhalten ihr gegenüber ist ein konkreter Test für den lnternationalismus einer jeden sozialistischen Organisation. Die Arbeitseinwanderer sind furchtbaren Lebensbedingungen ausgesetzt, sie werden ihrer politischen Rechte beraubt und bewußt benutzt, um die Arbeiter zu spalten.

Die französische CGT wandte sich in den fünfziger Jahren gegen die Einwanderung. Obwohl sie richtig analysierte, wozu man die „Gastarbeiter“ gebrauchte, nämlich zum Angriff auf den Lebensstandard aller Arbeiter, trug sie zur Feindschaft der Arbeiter gegenüber den Einwanderern bei.

Die CGT hat zwar unter den Immigranten teilweise sinnvolle Arbeit getan – z.B. Zeitungen in fremden Sprachen gedruckt – und verstärkte solche Anstrengungen seit 1968, nachdem sie Gefahr lief, auf diesem Feld von Linksradikalen überholt zu werden. Aber den grundlegenden Nationalismus der KP enthüllen die Kommentare zur Immigration in ihrem Programm von 1971. Darin wird erklärt, daß die Zahl der Einwanderer jedes Jahr vom Demokratischen Plan festgelegt werden wird. Des weiteren wird erläutert. daß „die Unternehmer ihre Anforderungen von Arbeitseinwanderern an die nationale Arbeitsvermittlungsstelle richten werden, die das einzige Gremium sein wird, das bevollmächtigt ist, Arbeiter auf Basis von Arbeitsverträgen zu rekrutieren.“ Es handelt sich, kurz gesagt, um eine völlige Verwerfung des Rechts der Arbeiter, ihren Arbeitsplatz zu wählen, und um ein Angebot, den Bedürfnissen des französischen Kapitalismus nach billiger Arbeitskraft entgegenzukommen.

In England war die Situation ähnlich. Da eine Regierung nach der anderen die Einwanderungskontrolle verschärfte, schraubte die extreme Rechte ihre Forderungen noch höher: völliger Einwanderungsstop, ja sogar Rückführung ins Heimatland. Statt prinzipienfest zu bleiben, war die KP bereit, dem Prinzip der Einwanderungskontrolle zuzustimmen: „Sicher, kontrolliert die Einwanderung, aber führt die Kontrolle so durch, wie die Kommunisten vorschlagen: vollkommen frei von jeder Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Rasse oder Glauben.“ [14]

 

Schlußfolgerungen

Die Entwicklung des Polyzentrismus unter den westeuropäischen KPs, die schließlich den Punkt erreichte, wo diese Parteien einige der Bande, die sie an die Sowjetunion fesselten, zerreißen konnten, ist nur zu verstehen, wenn man erkennt, auf welche Art und Weise sie das zuwege gebracht haben: nämlich durch eine an Wahlen fixierte Politik in Parlament, Gewerkschaften und Gemeinden, also dadurch, daß sie sich eine Rolle innerhalb der Institutionen des nationalen politischen Lebens sicherten.

Das bedeutet, daß sie zumindest in Frankreich und Italien, und in bestimmten Sektoren auch anderswo, einen wirklichen Einfluß auf die Arbeiterklasse hatten. Aber dieser Einfluß war negativ; die KPs konnten zwar Kämpfe zurückhalten, aber es ist zweifelhaft, ob sie irgendeinen Kampf hätten vorantreiben können, selbst wenn sie das gewollt hätten. Tatsächlich kehrten sie den stattfindenden Kämpfen im allgemeinen den Rücken zu, gleich ob es um die Interessen der Arbeiter oder um die anderer unterdrückter Gruppen ging. Eine Untersuchung ihrer Basis in den fünfziger und sechziger Jahren hilft ihr Wiedererstarken erklären, aber sie enthüllt auch tiefliegende Widersprüche.

 

Anmerkungen

1. Lutte Ouvrière vom 11. November 1969

2. D. Mothé: Militant chez Renault, Paris 1965, S.50

3. Vgl. Voix Ouvrière vom 14. November 1967, wo einige besondere Fälle beschrieben sind.

4. P. Ferrari, H. Maisl: Les Groupes Communistes aux Assemblées parlementaires italiennes (1958-1963) et francaises (1962-1967), Paris 1969, S.49, 94 und passim

5. Der folgende Abschnitt basiert weitgehend auf R.H. Evans: Coexistence: Communism and its Practise in Bologna 1945-65, Notre Dame 1967

6. M.A. Macciocchi: Lettres de l’Intérieur du Parti, Paris 1970, S.195

7. World News am 12. Mai 1956

8. Le Drapeau Rouge am 26. Dezember 1960

9. Xavier Mourre: Belgium: Success beyond our grasp, International Socialism 4, 1961

10. Vgl. P. Hervé, op. cit., S.135

11. Le Monde vom 22. Mai 1971

12. Guardian vom 18. Februar 1971

13. zit. bei S. Tarrow: Peasant Communism in Southern Italy, New Haven 1961, S.240

14. G. Brooks, in Comment vom 19. Oktober 1968

 


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2001