Jürgen Ehlers

 

Die Vorgeschichte des 8. Mai 1945

(1985)


Aus Klassenkampf Nr.28, April/Mai 1985.
Transkription u. HTML-Markierung: Michael Gavin für REDS – Die Roten.


„Katastrophen kann man nicht feiern,“ stellte A. Dregger (CDU) vor kurzem, anläßlich immer wieder aufkommender Diskussionen um den Jahrestag der deutschen Kapitulation fest.

Ein Gedenktag oder gar bezahlter Feiertag ist der 8. Mai ja noch nie gewesen. Da sich der Jahrestag der deutschen Kapitulation nun zum 40. Mal jährt, finden nicht nur offizielle Feierlichkeiten statt, auch ein Teil der Friedensbewegung will teilhaben am Gedenken und sein Scherflein zur allgemeinen Vergangenheitsbewältigung und Friedensmahnung beitragen.

Für die einen ist dies der Tag der Niederlage, des Zusammenbruchs, des verlorengegangenen Krieges. Doch das ist die Denktradition der Industriellen, der Generale und der Rechtskonservativen, die die Nazis 1933 an die Macht brachten, die den faschistischen Raubkrieg wollten und an ihm verdienten.

Für die anderen ist der 8. Mai der Tag der Befreiung auch unseres Volkes vom Faschismus und Krieg. Erbrachte die Verwirklichung der Hauptziele aller deutscher Widerstandskämpfer den Sturz des Naziregimes und den Frieden. Hier wird der Gleichklang der nationalen deutschen Interessen mit der Zielsetzung der Widerstandsbewegung in allen von den Nazis besetzten Ländern, mit wichtigen Grundsätzen der Anti-Hitler-Koalition sichtbar

So heißt es in dem Aufruf der Initiative 40. Jahrestag der Befreiung und des Friedens . Von der DKP und ihr nahestehenden Organisationen über SPD-Ortsvereine und Gewerkschaftsfunktionären – von den Grünen bis zu den Demokratischen Sozialisten reicht der Kreis der Unterzeichner.

Da wird also der Geist der Anti-Hitler-Koalition heraufbeschworen, um das Ideal der großen Gemeinsamkeiten hochzuhalten, mit dem der Frieden gesichert werden soll.

Man fragt sich, warum nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition und der Errichtung ihres Hauptzieles, nämlich des Friedens, nun wieder der Krieg droht. Welches waren die wirklichen Kriegsziele der Anti-Hitler-Koalition?

 

Der Beginn der Neuaufteilung Europas

Da Kriege im Kapitalismus dazu dienen, daß sich die jeweilige nationale Bourgeoisie auf Kosten eines anderen Landes bereichert, tragen Friedensschlüsse im Kapitalismus immer bereits den Keim für den nächsten Krieg in sich. So auch der Versailler Friedensvertrag nach dem 1. Weltkrieg. Der große Verlierer dieses Krieges ist das europäische Proletariat. Mit Ausnahme des russischen, das seine Chance zur Revolution nutzt und damit im Prinzip das einzig mögliche tut, um zukünftige Kriege zu verhindern.

Das Deutsche Reich verliert sämtliche Kolonien, wichtige Gebiete des ehemaligen Reichsgebietes gehen verloren und an die Sieger sind hohe Reparationsleistungen zu zahlen. Ferner wird eine Art Zwangsabrüstung verfügt, so daß die Armee zwar nach wie vor im Inneren zur Aufrechterhaltung der alten kapitalistischen Ordnung dienen konnte, aber zur Verteidigung bzw. Aggression nach außen nicht mehr in der Lage war.

Um die Profitmöglichkeiten des deutschen Kapitals ist es also nach 1918 wesentlich schlechter bestellt, als vor dem Krieg. Solange es den Versailler Friedensvertrag gab, solange wurde in den Reihen der Bourgeoisie diskutiert, wie die Niederlage und ihre Folgen zu revidieren sei. Ein fruchtbarer Boden für Revanchismus und Träume von einer großzügig angelegten Neuaufteilung, wie sie die Nationalsozialisten propagierten.

 

Die späteren Sieger arbeiten mit Hitler zusammen

Der 1. September 1939 ist zwar mit dem Überfall auf Polen der offene Kriegsausbruch, zu diesem Zeitpunkt hatte die Neuaufteilung Europas aber längst begonnen.

1936 wird die entmilitariserte Rheinlandzone von deutschen Truppen besetzt.

1938 – im März wird Österreich annektiert und im Oktober mit Billigung von England und Frankreich nach Abschluß des „Münchener Abkommens“ die Tschechei besetzt.

1939 – im Januar siegt Franco unter maßgeblicher Hilfe Deutschlands, im März ist die Besetzung der Tschechei abgeschlossen und das Protektorat Böhmen und Mähren wird errichtet. Anschließend wird das sog. Memelgebiet von der deutschen Armee besetzt.

Im August 1939, wenige Tage vor Kriegsausbruch, schließen Stalin Und Hitler ihren berüchtigten Beistands- und Nichtangriffspakt, der eine Aufteilung Polens zwischen Deutschem Reich und der Sowjetunion festlegte, noch bevor der erste Schuß gefallen war. Ferner wurden Litauen, Estland und Lettland der Sowjetunion zugeschlagen, und Hitler konnte beruhigt bis 1941 seinen Einfrontenkrieg planen. Vorerst war somit beiden Seiten gedient.

Die späteren „Befreier“ haben mit Hitler zusammen paktiert und taktiert, solange die eigenen Pfründe nicht bedroht waren und man sich von der militärischen Expansion des deutschen Reiches sogar eigene Vorteile versprechen konnte.

Am 8. Mai 1945 ging ein Krieg in Europa zu Ende, der dem erklärten Ziel, die Welt neu aufzuteilen, vollends gerecht wurde. Allerdings ganz anders, als von Hitler geplant und der großdeutschen Bourgeoisie gewünscht. Dem europäischen Proletariat ist in diesem Krieg nur die Atombombe erspart geblieben, alle anderen Kriegsgreuel wüteten über 6 Jahre.

 

Das Blatt wendet sich – die USA treten in den Krieg ein

Bereits vor der bedingungslosen Kapitulation sind das geschlagene Deutschland und die von ihm ehemals besetzten Länder unter den zukünftigen Siegermächten aufgeteilt.

Schon im Dezember 1943 treffen die USA, Großbritannien und die Sowjetunion das erste Mal zusammen, um sich in Teheran unter anderem Gedanken über die politische Gestalt Deutschlands nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition zu machen. Ohne sich auf Details festzulegen, war man sich doch darüber einig, Deutschland auf jeden Fall aufzuteilen, wobei man sich die Möglichkeit offen hielt, diese Teilung festzuschreiben.

Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich zwar die Niederlage Hitler-Deutschlands bereits ab, aber das Tempo des Zusammenbruchs und die Höhe des Blutzolls, den besonders die Sowjetunion bis dahin zu entrichten hatte, wurden maßgeblich in Washington festgelegt.

Der amerikanische Präsident Truman, 1941: „Wenn wir sehen, daß Deutschland den Krieg gewinnt, sollten wir Rußland helfen, und wenn Rußland gewinnt, sollten wir Deutschland helfen, und auf diese Art und Weise laßt sie soviele wie möglich töten.“ (nach: Huster u.a., Determinanten der westdeutschen Restauration, edition suhrkamp)

Die USA nutzten zielgerichtet jede Gelegenheit, um am Ende des Krieges als unumstrittene imperialistische Führungsmacht dazustehen, nicht nur militärisch sondern auch ökonomisch. Dem dienen die Treffen 1 943 und 1944 in Bretton Woods in den USA, um die entsprechenden Voraussetzungen dafür festzuschreiben. (Siehe den Artikel Der US-Imperialismus und Bretton Woods)

Zwar waren die USA 1942 in den Krieg eingetreten, doch nicht, wie von Stalin gefordert, durch eine Landung an der französischen Atlantik-Küste, sondern vorsichtshalber erst einmal nur durch das Entsenden von Truppen nach Nordafrika.

 

Leben und Leben lassen

Das europäische Proletariat steckt in Uniform und mordet sich gegenseitig. Die designierten Regierungskader der zukünftigen Ostblockstaaten sitzen im Moskauer Hotel Luxor, warten auf ihren Einsatz.

Stalin löst 1943 die Kommunistische Internationale auf. Schon vor dem Krieg waren die jeweiligen nationalen Bourgeoisien Bündnispartner für Moskau und nicht das internationale Proletariat. In einem Zeitungsinterview mit der englischen Presseagentur Reuter vom Mai 1943 begründet Stalin diesen Schritt:

Die Auflösung der Kommunistischen Internationale ist richtig und zeitentsprechend, da sie die Organisierung des gemeinsamen Angriffs aller freiheitsliebenden Nationen; gegen den gemeinsamen Feind – den Hitlerfaschismus – erleichtert ... Sie erleichtert die Arbeit der Patrioten der freiheitsliebenden Länder zur Vereinigung der progressiven Kräfte ihrer Länder – unabhängig von der Parteizugehörigkeit und religiöser Überzeugung – zu einem einheitlichen nationalen Freiheitslager zwecks Entfaltung des Kampfes gegen den Faschismus.

Drei Monate vor Kriegsende im Februar 1945 trifft man sich erneut auf höchster Ebene, diesmal in Jalta auf der Krim, um die letzten Unklarheiten über die Aufteilung Europas zu beseitigen. In seinen Memoiren beschreibt Churchill, wie er auf der Konferenz mit Stalin zu einer Regelung der Balkan-Frage kam:

Da mir der Moment günstig schien, um die Dinge entschlossen anzupacken, sagte ich:

Lassen Sie uns unsere Angelegenheiten im Balkan regeln. Ihre Armeen sind in Rumänien und Bulgarien. Wir haben dort Interessen, Missionen und Agenten. Lassen Sie uns dort nicht in kleinlicher Weise gegeneinander arbeiten. Um nur von Großbritannien und Rußland zu sprechen, was würden Sie sagen, wenn Sie in Rumänien zu 90% das Übergewicht hätten und wir zu 90% in Griechenland, während wir uns in Jugoslawien auf halb und halb einigen?

Während das übersetzt wurde, schrieb ich auf ein halbes Blatt Papier – Rumanien: Rußland 90% – die anderen 10%; Griechenland: Großbritannien 90% – Rußland 10%; Jugoslawien: 50% – 50%; Ungarn: 50% – 50%; Bulgarien: Rußland 75% – die anderen 25%.

Ich schob den Zettel Stalin zu, der mittlerweile die Übersetzung gehört hatte. Eine kleine Pause trat ein. Dann ergriff er seinen Bleistift, machte einen großen Haken und schob uns das Blatt wieder. (Churchill, Second World War, VI., London 1956)

Auch die Aufteilung Deutschlands wird hier geregelt, um für die Stunde Null einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten und für die erste Nachkriegszeit klare Verhältnisse in Europa zu schaffen, wer das Sagen hat. Mit Sicherheit hatten alle Siegermächte aus den Erfahrungen von 1918 gelernt, als es nach dem Krieg in fast allen europäischen Ländern revolutionäre Situationen gab.

Das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden bezüglich Deutschlands höchste Machtvollkommenheit haben. In der Ausübung dieser Macht werden sie solche Maßnahmen treffen, einschließlich der völligen Entwaffnung, Entmilitarisierung und Zerstückelung, als sie für den künftigen Frieden und die Sicherheit für notwendig halten.

So heißt es im Artikel 12 der Kapitulationsbedingungen für Deutschland. 3 Monate nach Kriegsende regeln die Siegermächte in Potsdam auch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung.

Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Teile der selben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.

Die Vertreibung war das gemeinsame Werk der Sieger des 2. Weltkrieges, an ihr haben sich England und die USA genauso beteiligt wie die UdSSR. Nur allzugerne werden viele Mythen um die Pläne der Siegermächte gewoben, da die Wahrheit dem Image vom großen selbstlosen Befreier, hüben wie drüben, recht abträglich ist. Die USA und die UdSSR sind die neuen Herren, die, nachdem Deutschland ausgeschaltet ist, über Wohl und Wehe der anderen europäischen Länder bestimmen. All denen, die an Anti-Kriegs-Koalitionen, Verhandlungen und Verträgen immer noch glauben oder anderen damit das Gehirn vernebeln, sei folgendes von Rosa Luxemburg in Erinnerung gerufen, veröffentlicht 1915 in Die Krise der Sozialdemokratie:

Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei ... Wir stehen heute vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Das ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder–Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluß des klassenbewußten Proletariats.

Der Geist der Anti-Hitler-Koalition war den Geist der imperialistischen Barbarei, der Neuaufteilung und des Raubes.

 


Zuletzt aktualisiert am 6.4.2002